02.04.2020

The Art of Missing Out

1. April 2000
Starring das Corona-Virus: Das Filmarchiv Austria zeigt in seinem Retroprogramm »Die Stunde Null« auch Wolfgang Liebeneiners 1. April 2000
(Foto: Filmarchiv Austria)

Kleiner Wegweiser durch abgelegene Gebiete des Streaming-Dschungels

Von Dunja Bialas

Fear of missing out. So nennt man die Angst, etwas zu verpassen. Früher, zu normalen Zeiten, gab es bisweilen zu viele sozio-kultu­relle Angebote auf einmal: zwei Geburts­tags­ein­la­dungen an einem Abend, das an dem Woche­n­ende, an dem man eigent­lich ein Festival besuchen wollte, dann noch die spannende Diskus­si­ons­runde zu Gender und Kultur in den Kammer­spielen und der histo­ri­sche eminent wichtige Film im Film­mu­seum, angeblich von einer schwer zu bekom­menden 35mm-Kopie. Alles an einem Abend! Wie soll man sich da nur entscheiden?

Beim Über­an­gebot droht der Kollaps. Psycho­logen haben heraus­ge­funden, dass in diesen Fällen oft eine Nicht­ent­schei­dung statt­findet, und man in einer Art anti­so­zialer Trotz­re­ak­tion dann eben lieber gleich auf alles verzichtet. Besser allein auf dem Sofa als der Stress der vielen Hoch­zeiten. Prä-coronales Social Distancing.

Dieser Stress zumindest, so sollte man meinen, wurde uns mit der Kontakt­sperre abge­nommen. Tatsäch­lich aber erfahren wir jetzt, wie sehr sich der digitale Raum und das virtuelle Leben inzwi­schen als unser aller Second Life etabliert haben. Die Kultur hat relativ schnell reagiert und viele der Angebote ins Netz verlagert. Festivals halten digitale Ausgaben ab, bei denen sich auch ein Festi­val­fe­e­ling mit Film­ge­sprächen und ausver­kauften Vorstel­lungen ergeben soll – in einem bestimmten zeit­li­chen Slot kann man den Film dann online sehen, fast wie beim tatsäch­li­chen Besuch im echten Kinosaal. Nur eben: mit Zugriff statt Zutritt.

Fear of missing out: Auch im digitalen Leben kann man was verpassen, das entspre­chende Akronym »FOMO« entstammt dem Internet-Sprech. So ist nahezu unüber­schaubar, wo überall online Filme angeboten werden, und welche. Auf unendlich muss mitt­ler­weile die Zahl ange­wachsen sein, wie unsere wöchent­lich aktua­li­sierte artechock-Link­samm­lung #coro­naab­sagen zu Streaming-Angeboten jenseits der Big Player Netflix, Amazon, Disney Plus & Co. vermuten lässt. Dazu kommt: Viele der Angebote sind kostenlos. Das ist einer­seits schön und erfreu­lich, ande­rer­seits, und jetzt kommt der film­po­li­ti­sche Zeige­finger: Kultur darf es nicht zum Nulltarif geben. Schon gar nicht jetzt.

Im Hinblick auf all die von Corona ausge­bremsten Verleiher und Kino­be­treiber empfiehlt sich daher, eine Art Ausgleichs­zah­lung zu tätigen, wenn man frei ange­bo­tene Filme streamt, ähnlich dem CO2-Ablass­handel. Möglich­keiten für die Soli­da­ri­täts­be­kun­dung gibt es viele: So könnte man der entspre­chenden Anbieter-Plattform frei­willig einen Betrag spenden, oder man kauft einen Kino­gut­schein beim Lieb­lings­kino. Wenn einem an den Berlinern Programm­kinos gelegen ist, hat man die Möglich­keit, beim Crowd­fun­ding »Fort­set­zung folgt« mitzu­ma­chen. Oder man spendet direkt an ein Kino seiner Wahl, das geht auch bei gewerb­li­chen Kinos.

Vor allem: Expe­ri­men­telles, Kurzfilme und Retro­spek­tiven

Streamen kann die Chance sein, Filme zu gucken, die sonst unter­re­prä­sen­tiert sind, im Kino­alltag schlichtweg nicht (mehr) vorkommen. Dazu zählen der Kurzfilm, den jüngst 3sat abge­wi­ckelt und aus seinem Programm gestri­chen hat, und die Kino­be­treiber viel zu selten im Vorpro­gramm zeigen, obwohl die FFA das mit Bargeld belohnt. Dazu zählt der Expe­ri­men­tal­film, der zwar Meilen­steine der Film­ge­schichte hervor­ge­bracht hat, aber dennoch weit­ge­hend ignoriert wird, ist er einmal im Kino zu sehen. Und da sind dann noch die Retro­spek­tiven, die bisweilen unter­gehen unter dem immer Neuen.

Besonders hervor­heben für den Expe­ri­men­tal­film möchte ich die schier unend­liche Streaming-Datenbank UbuWeb, die von verschie­denen ameri­ka­ni­schen Univer­si­täten initiiert wurde. UbuWeb versam­melt weit über 1000 Filmtitel aus der Film­ge­schichte der histo­ri­schen und zeit­genös­si­schen Avant­garde. Die »Not for Profit Orga­ni­sa­tion« trägt dafür digitale Kopien schwer zugäng­li­cher Avant­garde-Filme zusammen, die nicht mehr im Umlauf sind. Darunter finden sich eine Masse an Expe­ri­men­tal­filmen (z.B. von Michael Snow oder Hollis Frampton), Musik­filme (z.B. von Sonic Youth), Künst­ler­filme wie Johan Grimon­prez’ DIAL H-I-S-T-O-R-Y (1997), oder Raritäten wie Ulrike Meinhofs Bambule (1970), Luc Moullets Schwarz­fah­rer­film Barres (1973) oder Filme von Susan Sontag. Und dann noch etliche Filme von Jean-Luc Godard. Und, und, und!

Kurzfilme kommen jetzt auch zu ihrem Recht. Bevor die Kurz­film­tage Ober­hausen eine online-Edition abhalten, kann man sich schon mal bei der Kurz­film­agentur Hamburg, beim Collectif Jeune Cinéma oder bei Talking Shorts, dem Dresdener Kurz­film­ma­gazin, umsehen. Wer es etwas glamouröser will, findet beim ameri­ka­ni­schen Film­ma­gazin IndieWire 15 Short Films by Great Directors, darunter Andrea Arnolds großar­tiger Wasp, Doodlebug von Chris­to­pher Nolan oder Martin Scorseses The Big Shave.

Für alle, die Film­ge­schichte vermissen, gibt es die seit 1996 konti­nu­ier­lich aufge­baute Digital Library »Internet Archive« mit Sitz in San Francisco, oder die Berliner OxDB, die einen theo­re­ti­schen Ansatz zugrunde legt: »It is intended to help us rethink the future of cinema on the Internet, just as it tries to push the bounda­ries of what we under­stand as 'web appli­ca­tions'«. Aber auch einige Film­mu­seen haben ein kleines online-Programm im Angebot. So hat das Film­ar­chiv Austria seine Retro­spek­tive kurzer­hand ins Netz verlagert und zeigt passen­der­weise Filme zur »Stunde Null«. Das Film­mu­seum Wien hält auf seiner Website Dziga Vertovs Wochen­schauen bereit, oder Video-Essays, die erhel­lende Quer­be­züge innerhalb der Film­ge­schichte erstellen (darunter auch ein Essay zu John Cooks bahn­bre­chendem Langsamer Sommer). Das Arsenal Insitut in Berlin hat seinen virtu­ellen Kinosaal arsenal3 für die Corona-Zeit für alle frei zugäng­lich gemacht. Hier können in wech­selnden Wochen­pro­grammen doku­men­ta­ri­sche und expe­ri­men­telle Filme entdeckt werden. Diese Woche – es ist übrigens erst Woche 2 – empfehle ich besonders: Philip Scheff­ners Revision, Joshua Bonnetta & J.P. Snia­de­ckis El mar la mar oder Alex Gerbau­lets Die Schlä­ferin.

Explosion der medialen Diskurse

Mit diesem kurzen Schlag­licht auf all das, was es jenseits des ohnehin Bekannten und leicht Auffind­baren noch so gibt, können wir alle die kinoferne Zeit hoffent­lich besser über­stehen, ohne in den allzu unge­steu­erten Film­konsum zu verfallen. Film­freunde hatten mir geschrieben: »Ich bin jeden­falls über­for­dert von den vielen Strea­ming­an­ge­boten und freue mich schon auf klar struk­tu­rierte Kino­pro­gramme;«, oder: »ooooh ja ich bin auch über­for­dert und freue mich auf das Programm der Kurator*innen meines Vertrauens!!!« Ein paar zwingende Anlauf­stellen gibt es also, neben dem, worüber wir bei »artechock« bereits berichtet haben (siehe zum Kino-Solistrea­ming von Grandfilm und Eksystent, zu Filmen von Nicolas Winding Refn und Kinder­filmen für Erwach­sene bei Mubi oder zu versteckten Filmen auf Netflix).

Wenn jeder etwas anderes sieht, droht natürlich die kultu­relle Verein­ze­lung, eine Explosion der medialen Diskurse, anders als im Kino­alltag, wo sich alle auf die wenigen besten Filme der Woche einigen können. Das einsame Abdriften in der Sofaecke ist, solange es sich um das Streamen von Avant­gar­de­filmen handelt, auch gar nicht anders zu erwarten. Streamen von Disney Plus wäre womöglich die Antithese dazu.

In diesem Sinne: Enjoy the art of missing out!