Die Sinne laufen lassen |
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Die eigene Gefühlswelt und der Sommer: Luca Meisters Nova | ||
(Foto: 67. Kurzfilmtage Oberhausen) |
Von Anne Küper
»Das vollständige Verstehen von Filmen ist Begriffsimperialismus, kolonisiert die Gegenstände. Wenn ich alles verstanden habe, ist etwas leergeworden. Wir müssen Filme machen, die im vollen Gegensatz zu dieser Kolonisierung des Bewusstseins stehen. Ich stoße im Film auf etwas, das mich noch überrascht, mit dem ich umgehen kann, ohne es zu verschlingen. Eine Pfütze, auf die es regnet, verstehe ich nicht. Ich kann sie sehen. Das Wort, dass ich sie verstehe, ist unsinnig. Entspannung heißt, dass ich für einen Moment selber lebe, d. h. die Sinne laufen lasse: einmal nicht Wächter sein, mit der polizeilichen Absicht, dass mir nichts entgeht.«
- Alexander Kluge, »Der Zuschauer als Unternehmer«, 1979»Der schon 1846 noch aus gemütlichem Fachwerk erbaute Bahnhof aus der Gründerzeit war nur etwa dreihundert Meter vom heutigen Hauptbahnhof entfernt. Die neue nüchterne Bahnstation ist Anfang der dreißiger Jahre entstanden: Auch wenn die Gleise nicht verlegt werden mussten, so sind seitdem aber zahlreiche Schienenstränge hinzugekommen – und viele Weichen für eine freie Fahrt in die große weite Welt. Schließlich ist Oberhausen durch seine günstige Verkehrslage und seine rapide industrielle Entwicklung längst ein wichtiger Knotenpunkt geworden, und dies auch im übertragenen Sinne.«
- Hilmar Hoffmann, »Geschichten aus Oberhausen«, 1991
1. Eine Zugfahrt. Ein sehnsüchtiger Blick aus dem Fenster auf die Landschaft und auf jene wabernde Linie, an der sich Wiese und Himmel berühren. Je länger die Augen am Horizont haften bleiben, desto mehr löst er sich als Fixpunkt auf. Oben und unten, rechts und links, die Begriffe nützen nichts mehr, um den Aufbau der Welt und die Bilder, die wir uns von ihr machen, zu beschreiben. Ein Zentrum verschwindet. Das Draußen scheint sich um sich selbst zu drehen, während einer Zugfahrt und durch eine Zugfahrt. Auf der Strecke zwischen Dordrecht und Rotterdam fertigt Ugo Petronin eine 35-mm-Fotografie an, aus der nun sein Experimentalfilm besteht. Durch das Weiterspulen des Films unter permanenter Belichtung und der Bewegung des Zuges entsteht ein Rausch der Farben und Formen, mal ganz konkret, mal verschwommen-abstrakt, wo die Äste der Bäume nicht mehr zu den Wolken streben. (Ugo Petronin, Abiding, EYE Experimental)
2. Ein Computerprogramm, das mehr Fragen aufwirft, als Antworten zu liefern; ein Windhund mit langen Haaren, die wegen des Ventilators flattern und mich neidisch machen; drei Telefonzellen, eine Harfe, ein Trauerzug ohne Ziel; Wellen am Strand; Wellen auf Postkarten; Vaporwave-Ästhetik und wie ironisch sie denn nun ist; ein Elon-Musk-Deepfake, der zu Herbert Grönemeyer-artiger Musik die Anzughüfte schwingt; der Existentialismus einer Wäscheleine im Hinterhof; Vivaldi, DJ Hell und Hans Unstern; Filmende bewegen sich auf Socken um Gefilmtes, als wäre das, was sie einzufangen versuchen, so sanft, so fragil, dass sie es nicht verschrecken wollen; das Verhältnis von Autos und Affekt in found footage, aufgeteilt nach Geschlechterbildern. (MuVi Award)
3. Eine Stimme tritt auf. Sie träumt von denen ihrer Art, »les voix«. Diese beiden Worte haucht sie auf Französisch, als würde sie sich nach den anderen Stimmen so sehr sehnen wie ich nach einer Umarmung von meinen Liebsten. Die Stimme flüstert weiter: »Stimmen brechen durch Wände«. Und in diesem Film können sie es tatsächlich, durch Architekturen der Erinnerung hindurch klingen und hallen, Distanzen überwinden, ein bisschen unsterblich sein, wenn sich die Schallwellen in den Ohrmuscheln brechen. Mit Hannah Arendt, Marguerite Duras, Michelle Porte, Gertrude Stein, Delia Derbyshire, Sylvia Plath und vielen anderen, die von dem erzählen können, was in den Stimmen wohnt. (Maya Schweizer, Voices and Shells)
4. Letztes Jahr wurden mir meine Weisheitszähne entfernt, weshalb ich für kurze Zeit eine ziemlich gute Ausrede hatte, um mich vor der Welt, insbesondere aber dem Schreiben über Online-Filmfestivals zu drücken. Nun ist das schwieriger geworden. Auf meinem Desktop fallen filmische Inhalte aus Arbeit, Freizeit und Freundschaft zusammen, die Bilder kippen ineinander. Wenn ich nicht spazieren gehe, bin ich »am Zoomen« und »am Streamen« – na gut, manchmal telefoniere ich auch.
Wenn jetzt ein Festival in Oberhausen stattfinden würde, dieser Stadt, die nur bedingt schicke Postkartenmotive besitzt, wäre ich mit Sicherheit zwischen den einzelnen Filmblöcken spazieren gegangen. Ich versuche mich am »Festival Space«, der in diesem Jahr eingerichtet wurde. Das ist eine digitale Plattform, auf der ich mich mit einem Avatar in einzelne Räume manövrieren kann, in denen Podien und Gespräche stattfinden. Um mich zu bewegen, muss ich mich selbst anfassen, die Figur,
die »Ich bedeutet«, dorthin ziehen, wo dieses »Ich« sein möchte. Dazu wird mein Name eingeblendet, damit die übrigen Besuchenden wissen, dass ein »Ich« mit meinem Namen da ist, und wir in Kontakt treten können, wenn wir wollen. Ich kann entscheiden, ob ich als Stimme, per Text oder mit Bild erscheinen möchte. Nach längerer Überlegung mache ich die Kamera an und laufe vom Sofa zu meinem Schreibtisch. Ein Selbstporträt ohne Weisheitszähne will eingerichtet werden.
5. Ein
One-Shoot-Gemetzel mit animiertem Blut, eine Szene vor dem Palast: Wie antike Bronze-Statuen recken diese digitalen Menschen auf der Treppe die Hände gen Himmel, aus dem das Blut in einem dickflüssigen Strom ausgestoßen wird. Manche halten die Flossen auch vor die Augen, sie können oder wollen den Schauplatz, an dem das Blut produziert wird, nicht ausmachen. Während die Tiere stöhnen, drehen sich die Räder. Die Augen werden weiter transportiert. Ein Film, der so lange geht, wie er heißt
(8 Minuten und 28 Sekunden), und den ich lieber nicht gesehen hätte, weil er der Faszination an dem, was er bearbeiten will, erliegt; weil er Gewalt und ihren mechanischen Choreografien des Zuckens nichts hinzuzufügen weiß außer Absurdität (die aber Gewalt ja eh schon innewohnt); weil er sich in das Spektakel verliebt, wenn Menschen wie Puppen von Autos umgefahren werden, und dieser Film das genüsslich (und erstaunlich lange) zeigt. Eine aufgestylte Reflexion über den Menschen als
Material, mit der versucht wird, sich gegen etwas zu positionieren, bloß: wogegen? (Su Zhong, 8f28)
6. Eine Mutter träumt von ihrer Tochter. Sie hat Angst, dass sie sich verändern wird. Dabei ist sie doch schon eine Veränderte, weil sie das Land der Mutter verlassen hat. Der neue Wohnort wirkt wie eine absurde Miniaturanlage aus Pappmaché, in welcher der Tochter die Wörter fehlen; eine Umwelt, die ihr fremd erscheint, aber sie wiederum als Fremde markiert. Im Film dreht die Tochter und Regisseurin diese Gefühle von Veränderung und Isolation, die es schon vor der Pandemie gab, aber dadurch überschrieben werden, unter Zuhilfenahme der Untertitel um. Dort wurden gelegentlich Übersetzungen weggelassen, sodass von mir als Zuschauerin nicht alles, was gesprochen wird, nachvollzogen werden kann – nicht, weil es sich nicht an mich richten würde, das tut es, aber weil es genau um das geht, was Verstehen bedeutet, um das Träumen der Mutter und das Sehnen der Tochter. (Peixuan Ouyang, The___________World)
7. Ein weiteres Duo aus Mutter und Tochter, doch sie werden nicht im Mittelpunkt stehen. Stattdessen tritt eine zweite, ältere Tochter hervor. Die 14-jährige Nova entdeckt die eigene Gefühlswelt und den Sommer, in dem Küsse komplizierter sind, als sie praktisch scheinen. (Luca Meisters, Nova)
8. Ich merke, dass ich bei den Gesprächen über die Filme immer unaufmerksamer werde. Ich freue mich darüber, diese Menschen zu sehen und zu hören, aber das, was sie sagen und so rege erklären, kann ich neben der Fülle an filmischem Material nicht mehr aufnehmen. Oft beobachte ich lieber das Interieur der Sprechenden. Oder mich selbst. Ich stelle mir vor, wie dick meine rechte Backe mal nach der Weisheitszahn-Operation angeschwollen war. Und ich frage mich, ob die, die gerade mit mir per Videoaufzeichnung sprechen, davon noch etwas bemerken würden, wenn sie mich jetzt tatsächlich, so »in echt«, ansehen könnten. Ich schaue auf mich und meine Spiegelung an der gläsernen Oberfläche, gucke neugierig in das Fenster auf dem Desktop hinein, in dessen Rahmen ich mich selbst bewege und auf mich zurückschaue. Manchmal frage ich mich, was es da eigentlich so zu sehen gibt.
9. Am Ende ein Feuerwerk. Während die einen feiern, verzweifeln die anderen. (Katie Davies & Emma Agusita, Divided by law)