26.03.2020

Mit den Augen der Kinder

Fridas Sommer
Rote Backen gegen die Trauer: Fridas Sommer
(Foto: Grandfilm)

Kinderfilme sind nicht immer automatisch Filme für Kinder. Fridas Sommer oder The Florida Project sieht man am besten, wenn man schon groß ist

Von Jens Balkenborg

Augen auf, gerade auch bei den kleineren Strea­ming­platt­formen! Beim Arthouse-Strea­ming­an­bieter Mubi etwa sind mit Sean Bakers The Florida Project und Carla Simóns Fridas Sommer zwei Perlen verfügbar: beide auf Augenhöhe mit Kindern, ohne jedoch Kinder­filme zu sein; beide flirren sie auf ihre Art, Bakers Film in leuch­tendem Lila und Simóns Film vor südlän­di­scher Hitze. Und beide verstehen sie es meis­ter­haft, neue Perspek­tiven zu eröffnen: auf uns selbst und unser eigenes junges Ich und vor allem darauf was es bedeutet, wenn die Welt in all ihrer Diver­sität auf Kinder herein­bricht.

Trau­er­be­wäl­ti­gung: Fridas Sommer

In Simóns Debütfilm bricht sich die harte Realität gleich zu Beginn Bahn: Nachdem die sechs­jäh­rige Frida (Laia Artigas) den Vater bereits verloren hat, ist nun auch die Mutter tot. Die ersten Einstel­lungen des Films karto­gra­fieren Fridas altes Leben. Da streift das Mädchen mit den wilden Locken durch die alte Wohnung, während draußen ein Feuerwerk den Sommer der Trauer einleitet und die Sachen gepackt in der Ecke stehen, bereit für den Umzug aufs Land zur Familie des Onkels.

Was folgt, ist die Geschichte eines unfass­baren Abschieds, inspi­riert und – dafür spricht der äußerst sensible Blick – berei­chert durch eigene Erfah­rungen. Die kata­la­ni­sche Regis­seurin ist nach dem Tod der Eltern selbst bei einer neuen Familie groß geworden.

Wie gestaltet sich die Trau­er­be­wäl­ti­gung? Was bedeutet es, wenn das alte Leben in der Unschärfe zu verschwinden droht? Und wie mit dem neuen Leben umgehen? Vorher die Großstadt, hier nun flitzen die Hühner durch die Sonne und um die Beine der sympa­thi­schen, aber auch grob­schläch­tigen neuen Nachbarn. Und dann ist da mit der Frau des Onkels eine Mutter­figur, der die altkluge und gerne auch patzige Frida Paroli bietet. Trotz des schweren Themas ist Fridas Sommer ein lebens­be­ja­hender Film.

Ode an die Abge­hängten: The Florida Project

Das gilt ohne Frage auch für The Florida Project, Sean Bakers lila leuch­tende Ode an die Abge­hängten am Rande des Walt Disney World Resorts, die gleich großartig beginnt: Da rotzen Moonee (Brooklynn Prince) und ihre Kinder-Gang auf ein Auto, um dann schreiend vor der Besit­zerin davon zu flitzen. Zur Strafe heißt es: Gemein­sames Auto­schrubben!

The Florida Project ist ein liebe­voller, vor Leben nur zu strot­zender Film. Mit Moonee und ihrer Gang lernen wir das Leben im »Magic Castle« kennen, einem billigen Motel, in dem das freche Mädchen und ihre Mutter Halley (Bria Vinaite) ein Zimmer behausen. Die beiden halten sich mit Almosen, dem Verkauf von gestoh­lenen Eins­tritts­bänd­chen für das Disney Ressort oder billigem Parfüm über Wasser.

Wirklich auf die Reihe bekommt die über­for­derte Mutter ihr Leben aller­dings nicht. Daran kann auch der nach­sich­tige Hotel­ma­nager, den der wieder einmal fantas­ti­sche Willem Dafoe als sympa­thisch-strengen Sheriff spielt, nichts ändern. Traum und Realität gehen Hand in Hand in The Florida Project. Genau das wird in dem furiosen Final schmerz­lich konkret.

Erfah­rungs­ho­ri­zont der Kinder

So wie Bakers Film Sozi­al­drama ohne sozi­al­tou­ris­ti­schen Kitsch ist, so betreibt Simóns Debüt Trau­er­be­wäl­ti­gung ohne falsche Senti­men­ta­li­täten. Beide Filme bewegen sich größ­ten­teils in dem Erfah­rungs­ho­ri­zont der Kinder. An den Rändern ihrer und damit unserer Wahr­neh­mung wird mal mehr, mal weniger konkret, dass dras­ti­sche Dinge um sie herum passieren oder passiert sind.

Etwa wenn Moonee an der Hintertür des Imbiss klopft, in dem eine Freundin der Mutter arbeitet, um Essen zu schnorren. Oder wenn sie laut Musik hörend alleine in der Badewanne sitzt. In Fridas Sommer gibt es jene sagen­hafte Szenen, in der Frida eine rauchende Bohème-Frau mit Pelzschal gibt und die von der Ersatz­schwester gespielte Tochter zunächst abweist, weil der »ganze Körper schmerzt«, dann aber doch nicht nein sagen kann. Die Geister der Vergan­gen­heit im kind­li­chen Spiel.

Fridas Sommer und The Florida Project sind heraus­ra­gende Filme. Einen großen Verdienst daran haben die durch die Bank weg tollen Schau­spieler, allen voran aller­dings Laia Artigas und Brooklynn Prince. Diese beiden Mädchen (Prince wurde von Baker als Laie für den Film gecastet!) spielen, als hätten sie niemals etwas anderes getan. Entwaff­nend natürlich verschmelzen sie mit ihren Figuren.

Wie viel­schichtig und schwierig die Arbeit mit Kindern sein kann, veran­schau­licht die Anekdote um Das weiße Band: 7000 Kinder ließ der chro­ni­sche Perfek­tio­nist Michael Haneke für das Casting für seine »deutsche Kinder­ge­schichte« sichten. Wie viele es bei Sean Baker und Carla Simón waren, ist ungewiss. Großartig sind sie jeden­falls in beiden Filmen.