15.04.2021

Ein gelungener Husarenritt

Love Spells and all that
Eine – merkwürdig unmagische – übernatürliche Ebene: Love Spells and all that
(Foto: 32. Türkische Filmtage)

Das moderne türkische Kunstkino kennt vor allem zwei Pole: das Politische und das Private. Beides findet sich in den diesjährigen, 32. Türkischen Filmtagen wieder, die Bandbreite der Filme ist vielfältig, sie fordern den Zuschauer immer wieder heraus, ohne ihn vor den Kopf zu stoßen oder hoffnungslos zurückzulassen.

Von Sedat Aslan

Im Vorjahr waren die 31. Türki­schen Filmtage eines der ersten »Opfer« des Münchner Festi­val­be­triebes – am 20. März 2020 hätten sie statt­finden sollen, vier Tage vorher wurde wegen der Corona-Pandemie der landes­weite Kata­stro­phen­fall ausge­rufen und die Filmtage mussten – denkbar kurz­fristig – abgesagt werden.

Der Verein Sine­maTürk Film­zen­trum als Veran­stalter (in Koope­ra­tion mit der Münchner Stadt­bi­blio­thek und Filmstadt München e. V.) hat aber nicht lange geklagt, sondern das zurück­lie­gende Jahr genutzt, um sich einen rund­erneu­erten, profes­sio­nellen Online-Auftritt samt modernem Logo sowie eine Strategie für die nunmehr 32. Türki­schen Filmtage zurecht­zu­legen.

Zwölf Monate später hat sich das grund­le­gende Problem immer noch nicht erledigt – bis Anfang März liefen die Planungen noch zwei­gleisig, in der Hoffnung, neben einem Online-Angebot auch live in Spiel­stätten am Start zu sein. Als immer klarer wurde, dass die dritte Welle dies nicht zulassen würde, schwenkte man voll auf online um: der »Ort« der Filmtage 2021 ist die Website.

Das dies­jäh­rige Programm stellt sich aus jeweils sechs Spiel- und Doku­men­tar­filmen zusammen, zudem gibt es zwei Kurz­film­sek­tionen mit den Über­schriften Frau­en­blicke und Queer Panorama, die dem Festival, das sich insbe­son­dere dem unab­hän­gigen, beson­deren, »anders­ar­tigen« Film verpflichtet fühlt, sehr am Herzen liegen. Mit dem Festi­val­pass zum Preis von 25,- Euro sind sämtliche Filme im unlängst verlän­gerten Festi­val­zeit­raum vom 15. April (ab 19:00 Uhr) bis zum 02. Mai 2021 frei verfügbar. Wer nur einzelne Filme bzw. eine der zweis­tün­digen Kurz­film­rollen sehen möchte, zahlt jeweils 5,- Euro und kann den Titel nach erstem Start 24 Stunden lang abrufen. Die digitale Infra­struktur stellt mit Pantaflix ein auf diesem Gebiet erprobter Partner.

Margit Lindner, Gründungs- und Vorstands­mit­glied von Sine­maTürk, sieht dieser für sich und ihr Publikum neuen Erfahrung gespannt entgegen. Sie ist sich der Konkur­renz der mannig­fal­tigen Strea­ming­an­ge­bote bewusst; man versuche zum einen, durch ein sorg­fältig kura­tiertes Programm (»hand­ver­le­sene Filme«), zum anderen durch aufwendig zusam­men­ge­stelltes Begleit­ma­te­rial wie Filmtipps und Inter­views mit den Filme­ma­chern, die über YouTube unter dem Tag »#32TFM« verfügbar sind, ein nunmehr poten­ziell bundes­weites Publikum zu erreichen.

Neben einigen wieder­keh­renden High­lights des letzt­jäh­rigen Programms, wie Anons – The Announ­ce­ment, einer poli­ti­schen Satire über einen vermeint­li­chen Staats­streich im Jahre 1963, die in Venedig ausge­zeichnet wurde, gibt es einige bisher nicht in Deutsch­land gezeigte Filme. Nuh Tepesi – Noah Land ist eine besondere Empfeh­lung, ein bild­ge­wal­tiges Vater-Sohn-Drama (Regie: Cenk Ertürk), in dem sich über einen einzelnen Baum in einem anato­li­schen Dorf türkische Gegen­warts­kon­flikte para­bel­haft abzeichnen. Dafür gab es sogar zwei Preise bei Robert De Niros Tribeca Film Festival.

Aşk, Büyü, vs. – Love, Spells and all That von Ümit Ünal ist ein Liebes­drama um zwei Frauen, das sich auf Büyükada, der größten der Prin­zen­in­seln vor Istanbul, abspielt. Man ist geneigt, an Porträt einer jungen Frau in Flammen zu denken, weil auch hier eine intensive Spannung zwischen den Prot­ago­nis­tinnen über den ganzen Film aufrecht erhalten wird, jedoch ist der Film glück­li­cher­weise ganz eigen, es wird viel veräußer­licht, disku­tiert, gestritten, dazu kommen die Begeg­nungen mit skurrilen Insel­cha­rak­teren und eine – merk­würdig unma­gi­sche – über­na­tür­liche Ebene.

Von den Doku­men­tar­filmen bleibt Kromozom Kardeşler – Chro­mo­some Brothers von Hasan Kalender im Gedächtnis, ein visuell über­zeu­gendes und anrüh­rendes Porträt von Menschen mit Down-Syndrom. Schwimmer, Schuh­putzer und Schau­spieler sind die drei Prot­ago­nisten, die sehr indi­vi­duell, allesamt aber lebens­be­ja­hend mit ihren Einschrän­kungen umgehen. Sicher­lich einer der »Crowd Pleaser« in einem Programm, in dem die Filme keines­wegs gefällig sind.

Ebenso sehens­wert ist Ovacık, der von Fatih Mehmet Maçoğlu handelt, dem ersten und einzigen kommu­nis­ti­schen Bürger­meister in der Türkei (genauer: in der ostana­to­li­schen Provinz Tunceli). Im »roten Dorf« Ovacık führte Maçoğlu mehrere volksnahe Reformen durch. Aufgrund seiner Popu­la­rität trat er sogar in der Provinz­haupt­stadt an, und konnte – zum Unmut der AKP-Regierung – die Wahl gewinnen. Durch den Film der Regis­seurin Ayşegül Selenga Taşkent wird nicht nur eine kuriose Zeitungs­mel­dung lebendig, sondern man erhält einen authen­ti­schen Einblick in Menschen, Kultur und Lebensart einer ganzen Region.

Stell­ver­tre­tend für deutsch-türkische Bezie­hungen steht der Doku­men­tar­film Wenn die Seele friert… – Eğer ruh donarsa… von Stella Sema Yeşiltaç, in der fünf deutsch-türkische Geschwister, deren Älteste die Regis­seurin selbst ist, ihre Fami­li­en­ge­schichte zwischen beiden Ländern beleuchten. Wie sieht ihr Selbst­ver­ständnis als Kinder einer deutschen Mutter und eines türki­schen Vaters aus? Wie kann man eine zwischen den Welten stehende Identität adäquat in Worte fassen? Ein beein­dru­ckendes Dokument, viel­leicht der berüh­rendste Film des ganzen Festivals, unheim­lich persön­lich und gerade deswegen so univer­sell.

Inter­es­san­ter­weise fehlt im Vergleich zu den Filmen, die man bei der Berlinale sehen konnte, jeder Corona-Bezug. Margit Lindner führt das darauf zurück, dass die Filme noch vor Ausbruch der Pandemie fertig wurden, denn Sine­maTürk halte sich neben seinen guten Bezie­hungen zu Filme­ma­cherInnen und Verlei­hern über das Programm der wich­tigsten türki­schen Fimfes­ti­vals auf dem Laufenden, wodurch dieses knappe Jahr inhalt­li­cher »Verzug« zu erklären sei. Corona könnte also frühes­tens ein Thema der 33. Türki­schen Filmtage werden, wobei der Kino­sektor in der Türkei von der gegen­wär­tigen Lage stark betroffen ist, wie anderswo auch reicht die staat­liche Unter­stüt­zung nicht aus, um einen unver­än­derten filmi­schen Output zu gewähr­leisten. In welchen länger­fris­tigen Folgen sich das fürs türkische Kino nieder­schlägt, ist noch nicht absehbar.

Das moderne türkische Kunstkino kennt vor allem zwei Pole: das Poli­ti­sche und das Private. Beides findet sich in den dies­jäh­rigen Türki­schen Filmtagen wieder, die Band­breite der Filme ist viel­fältig, sie fordern den Zuschauer immer wieder heraus, ohne ihn vor den Kopf zu stoßen oder hoff­nungslos zurück­zu­lassen. So gesehen ist diese Online-Ausgabe, gerade in Anbe­tracht der Schwie­rig­keiten, vor denen die Vereins­mit­glieder standen, ein gelun­gener Husa­ren­ritt. Es bleibt zu hoffen, dass 2022 der Auszug aus dem vor der Gene­ral­sa­nie­rung stehenden Gasteig und die damit einher­ge­hende Etab­lie­rung eines Interims-Festi­val­orts die größte Heraus­for­de­rung bleiben wird.

Weitere Infor­ma­tionen zu den 32. Türki­schen Filmtagen auf der Website des Festivals.