13.05.2021

Die Sinne laufen lassen

Luca Meisters Nova
Die eigene Gefühlswelt und der Sommer: Luca Meisters Nova
(Foto: 67. Kurzfilmtage Oberhausen)

Ein Kontakt-Tagebuch von den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen

Von Anne Küper

»Das voll­s­tän­dige Verstehen von Filmen ist Begriffs­im­pe­ria­lismus, kolo­ni­siert die Gegen­s­tände. Wenn ich alles verstanden habe, ist etwas leer­ge­worden. Wir müssen Filme machen, die im vollen Gegensatz zu dieser Kolo­ni­sie­rung des Bewusst­seins stehen. Ich stoße im Film auf etwas, das mich noch über­rascht, mit dem ich umgehen kann, ohne es zu verschlingen. Eine Pfütze, auf die es regnet, verstehe ich nicht. Ich kann sie sehen. Das Wort, dass ich sie verstehe, ist unsinnig. Entspan­nung heißt, dass ich für einen Moment selber lebe, d. h. die Sinne laufen lasse: einmal nicht Wächter sein, mit der poli­zei­li­chen Absicht, dass mir nichts entgeht.«
- Alexander Kluge, »Der Zuschauer als Unter­nehmer«, 1979

»Der schon 1846 noch aus gemüt­li­chem Fachwerk erbaute Bahnhof aus der Grün­der­zeit war nur etwa drei­hun­dert Meter vom heutigen Haupt­bahnhof entfernt. Die neue nüchterne Bahn­sta­tion ist Anfang der dreißiger Jahre entstanden: Auch wenn die Gleise nicht verlegt werden mussten, so sind seitdem aber zahl­reiche Schie­nen­stränge hinzu­ge­kommen – und viele Weichen für eine freie Fahrt in die große weite Welt. Schließ­lich ist Ober­hausen durch seine günstige Verkehrs­lage und seine rapide indus­tri­elle Entwick­lung längst ein wichtiger Knoten­punkt geworden, und dies auch im über­tra­genen Sinne.«
- Hilmar Hoffmann, »Geschichten aus Ober­hausen«, 1991

1. Eine Zugfahrt. Ein sehn­süch­tiger Blick aus dem Fenster auf die Land­schaft und auf jene wabernde Linie, an der sich Wiese und Himmel berühren. Je länger die Augen am Horizont haften bleiben, desto mehr löst er sich als Fixpunkt auf. Oben und unten, rechts und links, die Begriffe nützen nichts mehr, um den Aufbau der Welt und die Bilder, die wir uns von ihr machen, zu beschreiben. Ein Zentrum verschwindet. Das Draußen scheint sich um sich selbst zu drehen, während einer Zugfahrt und durch eine Zugfahrt. Auf der Strecke zwischen Dordrecht und Rotterdam fertigt Ugo Petronin eine 35-mm-Foto­grafie an, aus der nun sein Expe­ri­men­tal­film besteht. Durch das Weiter­spulen des Films unter perma­nenter Belich­tung und der Bewegung des Zuges entsteht ein Rausch der Farben und Formen, mal ganz konkret, mal verschwommen-abstrakt, wo die Äste der Bäume nicht mehr zu den Wolken streben. (Ugo Petronin, Abiding, EYE Expe­ri­mental)

2. Ein Compu­ter­pro­gramm, das mehr Fragen aufwirft, als Antworten zu liefern; ein Windhund mit langen Haaren, die wegen des Venti­la­tors flattern und mich neidisch machen; drei Tele­fon­zellen, eine Harfe, ein Trauerzug ohne Ziel; Wellen am Strand; Wellen auf Post­karten; Vaporwave-Ästhetik und wie ironisch sie denn nun ist; ein Elon-Musk-Deepfake, der zu Herbert Gröne­meyer-artiger Musik die Anzug­hüfte schwingt; der Exis­ten­tia­lismus einer Wäsche­leine im Hinterhof; Vivaldi, DJ Hell und Hans Unstern; Filmende bewegen sich auf Socken um Gefilmtes, als wäre das, was sie einzu­fangen versuchen, so sanft, so fragil, dass sie es nicht verschre­cken wollen; das Verhältnis von Autos und Affekt in found footage, aufge­teilt nach Geschlech­ter­bil­dern. (MuVi Award)

3. Eine Stimme tritt auf. Sie träumt von denen ihrer Art, »les voix«. Diese beiden Worte haucht sie auf Fran­zö­sisch, als würde sie sich nach den anderen Stimmen so sehr sehnen wie ich nach einer Umarmung von meinen Liebsten. Die Stimme flüstert weiter: »Stimmen brechen durch Wände«. Und in diesem Film können sie es tatsäch­lich, durch Archi­tek­turen der Erin­ne­rung hindurch klingen und hallen, Distanzen über­winden, ein bisschen unsterb­lich sein, wenn sich die Schall­wellen in den Ohrmu­scheln brechen. Mit Hannah Arendt, Margue­rite Duras, Michelle Porte, Gertrude Stein, Delia Derbyshire, Sylvia Plath und vielen anderen, die von dem erzählen können, was in den Stimmen wohnt. (Maya Schweizer, Voices and Shells)

4. Letztes Jahr wurden mir meine Weis­heits­zähne entfernt, weshalb ich für kurze Zeit eine ziemlich gute Ausrede hatte, um mich vor der Welt, insbe­son­dere aber dem Schreiben über Online-Film­fes­ti­vals zu drücken. Nun ist das schwie­riger geworden. Auf meinem Desktop fallen filmische Inhalte aus Arbeit, Freizeit und Freund­schaft zusammen, die Bilder kippen inein­ander. Wenn ich nicht spazieren gehe, bin ich »am Zoomen« und »am Streamen« – na gut, manchmal tele­fo­niere ich auch. Wenn jetzt ein Festival in Ober­hausen statt­finden würde, dieser Stadt, die nur bedingt schicke Post­kar­ten­mo­tive besitzt, wäre ich mit Sicher­heit zwischen den einzelnen Film­blö­cken spazieren gegangen. Ich versuche mich am »Festival Space«, der in diesem Jahr einge­richtet wurde. Das ist eine digitale Plattform, auf der ich mich mit einem Avatar in einzelne Räume manö­vrieren kann, in denen Podien und Gespräche statt­finden. Um mich zu bewegen, muss ich mich selbst anfassen, die Figur, die »Ich bedeutet«, dorthin ziehen, wo dieses »Ich« sein möchte. Dazu wird mein Name einge­blendet, damit die übrigen Besu­chenden wissen, dass ein »Ich« mit meinem Namen da ist, und wir in Kontakt treten können, wenn wir wollen. Ich kann entscheiden, ob ich als Stimme, per Text oder mit Bild erscheinen möchte. Nach längerer Über­le­gung mache ich die Kamera an und laufe vom Sofa zu meinem Schreib­tisch. Ein Selbst­por­trät ohne Weis­heits­zähne will einge­richtet werden.

5. Ein One-Shoot-Gemetzel mit animiertem Blut, eine Szene vor dem Palast: Wie antike Bronze-Statuen recken diese digitalen Menschen auf der Treppe die Hände gen Himmel, aus dem das Blut in einem dick­flüs­sigen Strom ausge­stoßen wird. Manche halten die Flossen auch vor die Augen, sie können oder wollen den Schau­platz, an dem das Blut produ­ziert wird, nicht ausmachen. Während die Tiere stöhnen, drehen sich die Räder. Die Augen werden weiter trans­por­tiert. Ein Film, der so lange geht, wie er heißt (8 Minuten und 28 Sekunden), und den ich lieber nicht gesehen hätte, weil er der Faszi­na­tion an dem, was er bear­beiten will, erliegt; weil er Gewalt und ihren mecha­ni­schen Choreo­gra­fien des Zuckens nichts hinzu­zu­fügen weiß außer Absur­dität (die aber Gewalt ja eh schon innewohnt); weil er sich in das Spektakel verliebt, wenn Menschen wie Puppen von Autos umge­fahren werden, und dieser Film das genüss­lich (und erstaun­lich lange) zeigt. Eine aufge­stylte Reflexion über den Menschen als Material, mit der versucht wird, sich gegen etwas zu posi­tio­nieren, bloß: wogegen? (Su Zhong, 8f28)

6. Eine Mutter träumt von ihrer Tochter. Sie hat Angst, dass sie sich verändern wird. Dabei ist sie doch schon eine Verän­derte, weil sie das Land der Mutter verlassen hat. Der neue Wohnort wirkt wie eine absurde Minia­tur­anlage aus Pappmaché, in welcher der Tochter die Wörter fehlen; eine Umwelt, die ihr fremd erscheint, aber sie wiederum als Fremde markiert. Im Film dreht die Tochter und Regis­seurin diese Gefühle von Verän­de­rung und Isolation, die es schon vor der Pandemie gab, aber dadurch über­schrieben werden, unter Zuhil­fe­nahme der Unter­titel um. Dort wurden gele­gent­lich Über­set­zungen wegge­lassen, sodass von mir als Zuschauerin nicht alles, was gespro­chen wird, nach­voll­zogen werden kann – nicht, weil es sich nicht an mich richten würde, das tut es, aber weil es genau um das geht, was Verstehen bedeutet, um das Träumen der Mutter und das Sehnen der Tochter. (Peixuan Ouyang, The___________World)

7. Ein weiteres Duo aus Mutter und Tochter, doch sie werden nicht im Mittel­punkt stehen. Statt­dessen tritt eine zweite, ältere Tochter hervor. Die 14-jährige Nova entdeckt die eigene Gefühls­welt und den Sommer, in dem Küsse kompli­zierter sind, als sie praktisch scheinen. (Luca Meisters, Nova)

8. Ich merke, dass ich bei den Gesprächen über die Filme immer unauf­merk­samer werde. Ich freue mich darüber, diese Menschen zu sehen und zu hören, aber das, was sie sagen und so rege erklären, kann ich neben der Fülle an filmi­schem Material nicht mehr aufnehmen. Oft beobachte ich lieber das Interieur der Spre­chenden. Oder mich selbst. Ich stelle mir vor, wie dick meine rechte Backe mal nach der Weis­heits­zahn-Operation ange­schwollen war. Und ich frage mich, ob die, die gerade mit mir per Video­auf­zeich­nung sprechen, davon noch etwas bemerken würden, wenn sie mich jetzt tatsäch­lich, so »in echt«, ansehen könnten. Ich schaue auf mich und meine Spie­ge­lung an der gläsernen Ober­fläche, gucke neugierig in das Fenster auf dem Desktop hinein, in dessen Rahmen ich mich selbst bewege und auf mich zurück­schaue. Manchmal frage ich mich, was es da eigent­lich so zu sehen gibt.

9. Am Ende ein Feuerwerk. Während die einen feiern, verzwei­feln die anderen. (Katie Davies & Emma Agusita, Divided by law)