25.06.2020

Digital Mainstreaming

Kurzfilmtage Oberhausen
Virtual Reality
(Foto: Kurzfilmtage Oberhausen)

Warum sich über der Debatte um virtuelle Festivals ein Grabenkampf zwischen »Digitalen« und Cinephilen entspinnt

Von Dunja Bialas

Unter normalen Umständen hätte an diesem Donnerstag in München das Filmfest begonnen. Und damit das Sommer­fes­tival der Stadt, das sich nicht nur gegen den Münchner Bier­gar­ten­he­do­nismus, sondern auch gegen die Fußball-EM hätte stemmen müssen. All das bleibt dem Festival jetzt erspart, Corona sei Dank. Jetzt kündigt das Filmfest ein »Pop-up-Premieren-Sommer­kino« an, als Open-Air-Event im Rahmen von »Kino am Olym­piasee« und im Autokino, das zwei HFF-Absol­venten mit Arthouse-Anspruch im Münchner Norden auf einem Parkplatz ins Leben gerufen haben. Die Kinos, die sonst in den Sommer­mo­naten vom Filmfest profi­tieren, gehen in diesem Konzept leer aus. Nach virtuell abge­hal­tenen oder abge­sagten Festivals jetzt also die Umsied­lung eines großen Festivals an alter­na­tive Spielorte. Kommen dem Kino die Film­fes­ti­vals abhanden?

Die zweite digitale Welle

Jüngst hat sich eine mit Vehemenz ausge­tra­gene Debatte rund um die soge­nannten »virtu­ellen Festivals« entwi­ckelt. Hinter­grund ist die Verla­ge­rung von Festivals in den Webspace, als Corona kam. In Deutsch­land machten dies das Lichter Filmfest (Frankfurt am Main), das DOK.fest München sowie die Kurz­film­tage Ober­hausen vor. Andere Festivals wie EMAF (Osnabrück) und Nippon Connec­tion (Frankfurt am Main) folgten.

Jedes ins Netz verla­gerte Festival wurde neu konfi­gu­riert. Die Kurz­film­tage Ober­hausen beein­druckten durch einen Video-Blog, der einen Monat vor Festi­val­be­ginn ansetzte und das Nach­denken über Film in den Zeiten von Corona anstieß. Zugleich hielt das Festival an knapp bemes­senen 48-Stunden-Slots fest, um das Event zu beschwören. Film­ge­spräche mit den Regisseur*innen wurden vorpro­du­ziert und zwischen die Kurzfilme geschaltet. Das DOK.fest München stellte seine Filme für drei Wochen ins Netz, sekun­diert von ebenfalls vorpro­du­zierten Film­ge­sprächen, aber auch Live-Schal­tungen, bei denen die Zuschauer*innen an ihren Bild­schirmen parti­zi­pieren konnten. Andere Festivals zeigten nur Ausschnitte ihres Programms oder verzich­teten weit­ge­hend auf ihr geplantes Programm oder auf inter­ak­tive Formate. So das Lichter Filmfest, das seinen Kongress zu »Perspek­tiven der deutschen Film- und Kino­kultur« in den Dezember verlegt hat. Aber auch das kann nicht darüber hinweg­täu­schen, dass eine zweite Digi­ta­li­sie­rungs­welle nun auch Formen der mensch­li­chen Zusam­men­kunft erfasst hat.

Gene­ra­li­sie­rungen

Ober­hausen und München verbuchen ihre Online-Editionen mit Blick auf die Verkaufs­zahlen (DOK.fest: 75.000 Klicks, Kurz­film­tage: 2500 Festi­val­pässe) als sehr großen Erfolg und leiten nun aus ihrer Erfahrung Thesen und Erkennt­nisse über die Zukunft von Festivals ab, die sie aufs Kino über­tragen. So schreibt der Leiter des Doku­men­tar­film­fes­ti­vals München Daniel Sponsel auf der Bran­chen­platt­form »Blick­punkt:Film«: »Die Zukunft des Kinos passiert jetzt!« Aus der Headline entwi­ckelt er sieben Thesen zum Doku­men­tar­film. Auch Lars Henrik Gass, Leiter der Kurz­film­tage Ober­hausen, verall­ge­mei­nert im »Film­dienst« seine Festi­val­er­fah­rung unter Corona zu einem »funda­men­talen Umbau der Kino-Öffent­lich­keit«.

Es gibt nur wenige Stimmen, die der Digital-Euphorie etwas entge­gen­setzen. Auf »critic.de« antworten wenigs­tens der Kultur­ar­beiter Alejandro Bachmann und die Diagonale-Leiter Sebastian Höglinger und Peter Schern­huber gemeinsam auf die Thesen von Sponsel.

Sie merken an, dass sich der Leiter des DOK.fest München »fast ausschließ­lich an Dimen­sionen und Begriffen des Marktes« orien­tiert, zentriert um »Reich­weite«, »Verwer­tungs­kette« und »Auswer­tung«. Statt­dessen fordern sie, auch das »zu beschreiben, was abhan­den­ge­kommen ist, was die Schließung der Kinos einer Gesell­schaft voren­thält«.

Sponsel antwortet wiederum auf »critic.de«: »Das Kino als Ort für Film­kultur hat seine Selbst­ver­ständ­lich­keit verloren.« So gene­ra­li­siert Sponsel erneut die Erfahrung des Corona-Shutdown, geht aber noch einen Schritt weiter: »Wer das Kino in jeder Hinsicht erhalten will, muss den Zugang zur Film­kultur über alle Wege gewähren. (…) Wir werden keine Menschen zurück in die Kinos bekommen, wenn wir glauben, wir könnten ihnen die Art und Weise, wie sie Filme zu sehen haben, vorschreiben. Das ist eine Art Cine­philie, die weder den Kinos als Spielort noch der Film­kultur hilft.« Gass hört sich ähnlich an, wenn er sagt: »(…) die aber auch in einem kultur­po­li­ti­schen Klima einer miss­ver­stan­denen Cine­philie agieren, einer Cine­philie, die Kino­kultur lang­fristig dem Untergang zuführt. Die Feti­schi­sie­rung von Kino­kultur ist Teil des Problems. Weil sie nämlich nicht begreift, dass die gesell­schaft­li­chen Rahmen­be­din­gungen von Kino sich extrem verändert haben.«

Digital Main­strea­ming

Nicht als Antwort, sondern als bereits im April verfassten Text (»Cargo« Nr. 46, Juni 2020) hat wiederum Alejandro Bachmann die Fest­schrei­bung der Krise als Status quo konsta­tiert. Er greift damit das Bonmot von der »Krise als Chance« auf, nach dem nichts wieder so sein wird, wie es war, und unter­streicht, entgegen die zur Shutdown-Zeit mantramäßig wieder­holte Recht­fer­ti­gungs­formel von der außer­ge­wöhn­li­chen Situation, die eben­solche Maßnahmen erfordert, die jetzt instal­lierte »Neue Norma­lität«.

Was sich mit der Krise als Status quo ankündigt, ist die über­ra­schende Über­tra­gung einer singu­lären, unter einer Kata­stro­phen­si­tua­tion gemachten Erfahrung auf das Kino insgesamt. Das Digital Main­strea­ming unter­wirft die Kultur, aber auch unsere Lebens­welt insgesamt und lässt sich allmäh­lich in unserem Unbe­wussten nieder. Die Verfechter des Analogen – früher war es das analoge Film­ma­te­rial, heute ist es der Ort und die reale Begegnung – geraten damit zunehmend in die Defensive. Je mehr die Digi­ta­li­sie­rung der Lebens­welt als Status quo anerkannt ist, desto mehr Argumente müssen aufge­boten werden, will man das Kino und die Film­pro­jek­tion vertei­digen. Vertreter des Analogen werden dann zu Erzkon­ser­va­tiven, während sie die Gegen­seite mit dem Verdacht des Neoli­be­ralen über­ziehen, weil diese verstärkt mit den Mecha­nismen des Markts argu­men­tieren.

Worum geht es eigent­lich?

Die Prot­ago­nisten der einen Seite der Debatte, Gass und Sponsel, reprä­sen­tieren Film­gat­tungen (den Kurzfilm, den Doku­men­tar­film), denen das Kino bereits abhanden gekommen ist. Trotz löblicher Förde­rungs­maß­nahmen seitens der Film­för­de­rungs­an­stalt, die das Abspielen von Kurz­filmen im Kino mit Prämien belohnt, können sich nur wenige Kino­be­treiber durch­ringen, an Stelle von Werbung kurze Vorfilme zu zeigen. »3sat« hat dieses Jahr die seit 1999 bestehende Medi­en­part­ner­schaft mit den Kurz­film­tagen Ober­hausen gekündigt, weil der Sender nicht mehr »über die entspre­chenden Sende­flächen« verfüge. Sponsel ist als Vorstands­mit­glied der AG Dok auch Lobbyist für den Doku­men­tar­film. Der Doku­men­tar­film hat es als Gattung schwer im Kino, da er außerhalb der Festivals ein Nischen­da­sein führt und selbst von den co-produ­zie­renden Fern­seh­sen­dern auf unat­trak­tiven Sende­plätzen regel­recht versteckt und unsichtbar gemacht wird. Daher propa­giert die AG Dok zurecht eine Stärkung des Streams als gleich­wer­tige Auswer­tung zum Kino. Auch der Kurzfilm könnte im Stream eine neue, inter­es­sante Plattform – unab­hängig von Fern­seh­in­ten­danten im Pensi­ons­alter und unfle­xi­blen Kino­be­trei­bern – finden. Das sind legitime und begrüßens­werte Vorhaben, die für die kultu­relle Vielfalt stehen. Warum eine Demar­ka­ti­ons­linie gegen das Kino und gegen die analoge Lebens- und Kultur­welt errichten?

Cinephile sind auch Cinephage

Die Cine­philen sind ungleich offener, als Sponsel in seinem Text unter­stellt. Der Haupt­ver­band Cine­philie hat gemeinsam mit dem Bundes­ver­band Kommunale Film­ar­beit mit »Cine­mal­overs« ein Modell des »vierten« Kinosaals entwi­ckelt, nach dem Kinos an einer Strea­ming­platt­form parti­zi­pieren und ihr Programm durch virtuelle Angebote anrei­chern können. Umfragen, nach denen die »Heavy Users«, also die begeis­terten Kino­gänger, auch über­durch­schnitt­lich viel streamen, sind seit Jahren bekannt und werden durch jüngste Umfragen (aktuell: Cineplex) bestätigt. Cinephile sind auch Cinephage, Film­ver­schlinger, Alles­fresser. Haupt­sache, es bewegt sich.

Die »digitalen Main­streamer«, die jetzt das Virtuelle gegenüber dem Analogen ausspielen, sollten über­denken, ob sie sich wirklich einen Gefallen tun, wenn sie nicht zu einem diffe­ren­zier­teren und weniger eupho­ri­schen Ansatz finden. Ihre virtuelle Festi­val­er­fah­rung fiel in den Shutdown, zu einer Zeit, als alle dem Motto »Stay@home« gehorchten. Keiner hatte was zu tun, die Welt hatte aufgehört zu pulsieren. Da hat sich ein Vakuum aufgetan, das mit viel Streaming gefüllt werden konnte.

Hybrid: eine Win-Win-Situation?

Betont wird jetzt, dass es nicht darum gehe, analoge Festivals durch virtuelle zu ersetzen, sondern zu ergänzen. Das Wort der Stunde heißt »hybrid«: zugleich analog (im Kinoraum) und virtuell (im Netz). Das hört sich zunächst gut und vernünftig an, nach Win-Win-Situation, in der von allem nur das Beste mitge­nommen wird: authen­ti­sches Festi­val­fe­e­ling und Reich­wei­ten­stei­ge­rung, wenn man ein Publikum erreichen kann, das nicht vor Ort ist.

Die große Frage ist jedoch, ob man damit nicht anderen das Wasser abgräbt – oder gar sich selbst. Das DOK.fest München war dieses Jahr in einer Pole Position, im Herbst wird dies von Dok Leipzig abgelöst, das eine hybride Ausgabe ange­kün­digt hat. Auch das Filmfest Hamburg geht den hybriden Weg, mit vorpro­du­zierten Talks. Was aber wird nach der Hybrid-Welle kommen?

Wird München noch einen Film von Leipzig ins Programm aufnehmen, wenn dieser »nur in Deutsch­land« (Pres­se­mel­dung) online zu sehen war? Wo doch in der Vergan­gen­heit bereits die Fern­seh­aus­strah­lung den Filme­ma­chern für die Festi­val­teil­nahme zum Verhängnis wurde. Führt es nicht zu einer Schwächung kleiner lokaler Festivals, wenn Filme von den großen Festivals online verfügbar gemacht werden? Wie sieht es lang­fristig mit der Förderung lokaler Formate aus? Mit Geoblo­cking, also der Streaming-Beschrän­kung auf ein natio­nales Gebiet, ist es leider nicht getan, will man nicht die Festi­val­land­schaft ausdünnen.

Und was ist mit dem viel beschwo­renen Festi­val­fe­e­ling, wenn sich die Fachleute nicht mehr auf den Weg machen, da sie den Content (Filme, Talks, Meetings) ohnehin online bekommen können?

Die Big Player der Festivals, die ausrei­chend Personal, Geld und Content haben, um eine gut funk­tio­nie­rende Strea­ming­platt­form neben dem konven­tio­nellen Festi­val­be­trieb zu instal­lieren, könnten die Gewinner der hybriden Form sein. Was aber ist, wenn ein Festival am Ende des Tages vor allem am Inter­net­auf­tritt und den gene­rierten Zahlen gemessen wird? Wenn es sich verstärkt als Marke etablieren muss, auch um in der Aufmerk­sam­keitsö­ko­nomie des World Wide Web zu bestehen?

Fatale Kanni­ba­li­sie­rung

Die Euphorie über eine digitale Zukunft der Festivals – die im Übrigen schon lange vor Corona begonnen hat (Video­bot­schaften, Q&As via Skype und Film-Streaming gab es schon, man könnte sich fragen, warum sich das nicht bereits durch­ge­setzt hat) – darf für die skiz­zierten Problem­felder nicht blind machen. Ein Bären­dienst für die Kultur wäre, wenn ein Graben­kampf zwischen den Verfech­tern des »Neuen« und des »Alten« entstünde. Es braucht ein offenes und vorur­teils­freies Nach­denken über die Impli­ka­tionen und Folgen der Digi­ta­li­sie­rung unserer Lebens­welt, einen Dialog zwischen den verschie­denen Denk­rich­tungen und eine Offen­le­gung der Motiv­lagen. Es wäre fatal, würden die Verfechter der Kultur nun beginnen, sich gegen­seitig zu kanni­ba­li­sieren.

Die Autorin ist Grün­dungs­mit­glied des Haupt­ver­bands Cine­philie und Leiterin des in München ansäs­sigen UNDERDOX Film­fes­ti­vals, das für den Herbst eine »dezidiert analoge Edition« plant, mit Gästen vor Ort und Projek­tion von analogem Film­ma­te­rial im Kinosaal – so Corona will.