Ein gelungener Husarenritt |
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Eine – merkwürdig unmagische – übernatürliche Ebene: Love Spells and all that | ||
(Foto: 32. Türkische Filmtage) |
Von Sedat Aslan
Im Vorjahr waren die 31. Türkischen Filmtage eines der ersten »Opfer« des Münchner Festivalbetriebes – am 20. März 2020 hätten sie stattfinden sollen, vier Tage vorher wurde wegen der Corona-Pandemie der landesweite Katastrophenfall ausgerufen und die Filmtage mussten – denkbar kurzfristig – abgesagt werden.
Der Verein SinemaTürk Filmzentrum als Veranstalter (in Kooperation mit der Münchner Stadtbibliothek und Filmstadt München e. V.) hat aber nicht lange geklagt, sondern das zurückliegende Jahr genutzt, um sich einen runderneuerten, professionellen Online-Auftritt samt modernem Logo sowie eine Strategie für die nunmehr 32. Türkischen Filmtage zurechtzulegen.
Zwölf Monate später hat sich das grundlegende Problem immer noch nicht erledigt – bis Anfang März liefen die Planungen noch zweigleisig, in der Hoffnung, neben einem Online-Angebot auch live in Spielstätten am Start zu sein. Als immer klarer wurde, dass die dritte Welle dies nicht zulassen würde, schwenkte man voll auf online um: der »Ort« der Filmtage 2021 ist die Website.
Das diesjährige Programm stellt sich aus jeweils sechs Spiel- und Dokumentarfilmen zusammen, zudem gibt es zwei Kurzfilmsektionen mit den Überschriften Frauenblicke und Queer Panorama, die dem Festival, das sich insbesondere dem unabhängigen, besonderen, »andersartigen« Film verpflichtet fühlt, sehr am Herzen liegen. Mit dem Festivalpass zum Preis von 25,- Euro sind sämtliche Filme im unlängst verlängerten Festivalzeitraum vom 15. April (ab 19:00 Uhr) bis zum 02. Mai 2021 frei verfügbar. Wer nur einzelne Filme bzw. eine der zweistündigen Kurzfilmrollen sehen möchte, zahlt jeweils 5,- Euro und kann den Titel nach erstem Start 24 Stunden lang abrufen. Die digitale Infrastruktur stellt mit Pantaflix ein auf diesem Gebiet erprobter Partner.
Margit Lindner, Gründungs- und Vorstandsmitglied von SinemaTürk, sieht dieser für sich und ihr Publikum neuen Erfahrung gespannt entgegen. Sie ist sich der Konkurrenz der mannigfaltigen Streamingangebote bewusst; man versuche zum einen, durch ein sorgfältig kuratiertes Programm (»handverlesene Filme«), zum anderen durch aufwendig zusammengestelltes Begleitmaterial wie Filmtipps und Interviews mit den Filmemachern, die über YouTube unter dem Tag »#32TFM« verfügbar sind, ein nunmehr potenziell bundesweites Publikum zu erreichen.
Neben einigen wiederkehrenden Highlights des letztjährigen Programms, wie Anons – The Announcement, einer politischen Satire über einen vermeintlichen Staatsstreich im Jahre 1963, die in Venedig ausgezeichnet wurde, gibt es einige bisher nicht in Deutschland gezeigte Filme. Nuh Tepesi – Noah Land ist eine besondere Empfehlung, ein bildgewaltiges Vater-Sohn-Drama (Regie: Cenk Ertürk), in dem sich über einen einzelnen Baum in einem anatolischen Dorf türkische Gegenwartskonflikte parabelhaft abzeichnen. Dafür gab es sogar zwei Preise bei Robert De Niros Tribeca Film Festival.
Aşk, Büyü, vs. – Love, Spells and all That von Ümit Ünal ist ein Liebesdrama um zwei Frauen, das sich auf Büyükada, der größten der Prinzeninseln vor Istanbul, abspielt. Man ist geneigt, an Porträt einer jungen Frau in Flammen zu denken, weil auch hier eine intensive Spannung zwischen den Protagonistinnen über den ganzen Film aufrecht erhalten wird, jedoch ist der Film glücklicherweise ganz eigen, es wird viel veräußerlicht, diskutiert, gestritten, dazu kommen die Begegnungen mit skurrilen Inselcharakteren und eine – merkwürdig unmagische – übernatürliche Ebene.
Von den Dokumentarfilmen bleibt Kromozom Kardeşler – Chromosome Brothers von Hasan Kalender im Gedächtnis, ein visuell überzeugendes und anrührendes Porträt von Menschen mit Down-Syndrom. Schwimmer, Schuhputzer und Schauspieler sind die drei Protagonisten, die sehr individuell, allesamt aber lebensbejahend mit ihren Einschränkungen umgehen. Sicherlich einer der »Crowd Pleaser« in einem Programm, in dem die Filme keineswegs gefällig sind.
Ebenso sehenswert ist Ovacık, der von Fatih Mehmet Maçoğlu handelt, dem ersten und einzigen kommunistischen Bürgermeister in der Türkei (genauer: in der ostanatolischen Provinz Tunceli). Im »roten Dorf« Ovacık führte Maçoğlu mehrere volksnahe Reformen durch. Aufgrund seiner Popularität trat er sogar in der Provinzhauptstadt an, und konnte – zum Unmut der AKP-Regierung – die Wahl gewinnen. Durch den Film der Regisseurin Ayşegül Selenga Taşkent wird nicht nur eine kuriose Zeitungsmeldung lebendig, sondern man erhält einen authentischen Einblick in Menschen, Kultur und Lebensart einer ganzen Region.
Stellvertretend für deutsch-türkische Beziehungen steht der Dokumentarfilm Wenn die Seele friert… – Eğer ruh donarsa… von Stella Sema Yeşiltaç, in der fünf deutsch-türkische Geschwister, deren Älteste die Regisseurin selbst ist, ihre Familiengeschichte zwischen beiden Ländern beleuchten. Wie sieht ihr Selbstverständnis als Kinder einer deutschen Mutter und eines türkischen Vaters aus? Wie kann man eine zwischen den Welten stehende Identität adäquat in Worte fassen? Ein beeindruckendes Dokument, vielleicht der berührendste Film des ganzen Festivals, unheimlich persönlich und gerade deswegen so universell.
Interessanterweise fehlt im Vergleich zu den Filmen, die man bei der Berlinale sehen konnte, jeder Corona-Bezug. Margit Lindner führt das darauf zurück, dass die Filme noch vor Ausbruch der Pandemie fertig wurden, denn SinemaTürk halte sich neben seinen guten Beziehungen zu FilmemacherInnen und Verleihern über das Programm der wichtigsten türkischen Fimfestivals auf dem Laufenden, wodurch dieses knappe Jahr inhaltlicher »Verzug« zu erklären sei. Corona könnte also frühestens ein Thema der 33. Türkischen Filmtage werden, wobei der Kinosektor in der Türkei von der gegenwärtigen Lage stark betroffen ist, wie anderswo auch reicht die staatliche Unterstützung nicht aus, um einen unveränderten filmischen Output zu gewährleisten. In welchen längerfristigen Folgen sich das fürs türkische Kino niederschlägt, ist noch nicht absehbar.
Das moderne türkische Kunstkino kennt vor allem zwei Pole: das Politische und das Private. Beides findet sich in den diesjährigen Türkischen Filmtagen wieder, die Bandbreite der Filme ist vielfältig, sie fordern den Zuschauer immer wieder heraus, ohne ihn vor den Kopf zu stoßen oder hoffnungslos zurückzulassen. So gesehen ist diese Online-Ausgabe, gerade in Anbetracht der Schwierigkeiten, vor denen die Vereinsmitglieder standen, ein gelungener Husarenritt. Es bleibt zu hoffen, dass 2022 der Auszug aus dem vor der Generalsanierung stehenden Gasteig und die damit einhergehende Etablierung eines Interims-Festivalorts die größte Herausforderung bleiben wird.
Weitere Informationen zu den 32. Türkischen Filmtagen auf der Website des Festivals.