14.05.2020

Die denkerische Form der Leichtigkeit

Dietrich Brüggemann
Screenshot im Wohnzimmer: Dietrich Brüggemann in einer digitalen Disco-Kugel
(Foto: Kurzfilmtage Oberhausen / Dunja Bialas)

In Kurzessays stellen sich Filmemacher*innen der Oberhausener Gretchenfrage: »Kann und muss man jetzt Filme machen?« – Ein Projekt der Kurzfilmtage Oberhausen, die ihre 66. Ausgabe online starten

Von Dunja Bialas

»Sometimes questions of art are also questions of life.« Dies ist einer der bedeu­tungs­vollen, atmo­s­phä­ri­schen Sätze aus dem dies­jäh­rigen Eröff­nungs­film der Kurz­film­tage Ober­hausen. Der Leiter Lars Henrik Gass, der diesmal selbst Hand angelegt hat, hat den Satz bei Robert Walser geliehen, aus seinem Roman »Geschwister Tanner«. Aus diesem hat er bereits vor dem Festival im neu geschaf­fenen Ober­hausen-Blog gelesen: »Nun sind aber aller­dings Kunst­fragen bisweilen auch Lebens­fragen.« Eine ätherisch-sugges­tive Montage aus Szenen, die augen­blick­lich tiefes Kino asso­zi­ieren, Film­ge­schichte, den großen Saal. Gass lädt in seinem Film ganz ohne Kitsch zum großen Träumen ein, von der Schönheit des Kinos, aber er findet auch eine wunder­bare Bild­me­ta­pher vom großen Kräf­te­ziehen der Mensch­heit, in den Zeiten der Krise.

Vier Programme sind am ersten Abend frei­ge­schaltet, man hat 48 Stunden Zeit, sie zu sehen. Ober­hausen übernimmt vom analogen Festival die Kombi­na­tion der Filme in Programmen, auch das Slot-Prinzip, das sonst immer vor Ort gilt. Die Neugier auf das online-Erlebnis ist entspre­chend groß, auch wie sich die Kurzfilme auf dem Laptop-Screen anfühlen. Das Vorurteil: Kurzfilme eignen sich für diese Art der Präsen­ta­tion besser als zum Beispiel abend­fül­lende Doku­men­tar­filme, wie sie derzeit beim DOK.fest München gestreamt werden, und vorher bei »Visions du Réel« zu sehen waren, die es schwer haben, die Aufmerk­sam­keits­spanne im alltags­er­füllten Wohn­zimmer zu halten. Also, ran an die Kurzfilme!

Nur: leider ist der Online-Zugang nicht, naja, zugäng­lich. Nichts tut sich hier. Mach ich was falsch? Load & reload: Nein, keine Chance. Als Ausweich­mö­g­lich­keit bietet sich aber der Blog an, für den Filme­ma­cher*innen im Vorfeld Beiträge erstellt haben. Die Frage lautete »Kann und muss man Filme jetzt machen?«

Hier kommt einem Launiges und Melan­cho­li­sches entgegen. Diese Mischung aus heiterem Ernst ist wohl eine der Grund­stim­mungen von Kurz­film­fes­ti­vals generell, zumindest kommt es mir nun so vor, während ich isoliert von der Welt auf dem Sofa in die Kurz­essays eintauche. Gerade noch hat mich ein Confé­ren­cier – der in der finalen Pointe, typisch Kurzfilm, was man sich ja sonst bei Ober­hausen verkneift, unten ohne war – durch den Eröff­nungs­abend geführt und mich dazu animiert, mir auch die Rede des heute hemd­särmlig auftre­tenden Ober­hauser Ober­bür­ger­meis­ters anzusehen – übrigens schönes Wetter dort und taghell. Das wurde wohl aufge­zeichnet, was einen kreativen Umgang mit dem Live-Aspekt verrät. Live ist, wenn man nicht dabei sein kann, eben auch nur »live«, in Anfüh­rungs­zei­chen, virtuell und relativ. Wer anders herum jetzt gerne die Eröffnung noch einmal sehen will, wird enttäuscht, der von mir geteilte Link meldet: »Inhalt nicht mehr verfügbar.« Dabei hatte ich mich genau auf die Wohltaten des Internets verlassen: Zuerst entspannt sehen, und dann noch mal nach­gu­cken und mitschreiben.

Das Leben online ist voller Tücken.

Immer noch kein Zugang in den Kinosaal von Ober­hausen. Jetzt kommt eine Mail rein: »Es scheint, dass unser Festival-Hub gerade unten ist – wir arbeiten fieber­haft an einer Lösung und werden Sie hier infor­mieren, sobald es weiter­geht. Es tut uns sehr leid und wir geben nicht auf!«

»Hub«, google ich, ist ein Knoten im Netzwerk.

Auch ich gebe nicht auf. Zurück also zur ausge­henden Blog-Frage: Warum heute Filme­ma­chen? Kerstin Honheit, Kunst-Dozentin aus Kassel, gibt in ihrem Film viele Antworten. Erst einmal, ganz nahe­lie­gend: »because filmma­king, like hoarding toilet paper, has to do with the fear of death.« Schön der Gabenzaun, den man jetzt von allen Städten kennt, an den auch Sprüche geklopft wurden: »because ever­ything is not the same«, die anderen Zettel kann ich leider nicht lesen, Laptop zu klein.

Mit einemmal sinn­fällig: Das Leben im Schrumpf­format.

»Filme­ma­chen ist eine der raffi­nier­testen Erfin­dungen zur Kontakt­auf­nahme«, sagt Franz Müller aus dem Off seines Kurz­essays Die bewohnte Insel. Er zeigt eine Aufnahme, die er schon 2012 gedreht hat, noch nicht wissend, ob daraus jemals ein Film entstehen würde. Es ist eine Plan­se­quenz in einem Park, gefilmt wie ein Tableau oder Wimmel­bild, in dem im Vorder-, Mittel- und Hinter­grund viel Bewegung herrscht. Rot ist die dominante Farbe, ein Signalrot, ganz hinten wird eine Bahre in einen Kran­ken­wagen geschoben. Vorne im Bild eine leere Cola-Flasche, das Etikett leuchtet rot. »Ein bisschen Schwund ist immer«, habe die Oma der Ex-Freundin immer weise gesagt, erzählt uns Franz Müller. »Milli­arden Jahre vor dem Welt­un­ter­gang«, wollte Müller seinen Film nennen. Nach dem Roman von Arkadi und Boris Strugazki, die auch »Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein« geschrieben haben. Letzteres hat Alexej German erden­schwer verfilmt (Es ist schwer, ein Gott zu sein). Müller zählt in seiner lako­ni­schen Melan­cholie, während sich das Bild leert, einige Buchtitel der sowje­ti­schen Science-Fiction-Brüder auf. Alle wären auch gute Filmtitel gewesen, und alle passen gut in unsere Zeit: »Aus anderen Sphären«, »Ausnah­me­zu­stand«, »Das lahme Schicksal«, »Die dritte Zivi­li­sa­tion«. (Der Film ist hier zu sehen.)

Der Anblick von Andreas Reihse in dem nächsten Kurzessay kata­pul­tiert mich augen­blick­lich nach Ober­hausen. Reihse, Grün­dungs­mit­glied der Musik­gruppe Kreidler, hat sonst immer während der Kurz­film­tage gegenüber der schönen Lichtburg, dem Festi­val­kino, einen Bücher­stand mit ausge­wählter Literatur zum Kino – mein Ruin. Jetzt hat er zusammen mit dem geor­gi­schen Filme­ma­cher Zaza Rusadze ein Video gedreht, zu seinem Musik­video, das im Muvi-Award zu sehen ist und auch fürs Publikum zur Abstim­mung steht – ein online-Publi­kums­preis, den Ober­hausen übrigens schon seit Jahren durch­führt, er ist also anders als andere jetzt neu geschaf­fenen Online-Publi­kums­preise kein Corona-Preis. Lars Henrik Gass ehrt seit seinem Antritt als Kurz­film­fes­ti­val­leiter das Musik­video als eigen­s­tän­dige filmische Kurz­film­form – eine Selten­heit der Kurz­film­fes­ti­vals, wo sonst Musik­vi­deos meist nur den Status launiger Zwischen­durch­filme haben.

Reihses und Rusadzes Videoessay zur Frage: »Warum jetzt noch Filme machen?« ist eine Art Making-off ihres Musik­vi­deos, das sich die filmi­schen Möglich­keiten des Distant filming aneignet und den Film selbst zum Meta-Video über die Kondi­tionen des Filme­ma­chens zu Corona-Zeiten überhöht. Die geteilte Leinwand, die jetzt alle kennen, die an Video­kon­fe­renzen teil­nehmen, oder versuchen, sich künst­le­ri­sche Darbie­tungen im Netz anzusehen, nutzen die Künstler als veritable geteilte Leinwand, fluten sie mit Farbe, in den Grund­tönen des Kreidler-Albums, während auf der anderen Hälfte der andere über den künst­le­ri­schen Ansatz spricht. Da hinein mischen sie auch den Jingle des »Coro­na­virus-update« mit Christian Drosten, gehen weiter in philo­so­phi­sche Über­le­gungen über den Konsum­ver­zicht. Kreidler haben bereits den strengen Archi­tek­tur­filmen von Heinz Emigholz zu Höhen­flügen verholfen, hier heben sie ein weiteres Mal ab. Auch dieses Essay: absolut sehens­wert, ein Film, der bleibt.

22:30 Uhr: Die Kurz­film­tage haben ihre Server­pro­bleme gelöst, Hut ab. Es gab zu viele Zugriffe, das System ist in die Knie gegangen. Aber jetzt bleibe ich bei den tollen Videoes­says. Immerhin kommt da noch Viel­ver­spre­chendes: Max Linz, der zum 50. Geburtstag des Ober­hau­sener Manifests eine eigene Serie gemacht hatte. Sein Film, zusammen mit den Studie­renden der Berliner UDK gemacht, ist ebenfalls ein Metafilm: »Die erste Szene des Films ist der Raum, in dem er gesehen wird« – die Übergabe des Films an den Raum, auch das ist Corona, denke ich mir in meinem Wohn­zimmer, in dem ich in den letzten Wochen so viele Filme gesehen habe.

Dann Jovana Reisinger und Kristina Kilian, die beide noch an der HFF München studieren. Reisinger hat einen Film gemacht mit Bildern, die sie vor einem Jahr in China aufge­sam­melt hat, eine Kompi­la­tion aus Alltags­ein­drü­cken, sehr nah dran, an einem ungewohnt dichten Leben, eine bestands­auf­neh­mende Rückschau, ganz ohne Wehmut – oder doch ein bisschen? Zum Glück habe ich keinen Film gedreht, vor einem Jahr, so ihr lako­ni­sches Fazit. Kristina Kilian sieht sich in Zeiten der Krise »digital verschwinden«, sich komplett im virtu­ellen Raum einer alten Aufnahme aufgehen. Und schließ­lich Dietrich Brüg­ge­mann, bekannt für seine starken filmi­schen Posi­tionen. »Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden«, sagt er, in einen hypno­ti­schen Raum getaucht, Instagram-Format, hochkant. Alles flirrt in Farben und Licht­fle­cken, als befände sich Brüg­ge­mann in einer gigan­ti­schen digitalen Disco-Kugel. Kann und muss man jetzt Filme machen?, fragt auch er. Man kann immer Filme machen, und man muss nie, so seine Antwort.

Ober­hausen hat mit dieser Kommis­sions-Serie den bestechenden Beweis geliefert, dass Filme­ma­chen genau die richtige Form ist, über das Leben nach­zu­denken, und dem Essay eine über­zeu­gende Vital­imp­fung verpasst. Wenn was nach Corona bleiben soll, dann bitte diese denke­ri­sche Form der Leich­tig­keit.