06.05.2021

Begegnungen mit dem Unerwarteten

Merely a smell
Moderne Horrorfilme, abgrundtief dystopisch – hier Merely a Smell von Maher Abi Samra
(Foto: 67. Kurzfilmtage Oberhausen)

Diesseits und jenseits des Krieges: Filme aus dem Libanon bei den Kurzfilmtagen Oberhausen

Von Rüdiger Suchsland

Purpurrot schimmert der Fluss. Es ist kein Blut, das wir da sehen, auch keine Farbe, sondern ein Effekt natür­li­cher Chemie. Aber es sieht aus, als würde die Erde selbst bluten. Das passt, denn in diesem Film lauert die Kata­strophe unter der Erde, nicht an der Ober­fläche.

The Disquiet von Ali Cherri geht weg von den poli­ti­schen und sozialen Erschüt­te­rungen und erinnert daran, dass der Libanon auf gleich mehreren großen Verwer­fungs­li­nien der Erdkruste steht. Sein Film zeigt zitternde Seis­mo­gra­phen­na­deln und findet in kleineren und größeren Rissen auf der Erde und der geolo­gi­schen Situation des Landes die Vorboten kommender Kata­stro­phen.

+ + +

Eine Wahn­sinns­ge­schichte aus den Abgründen des Mensch­li­chen ist die von Operator #17, einem anonymen Geheim­dienst­of­fi­zier der liba­ne­si­schen Armee, der mit der Über­wa­chung der Corniche, der welt­berühmten mondänen Strand­pro­me­nade in Beirut, beauf­tragt war. 1997 beschloss der Offizier, statt der ihm zuge­wie­senen Über­wa­chungs­ob­jekte einfach den Sonnen­un­ter­gang zu filmen.
Das Kollektiv der »Atlas Group« stellt aus dem Video­ma­te­rial des Operators Bilder des ganz normalen Lebens zusammen.

+ + +

Über den Libanon glauben wir vieles, wenn nicht alles zu wissen: Die »Schweiz des Nahen Ostens«, ein »vom Bürger­krieg zerrüt­tetes Land« – so heißt es gern in Repor­tagen über den kleinen Staat zwischen der Türkei, Syrien und Israel.

Es war das Land, in das meine Eltern ihre Hoch­zeits­reise gemacht haben, irgend­wann im Sommer 1963. Und bis heute beschwört meine Mutter den Zauber des damaligen Schmelz­tie­gels zwischen Orient und Okzident, Chris­tentum und Moslems – zumindest dieser Mythos lebt in der Erin­ne­rung von vielen.

Im Kino ist der Libanon aber vergleichs­weise wenig präsent. Und wenn, dann immer nur als Schau­platz des Krieges, als geschun­dener Ort der Opfer.
Es gibt ein paar Filme. Vor allem Doku­men­tar­filme. Auch aus Israel, etwa Waltz With Bashir. Für eine bestimmte Genera­tion von Israelis, die in den frühen 60er Jahren Geborenen, die also genau im richtigen Alter waren, um 1982 ihren Wehr­dienst zu leisten und so bei der Operation Frieden für Galiläa, der Libanon-Invasion der Begin-Regierung, einge­setzt zu werden, war der Libanon eine politisch-mora­li­sche Initia­tion. Manche von ihnen wurden Filme­ma­cher. Auch Samuel Maoz, dessen Spielfilm Lebanon von trau­ma­ti­schen Erleb­nissen zeugt – aber vom Libanon selbst fast nichts zeigt, es kaum als Kulisse nimmt für seine israe­li­sche Nabel­schau.
Aber all diese Filme belegen, wie stark der Libanon immer schon war, auch bereits in Volker Schlön­dorffs Die Fälschung, Projek­ti­ons­fläche war für die (Alb-)Träume der Anderen.

Liba­ne­si­sche Filme gibt es immer noch wenige, noch weniger kommen nach Europa. Vor vielen Jahren hat die 1970 geborene Libanesin Danielle Arbid einen sehr schönen Film über ihre Kindheit in Beirut gemacht. Also über eine Kindheit im Bürger­krieg: Dans les champs de bataille (»Maarek hob«; hier ein 20-Minuten-Ausschnitt mit fran­zö­si­schen Unter­ti­teln). Ich habe ihn nie vergessen, genauso wie die Tatsache, dass ihre Jugend im Bomben­hagel ausge­rechnet durch die Songs von Boney M. und Blondie verschönt wurde. Und dann ist da noch Caramel von Nadine Labaki. Noch ein sogar mehr als halb­fran­zö­si­scher Film ist der fiktio­nale Essay, in dem Catherine Deneuve zwischen zertrüm­merten Wohn­blö­cken im Süden des Landes umher­krak­selt: Je veux voir von Joana Hadjithomas und Khalil Joreige.

Aber die beiden letzten sind alles keine »wirklich« liba­ne­si­schen Filme. Unter dem Titel »Prophe­cies from the Sea« zeigen jetzt die Kurz­film­tage Ober­hausen in einem Schwer­punkt­pro­gramm Filme aus dem Libanon »über die prophe­ti­sche Natur filmi­scher Arbeiten, die in Augen­bli­cken des Übergangs geschaffen wurden«. Dazu gehören sowohl aktuelle Filme, die sich direkt mit der kata­stro­phalen Explosion in Beirut vor einem Jahr, ihren Ursachen und Folgen ausein­an­der­setzen, als auch ältere Arbeiten, in denen es um frühere histo­ri­sche Umbrüche im Libanon und seiner konflikt­rei­chen Geschichte geht.

+ + +

Diese Filme erinnern uns daran, dass man keine Bilder eines Landes sehen kann, ohne dass man auch das sieht, was man von diesem Land schon weiß. Wir können uns keinen unschul­digen Libanon vorstellen. Keinen Libanon ohne Krieg, ohne Trümmer – und so gut sie auch sind, aber auch alle diese Filme können es nicht.
Und würden diese Filme uns aber tatsäch­lich jenen Libanon jenseits des Krieges zeigen, den es natürlich auch gibt, einen fried­li­chen, fröh­li­chen Libanon, in dem Menschen glücklich sind, in dem sie lieben und ein Privat­leben haben, dann wären sie viel­leicht wahr­haftig, aber im Effekt ideo­lo­gisch.
Ein unver­meid­li­ches Dilemma.

So sehen wir hier statt­dessen zum Beispiel in einem Film Merely a smell einer Gruppe von Männern dabei zu, wie sie aus einem zertrüm­merten Haus Leichen ausbud­deln. Wie sehen nur ihre Blicke, sehen, wie sie sich Gummi­hand­schuhe über­ziehen, oder wie sie sich mit der Hand die Nase zuhalten, und können uns alles das vorstellen, was uns dieser Film nicht zeigt.

Kurze Filme – das heißt die kürzesten dauern nur drei, vier Minuten, die längsten etwa 20. Moment­auf­nahmen, die sich notge­drungen auf einen Eindruck, eine Szenerie, ein paar kurze Gedanken konzen­trieren müssen, und dadurch noch subjek­tiver werden – aber zusammen ergeben sie ein Mosaik; es ist das Mosaik der Psyche eines Landes.
Zugleich doppelt gespie­gelt dadurch, dass manche der Co-Produ­zenten aus Europa kommen, und dass fast jeder dieser global vernetzten, durchweg gebil­deten, oft auch in bildender Kunst oder Visual Arts ausge­bil­deten jungen Filme­ma­cher – gleich drei von ihnen stammen aus der offenbar besonders kreativen exil-arme­ni­schen Community – auch ein bisschen auf das euro­päi­sche Publikum schielt, und auf die Kuratoren euro­päi­scher Kunst­hallen. Offenbar zu Recht, denn die Filmreihe in Ober­hausen entstand in einer Koope­ra­tion mit dem Goethe-Institut. Zugleich tut das der Qualität der Filme und ihrer Eigen­schaft, reprä­sen­ta­tive und authen­ti­sche Zeugnisse zu sein, wenig Abbruch. Fast eine Sektion in der Sektion sind vier heraus­ra­gende Arbeiten des »Beirut Art Center« (BAC). Die Aufgabe war, einen narra­tiven Kurzfilm zu drehen, der ausschließ­lich aus Aufnahmen der sechs Sicher­heits­ka­meras besteht, die im Gebäude des BAC instal­liert sind.
Sie zeigen auch den apoka­lyp­ti­schen Moment der riesigen Explosion, die am 4. August 2020 weite Teile des Beiruter Hafens zerstörte.

+ + +

Es sind moderne Horror­filme. Das Bild, das die Filme dieses Landes von ihrem Land zeigen, ist abgrund­tief dysto­pisch.

»Was ist das alles, außer dem Spielzeug eines verrückten Gottes?«, fragt der stumme Kommen­tar­text in Emergence, einem der Filme – fast rheto­risch.
Und in Lara Tabets Para­s­omnia mischen sich panisch durch­ein­ander redende Stimmen mit schwarz-weißen Aufnahmen einer Über­wa­chungs­ka­mera, Bildern von wegren­nenden Menschen in Wieder­ho­lungs­schleife und Katzen­augen im Infrarot mit Sound­col­lagen, die aus einem Horror­film stammen könnten.
Trost spendet hier allen­falls noch eine Beethoven-Klavier­so­nate. Das ist dann plötzlich über­ra­schend ein fast alteu­ro­päisch-konser­va­tiver Schluss.