Begegnungen mit dem Unerwarteten |
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Moderne Horrorfilme, abgrundtief dystopisch – hier Merely a Smell von Maher Abi Samra | ||
(Foto: 67. Kurzfilmtage Oberhausen) |
Purpurrot schimmert der Fluss. Es ist kein Blut, das wir da sehen, auch keine Farbe, sondern ein Effekt natürlicher Chemie. Aber es sieht aus, als würde die Erde selbst bluten. Das passt, denn in diesem Film lauert die Katastrophe unter der Erde, nicht an der Oberfläche.
The Disquiet von Ali Cherri geht weg von den politischen und sozialen Erschütterungen und erinnert daran, dass der Libanon auf gleich mehreren großen Verwerfungslinien der Erdkruste steht. Sein Film zeigt zitternde Seismographennadeln und findet in kleineren und größeren Rissen auf der Erde und der geologischen Situation des Landes die Vorboten kommender Katastrophen.
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Eine Wahnsinnsgeschichte aus den Abgründen des Menschlichen ist die von Operator #17, einem anonymen Geheimdienstoffizier der libanesischen Armee, der mit der Überwachung der Corniche, der weltberühmten mondänen Strandpromenade in Beirut, beauftragt war. 1997 beschloss der Offizier, statt der ihm zugewiesenen Überwachungsobjekte einfach den Sonnenuntergang zu filmen.
Das Kollektiv der »Atlas Group« stellt aus dem Videomaterial des
Operators Bilder des ganz normalen Lebens zusammen.
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Über den Libanon glauben wir vieles, wenn nicht alles zu wissen: Die »Schweiz des Nahen Ostens«, ein »vom Bürgerkrieg zerrüttetes Land« – so heißt es gern in Reportagen über den kleinen Staat zwischen der Türkei, Syrien und Israel.
Es war das Land, in das meine Eltern ihre Hochzeitsreise gemacht haben, irgendwann im Sommer 1963. Und bis heute beschwört meine Mutter den Zauber des damaligen Schmelztiegels zwischen Orient und Okzident, Christentum und Moslems – zumindest dieser Mythos lebt in der Erinnerung von vielen.
Im Kino ist der Libanon aber vergleichsweise wenig präsent. Und wenn, dann immer nur als Schauplatz des Krieges, als geschundener Ort der Opfer.
Es gibt ein paar Filme. Vor allem Dokumentarfilme. Auch aus Israel, etwa Waltz With Bashir. Für eine bestimmte Generation von Israelis, die in den frühen 60er Jahren Geborenen, die also genau im richtigen Alter waren, um 1982 ihren Wehrdienst zu
leisten und so bei der Operation Frieden für Galiläa, der Libanon-Invasion der Begin-Regierung, eingesetzt zu werden, war der Libanon eine politisch-moralische Initiation. Manche von ihnen wurden Filmemacher. Auch Samuel Maoz, dessen Spielfilm Lebanon von traumatischen
Erlebnissen zeugt – aber vom Libanon selbst fast nichts zeigt, es kaum als Kulisse nimmt für seine israelische Nabelschau.
Aber all diese Filme belegen, wie stark der Libanon immer schon war, auch bereits in Volker Schlöndorffs Die Fälschung, Projektionsfläche war für die (Alb-)Träume der Anderen.
Libanesische Filme gibt es immer noch wenige, noch weniger kommen nach Europa. Vor vielen Jahren hat die 1970 geborene Libanesin Danielle Arbid einen sehr schönen Film über ihre Kindheit in Beirut gemacht. Also über eine Kindheit im Bürgerkrieg: Dans les champs de bataille (»Maarek hob«; hier ein 20-Minuten-Ausschnitt mit französischen Untertiteln). Ich habe ihn nie vergessen, genauso wie die Tatsache, dass ihre Jugend im Bombenhagel ausgerechnet durch die Songs von Boney M. und Blondie verschönt wurde. Und dann ist da noch Caramel von Nadine Labaki. Noch ein sogar mehr als halbfranzösischer Film ist der fiktionale Essay, in dem Catherine Deneuve zwischen zertrümmerten Wohnblöcken im Süden des Landes umherkrakselt: Je veux voir von Joana Hadjithomas und Khalil Joreige.
Aber die beiden letzten sind alles keine »wirklich« libanesischen Filme. Unter dem Titel »Prophecies from the Sea« zeigen jetzt die Kurzfilmtage Oberhausen in einem Schwerpunktprogramm Filme aus dem Libanon »über die prophetische Natur filmischer Arbeiten, die in Augenblicken des Übergangs geschaffen wurden«. Dazu gehören sowohl aktuelle Filme, die sich direkt mit der katastrophalen Explosion in Beirut vor einem Jahr, ihren Ursachen und Folgen auseinandersetzen, als auch ältere Arbeiten, in denen es um frühere historische Umbrüche im Libanon und seiner konfliktreichen Geschichte geht.
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Diese Filme erinnern uns daran, dass man keine Bilder eines Landes sehen kann, ohne dass man auch das sieht, was man von diesem Land schon weiß. Wir können uns keinen unschuldigen Libanon vorstellen. Keinen Libanon ohne Krieg, ohne Trümmer – und so gut sie auch sind, aber auch alle diese Filme können es nicht.
Und würden diese Filme uns aber tatsächlich jenen Libanon jenseits des Krieges zeigen, den es natürlich auch gibt, einen friedlichen, fröhlichen Libanon, in dem Menschen
glücklich sind, in dem sie lieben und ein Privatleben haben, dann wären sie vielleicht wahrhaftig, aber im Effekt ideologisch.
Ein unvermeidliches Dilemma.
So sehen wir hier stattdessen zum Beispiel in einem Film Merely a smell einer Gruppe von Männern dabei zu, wie sie aus einem zertrümmerten Haus Leichen ausbuddeln. Wie sehen nur ihre Blicke, sehen, wie sie sich Gummihandschuhe überziehen, oder wie sie sich mit der Hand die Nase zuhalten, und können uns alles das vorstellen, was uns dieser Film nicht zeigt.
Kurze Filme – das heißt die kürzesten dauern nur drei, vier Minuten, die längsten etwa 20. Momentaufnahmen, die sich notgedrungen auf einen Eindruck, eine Szenerie, ein paar kurze Gedanken konzentrieren müssen, und dadurch noch subjektiver werden – aber zusammen ergeben sie ein Mosaik; es ist das Mosaik der Psyche eines Landes.
Zugleich doppelt gespiegelt dadurch, dass manche der Co-Produzenten aus Europa kommen, und dass fast jeder dieser global vernetzten, durchweg
gebildeten, oft auch in bildender Kunst oder Visual Arts ausgebildeten jungen Filmemacher – gleich drei von ihnen stammen aus der offenbar besonders kreativen exil-armenischen Community – auch ein bisschen auf das europäische Publikum schielt, und auf die Kuratoren europäischer Kunsthallen. Offenbar zu Recht, denn die Filmreihe in Oberhausen entstand in einer Kooperation mit dem Goethe-Institut. Zugleich tut das der Qualität der Filme und ihrer Eigenschaft,
repräsentative und authentische Zeugnisse zu sein, wenig Abbruch. Fast eine Sektion in der Sektion sind vier herausragende Arbeiten des »Beirut Art Center« (BAC). Die Aufgabe war, einen narrativen Kurzfilm zu drehen, der ausschließlich aus Aufnahmen der sechs Sicherheitskameras besteht, die im Gebäude des BAC installiert sind.
Sie zeigen auch den apokalyptischen Moment der riesigen Explosion, die am 4. August 2020 weite Teile des Beiruter Hafens zerstörte.
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Es sind moderne Horrorfilme. Das Bild, das die Filme dieses Landes von ihrem Land zeigen, ist abgrundtief dystopisch.
»Was ist das alles, außer dem Spielzeug eines verrückten Gottes?«, fragt der stumme Kommentartext in Emergence, einem der Filme – fast rhetorisch.
Und in Lara Tabets Parasomnia mischen sich panisch durcheinander redende Stimmen mit schwarz-weißen Aufnahmen einer Überwachungskamera, Bildern von wegrennenden Menschen in Wiederholungsschleife und Katzenaugen im Infrarot mit Soundcollagen, die aus einem Horrorfilm
stammen könnten.
Trost spendet hier allenfalls noch eine Beethoven-Klaviersonate. Das ist dann plötzlich überraschend ein fast alteuropäisch-konservativer Schluss.