Politischer Glokalismus und produktive Unbehaglichkeit |
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Murer – Anatomie eines Prozesses wurde zum besten Spielfilm der Diagonale gekürt – der ÖVP-Bürgermeister war der Filmvorführung ferngeblieben, was auffiel |
Von Pico Be
Wehret den Anfängen! – ein Satz, der bei meiner Ankunft in Graz in jeder Ecke lauert. Sogar in dem prall gefüllten Tascherl, welches das Festivalpersonal superdanke für mich bereithält, wie eine Schultüte, die mir den Weg lotst. Wann fängt wo was an? 13:30 Uhr Der parfümierte Alptraum von Kidlat Tahimik im Schubertkino 2, oder 14:00 Uhr Western von Valeska Grisebach im UCI 6? Beide schon gesehen, beide gerne wiedersehen! Ich bin ganz verwirrt: Von der Diagonale hatte ich im Vorfeld schon so viel Gutes gehört, aber Kidlat Tahimiks »parfümiertem Albtraum« hier wiederzubegegnen, das übertrifft nun wirklich meine kühnsten Filmträume. Wie dieser ungemein gewitzte Filipino im Münchner Werkstattkino zur Vorführung seines Balikbayan #1 – Memories of Overdevelopment Redux III, an dem er über dreissig Jahre gearbeitet hatte, einen Leinwandtanz hinlegte, bleibt unvergesslich. Aber ich bin ja hier, um was Neues zu Sehen! Also erstmal rein in Die Bauliche Massnahme, 13:30 Uhr im KIZ Royal. Auf dem Weg dorthin ruft ein goldgelbes Flugblatt aus meiner Schultüte zum »Widerstand mit Film«, kündet vom Gründungstreffen einer Wochenschau–Initiative. Wochenschau vs. Fake–News? Wo brennt’s denn? Die Chili–Kürbiskern–Chocolats aus der Schultüte sind ebenso aufregend. Fängt wo was an?
Ich sehe die grünen Berge von Tirol, ich sehe die uns allen geläufige Passage, die die beiden Länder Österreich und Italien miteinander verbindet, und ich sehe eine Blockade, die diesen Brennerpass zu etwas Unzweckmäßigem umfunktioniert: Die Bauliche Massnahme zeigt eine lebensfeindliche politische Direktive anhand eines bürokratischen Eingriffs und den Reaktionen unmittelbar davon betroffener Menschen. Ist der Bauzaun auch eine Waffe, die erstmal im Arsenal bleibt, so genügt die Drohgebärde, um den Lauf der Geschichte zu beschädigen. Was der mit Preisen ausgezeichnete Autodidakt Nikolaus Geyrhalter hier dokumentarisch leistet, wird die überzeugendste Arbeit bleiben, die ich in den kommenden Tagen an Neuproduktionen hier sehen darf. Hier werden keine Bilder übersprochen, hier hat die Kamera die Hosen an. Vergleichbar in der Herangehensweise dem Monolith des österreichischen Dokumentarfilms, dem ich tags darauf in der Sektion »Kein schöner Land« im Schubertkino begegne: Postadresse 2640 Schlöglmühl von Egon Humer. Mal nachschauen, was die Schließung einer Papierfabrik mit den Bewohnern der an die Fabrik geknüpften Wohnkaserne macht: Sie stellen sich der Kamera in Verarmung, Alkoholismus und Depression, aber dirigieren die Sprache und Gangart dieses Films aus dem Jahre 1990 mit einer tragischen Stoik, die noch lange in mir arbeitet.
In der Bruschetteria gegenüber dem Hotel liegt ein alter Falter auf dem Tisch. Gerade so alt, um im Bilde zu sein über gewisse Vorgänge. Vorgeschichten über Vorgeschichten, das Tagesgeschehen ist überschattet von auspackenden Berichten aus den Burschenschaften. Hat der rechtsextreme Filz die Organe des Staates zerfressen? Die Reportage über die Todessehnsucht junger Akademiker lässt mich frösteln. In ihren Träumen mögen sie den Heldentod fürs Vaterland sterben, zunächst aber müssen sie in Gedanken beim Verlassen des Lokals meine Verdauung passieren. Ich lerne: Österreich ist ein Land, in dem selbst in der zweitgrößten Stadt Stadtmagazine aus der fernen Kapitale eine Hauptrolle spielen. En passant schnappe ich aus der »Widerstand mit Film«–Bar den Satz auf: »Wenn du die Wahrheit sprichst, so musst du die Menschen zum Lachen bringen – sonst bringen sie dich um!« Eine Drohung? Wenige Schritte später schlittere ich in ein Podiumsgespräch unter dem programmatischen Titel »This is Propaganda«. Die Filmemacherin Ruth Beckermann, der Filmkritiker und Filmemacher Rüdiger Suchsland, der Filmwissenschaftler Tobias Ebbrecht–Hartmann und der Filmemacher Robert Schabus sind den Möglichkeiten und Pflichten des Dokumentarfilms auf der Spur, aber man kreist dort notgedrungenermaßen janusköpfig über der Problematik, dass eine mit dem Instrument der Lüge arbeitende Propaganda erwiesenermaßen in der Lage ist, erfundene Wahrheiten zu etablieren und durchzusetzen, während die Unternehmungen der »guten Propaganda« stets mit ihrem eigenen Skrupel haderten. Da hallt das »Wehret den Anfängen!« wie eine scheinheilige Reflexhaftigkeit durch den Raum. Das Minoritenkloster als Veranstaltungsort gibt der Perfidität des Ganzen den Rest und lässt mich durch den Säulengang entschwindelnd ins Kirchenschiff verlaufen – mitten in die heilige Messe hinein. »Lasset uns beten!« Und ein murmelndes Lamento folgt der Aufforderung des Bruders. Was ein Film!
Radio Helsinki 92,6 MHz sendet jeden Morgen Gesprächsrunden zur Diagonale in mein Hotelzimmer. Der Sender mit dem lustigen Namen nennt sich auch »Freies Radio Graz«, und bringt zu meiner großen Freude die Art von Gesprächskultur, die ich in der deutschen Radiolandschaft so sehr vermisse: Nicht Monolog, nicht Dialog, hier plaudern mehr als drei Personen im munteren Pluralog über ihre Sichtungen, und über das noch Kommende. Weapon Of Choice von Fritz Ofner und Eva Hausberger wird mir da ans Herz gelegt, eine Dokumentation über die Geschichte und Legendenbildung der Glock, der beliebtesten Handfeuerwaffe der Welt, Made in Austria. In den Lyrics von Cypress Hill und Wu Tang Clan taucht sie auf, die Glock, und auch der Amokläufer vom Olympia–Einkaufszentrum München hatte sie, die Glock. Ich entscheide mich gegen die Glock und sehe im Rechbauer Malambo von Milan Dor, und oh, was für ein Glück bedeutet es, dieses traumwandlerische Wunder aus einer anderen Zeit, ja einer anderen Welt, sehen zu dürfen. Das 16mm–Spielfimdebüt des damals, 1986, mittellosen Wien–Jugoslawen, der mittlerweile, oder besser gesagt seit geraumer Zeit schon, Österreichs führende Produktionsfirma Dor Film inne hat, ist eine so unglaublich charmante wie urkomische Hymne auf das anarchische Gedrifte dreier Outsider, die in all ihrem Tun Widerstand leisten, weil sie das »richtige Leben« einfach nicht können, und zwar aus tiefstem Herzen nicht. Allein, um sich in den dilettantischen Entfesselungskünstler Chris, den geschäftsunfähigen Gauner Mischa und in dessen bezaubernde aber miesepetrige Schwester Nada zu verlieben, hat sich die Reise nach Graz gelohnt!
Der große Malambo wie auch Kidlat Tahimiks Der parfümierte Alptraum wird präsentiert innerhalb der Programmschiene »Zum Kollektiv: Filmladen«, mit der das Schaffen und Wirken einer Gruppierung im vierzigsten Jahr ihres Bestehens gewürdigt und aufgearbeitet werden soll. In einem Werkstattgespräch vermitteln Ruth Beckermann, die bereits die vorgestrige Propaganda–Runde bereichert hatte, sowie Franz Grafl, Josef Aichholzer und Michael Stejskal ein lebhaftes Gefühl für jene Post–68er Zeit, da sie Pionierarbeit leisteten in einer filmkulturellen Wüste, die Österreich damals, in den 1970er Jahren gewesen sei, und aus einer politischen Praxis selbst organisierter landauf–landab–Filmvorführerei heraus den Filmverleih Filmladen gründeten. Ruth Beckermanns neuester Film Waldheims Walzer wiederum ist unter den meist diskutierten des Festivals, zum einen wegen des heißen Eisens des Turning-point, welcher die Affäre Kurt Waldheim für die Republik bedeutet hatte, zumal das Auffliegen der Nazi–Täterschaft des Bundespräsidenten und früheren UNO–Generalsekretärs und vor allem dessen beharrliche Herunterspielerei doch dem Einzug des »old evil« in der Politik erst wieder den Weg geebnet hatte, zum anderen weil der Film hervorragend collagiert ist. Abends schließe ich mich dem Reigen der vielen jungen Menschen zum »Street Cinema Graz« an, von Hinterhofmauer zu Hinterhofmauer ziehend, diese als Leinwand für Kurzfilme betrachtend, mehr noch den Esprit eines Guerilla–Happenings zu atmen und die Kartographie von Graz mit Straßenkultur zu beleben. Es sind mehrere hundert, die da als Straßencineasten unterwegs sind.
Aus der Schultüte fische ich drei hübsch bebilderte Bierfilzdeckel mit gender facts aus der Produktionsstatistik, die ich hier weitergeben möchte. Wir lernen: »Fantasiewesen wie Schlümpfe, Schwämme, Einhörner und Maschinen sind grundsätzlich männlich«, »75% der weiblichen Zeichentrickfiguren sind dünner als anatomisch möglich« und »Wer macht internationales Kinderfernsehen? Regie: 90% Männer«. Da macht das Blättern durch das Programmheft mit den relativ sehr zahlreich vorkommenden Namen von Regisseurinnen gleich Spaß. Aber was ist in den Filmen nur los? Ob Katharina Mücksteins L’Animale, Mara Mattuschkas Phaidros, Alexandra Makarovás Zerschlag mein Herz oder Anna Martinetz' Onkel Wanja – überall wird Gruppendruck umkreist, werden neue Positionen ankostümiert. Auch in den anderen Wettbewerbsfilmen, vielleicht mit Ausnahme des Eröffnungsfilms, drohen mögliche Protagonisten zwischen fetischisierender Oberflächlichkeit und nebulöser Unbehaglichkeit in posthumanistische Zonen zu entgleiten. Als die Stadt auch außerhalb der Säle bereits ins Dunkel der Nacht getaucht ist, quere ich die Mur und schrecke kurz zusammen, als mir auf der Brücke eine kurzrasierte Frau im Vorbeigehen ein »spezielles Problem – spezielle Lösung« entgegenschleudert. Erst beim Umdrehen werde ich gewahr, dass die Worte nicht mir, sondern der Topfpflanze galten, die die Frau im Arm trug, und die sie nun, mit einem entschuldigenden Achselzucken, in die rauschende Mur hinabfallen lässt.
Der ÖVP–Bürgermeister war nicht zum Eröffnungsfilm Murer – Anatomie eines Prozesses gekommen, was nicht unbemerkt geblieben war. Schließlich klagt Christian Froschs Gerichtsfilm das ein, was 1963 auf eine Klage von Simon Wiesenthal hin nicht gelungen war: Den Grazer Unternehmer Franz Murer für seine Verbrechen zu verurteilen. Murer hatte als NS–Oberbefehlshaber im litauischen Vilnius tausende Juden gemordet. Zehntausende. Murer wurde frei gesprochen. Opfer und Zeugen wurden verhöhnt, gedemütigt. Franz Murer durfte bis ans Lebensende unbehelligt in Graz walten und schalten. Die ÖVP schaltete mit, und sein heute bei der FPÖ aktiver Sohn bemüht sich noch um seine Imagepolierung. All diese Unglaublichkeit wurde nun sichtbar, das aus dem Gerichtssaal Gezeigte zeitigte Fassungslosigkeit im Kinosaal, und im Nicht–Erscheinen der politischen Spitze wurde die ungebrochene politische Kontinuität geradezu exemplarisch vorgeführt und bestätigt – wenn auch das Intendanten–Duo Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber in ihrer Eröffnungsrede sehr diplomatisch aber gewieft erklärte, der Film versuche keinesfalls »plumpe tagespolitische Analogien« herzustellen. Also, alles auf Anfang.
Vor diesem Hintergrund war der Preis an Murer – Anatomie eines Prozesses als »Bester österreichischer Kinospielfilm« nahezu zwingend. Der andere große Preis ging an Die bauliche Massnahme als »Bester österreichischer Dokumentarfilm«. Auch die Entscheidung, den »Diagonale-Schauspielpreis« an zwei Filme zu vergeben, L’Animale von Katharina Mückstein und Cops von Stefan A Lukacs, und da jeweils an die gesamten Ensembles, kann mit der Vordergründigkeit der Gruppendynamiken in den Filmen begründet werden. Ich schließe meinen Besuch mit der Late–Night–Premiere von Jedem Dorf sein Underground, einem Film von Jakob Kubizek über die Geschichte des Kulturvereins Röda in der Provinzstadt Steyr. In den Erinnerungen an die Subkultur der Neunziger Jahre, an die Mühsal und das Durchhaltevermögen, die aufzubringen sind, um eine Jugendkulturszene aufzubauen und zu erhalten, in diesen wie vielen anderen ebenso beiläufigen Festivalmomenten wird der Gedanke eines prosperierenden Glokalismus im Publikum wach und erfahrbar. Achja, übrigens geht das geflügelte „Wehret den Anfängen!“ auf Ovid und seine „Principiis obsta“ in seiner Schrift Remedia amoris (Heilmittel gegen die Liebe) zurück. Sie sollen dem unglücklichen Verliebten helfen, sich wieder zu entlieben. Wenn die Beziehung aber schon fortgeschritten ist, solle der Verliebte sich an der Geliebten übersättigen, um überhaupt therapierbar zu werden. In diesem Sinne gebe ich mich den Anfängen hin und freue mich auf weitere Male Diagonale.