29.03.2018

Poli­ti­scher Gloka­lismus und produk­tive Unbe­hag­lich­keit

Subjektiv - Dokumentarfilm im 21. Jahrhundert
Murer – Anatomie eines Prozesses wurde zum besten Spielfilm der Diagonale gekürt – der ÖVP-Bürgermeister war der Filmvorführung ferngeblieben, was auffiel

Szenen einer Diagonale

Von Pico Be

Wehret den Anfängen! – ein Satz, der bei meiner Ankunft in Graz in jeder Ecke lauert. Sogar in dem prall gefüllten Tascherl, welches das Festi­val­per­sonal super­danke für mich bereit­hält, wie eine Schultüte, die mir den Weg lotst. Wann fängt wo was an? 13:30 Uhr Der parfü­mierte Alptraum von Kidlat Tahimik im Schu­bert­kino 2, oder 14:00 Uhr Western von Valeska Grisebach im UCI 6? Beide schon gesehen, beide gerne wieder­sehen! Ich bin ganz verwirrt: Von der Diagonale hatte ich im Vorfeld schon so viel Gutes gehört, aber Kidlat Tahimiks »parfü­miertem Albtraum« hier wieder­zu­be­gegnen, das über­trifft nun wirklich meine kühnsten Film­träume. Wie dieser ungemein gewitzte Filipino im Münchner Werk­statt­kino zur Vorfüh­rung seines Balik­bayan #1 – Memories of Over­de­ve­lo­p­ment Redux III, an dem er über dreissig Jahre gear­beitet hatte, einen Lein­wand­tanz hinlegte, bleibt unver­gess­lich. Aber ich bin ja hier, um was Neues zu Sehen! Also erstmal rein in Die Bauliche Massnahme, 13:30 Uhr im KIZ Royal. Auf dem Weg dorthin ruft ein gold­gelbes Flugblatt aus meiner Schultüte zum »Wider­stand mit Film«, kündet vom Grün­dungs­treffen einer Wochen­schau–Initia­tive. Wochen­schau vs. Fake–News? Wo brennt’s denn? Die Chili–Kürbis­kern–Chocolats aus der Schultüte sind ebenso aufregend. Fängt wo was an?

Ich sehe die grünen Berge von Tirol, ich sehe die uns allen geläufige Passage, die die beiden Länder Öster­reich und Italien mitein­ander verbindet, und ich sehe eine Blockade, die diesen Bren­ner­pass zu etwas Unzweck­mäßigem umfunk­tio­niert: Die Bauliche Massnahme zeigt eine lebens­feind­liche poli­ti­sche Direktive anhand eines büro­kra­ti­schen Eingriffs und den Reak­tionen unmit­telbar davon betrof­fener Menschen. Ist der Bauzaun auch eine Waffe, die erstmal im Arsenal bleibt, so genügt die Droh­ge­bärde, um den Lauf der Geschichte zu beschä­digen. Was der mit Preisen ausge­zeich­nete Auto­di­dakt Nikolaus Geyr­halter hier doku­men­ta­risch leistet, wird die über­zeu­gendste Arbeit bleiben, die ich in den kommenden Tagen an Neupro­duk­tionen hier sehen darf. Hier werden keine Bilder über­spro­chen, hier hat die Kamera die Hosen an. Vergleichbar in der Heran­ge­hens­weise dem Monolith des öster­rei­chi­schen Doku­men­tar­films, dem ich tags darauf in der Sektion »Kein schöner Land« im Schu­bert­kino begegne: Post­adresse 2640 Schlö­gl­mühl von Egon Humer. Mal nach­schauen, was die Schließung einer Papier­fa­brik mit den Bewohnern der an die Fabrik geknüpften Wohn­ka­serne macht: Sie stellen sich der Kamera in Verarmung, Alko­ho­lismus und Depres­sion, aber diri­gieren die Sprache und Gangart dieses Films aus dem Jahre 1990 mit einer tragi­schen Stoik, die noch lange in mir arbeitet.

Propa­ganda vs. Propa­ganda

In der Bruschet­teria gegenüber dem Hotel liegt ein alter Falter auf dem Tisch. Gerade so alt, um im Bilde zu sein über gewisse Vorgänge. Vorge­schichten über Vorge­schichten, das Tages­ge­schehen ist über­schattet von auspa­ckenden Berichten aus den Burschen­schaften. Hat der rechts­extreme Filz die Organe des Staates zerfressen? Die Reportage über die Todes­sehn­sucht junger Akade­miker lässt mich frösteln. In ihren Träumen mögen sie den Heldentod fürs Vaterland sterben, zunächst aber müssen sie in Gedanken beim Verlassen des Lokals meine Verdauung passieren. Ich lerne: Öster­reich ist ein Land, in dem selbst in der zweit­größten Stadt Stadt­ma­ga­zine aus der fernen Kapitale eine Haupt­rolle spielen. En passant schnappe ich aus der »Wider­stand mit Film«–Bar den Satz auf: »Wenn du die Wahrheit sprichst, so musst du die Menschen zum Lachen bringen – sonst bringen sie dich um!« Eine Drohung? Wenige Schritte später schlit­tere ich in ein Podi­ums­ge­spräch unter dem program­ma­ti­schen Titel »This is Propa­ganda«. Die Filme­ma­cherin Ruth Becker­mann, der Film­kri­tiker und Filme­ma­cher Rüdiger Suchsland, der Film­wis­sen­schaftler Tobias Ebbrecht–Hartmann und der Filme­ma­cher Robert Schabus sind den Möglich­keiten und Pflichten des Doku­men­tar­films auf der Spur, aber man kreist dort notge­drun­ge­ner­maßen janus­köpfig über der Proble­matik, dass eine mit dem Instru­ment der Lüge arbei­tende Propa­ganda erwie­se­ner­maßen in der Lage ist, erfundene Wahr­heiten zu etablieren und durch­zu­setzen, während die Unter­neh­mungen der »guten Propa­ganda« stets mit ihrem eigenen Skrupel haderten. Da hallt das »Wehret den Anfängen!« wie eine schein­hei­lige Reflex­haf­tig­keit durch den Raum. Das Mino­ri­ten­kloster als Veran­stal­tungsort gibt der Perfi­dität des Ganzen den Rest und lässt mich durch den Säulen­gang entschwin­delnd ins Kirchen­schiff verlaufen – mitten in die heilige Messe hinein. »Lasset uns beten!« Und ein murmelndes Lamento folgt der Auffor­de­rung des Bruders. Was ein Film!

Zwischen Glock, Malambo und Guerilla–Happening

Radio Helsinki 92,6 MHz sendet jeden Morgen Gesprächs­runden zur Diagonale in mein Hotel­zimmer. Der Sender mit dem lustigen Namen nennt sich auch »Freies Radio Graz«, und bringt zu meiner großen Freude die Art von Gesprächs­kultur, die ich in der deutschen Radio­land­schaft so sehr vermisse: Nicht Monolog, nicht Dialog, hier plaudern mehr als drei Personen im munteren Pluralog über ihre Sich­tungen, und über das noch Kommende. Weapon Of Choice von Fritz Ofner und Eva Haus­berger wird mir da ans Herz gelegt, eine Doku­men­ta­tion über die Geschichte und Legen­den­bil­dung der Glock, der belieb­testen Hand­feu­er­waffe der Welt, Made in Austria. In den Lyrics von Cypress Hill und Wu Tang Clan taucht sie auf, die Glock, und auch der Amokläufer vom Olympia–Einkaufs­zen­trum München hatte sie, die Glock. Ich entscheide mich gegen die Glock und sehe im Rechbauer Malambo von Milan Dor, und oh, was für ein Glück bedeutet es, dieses traum­wand­le­ri­sche Wunder aus einer anderen Zeit, ja einer anderen Welt, sehen zu dürfen. Das 16mm–Spielf­im­debüt des damals, 1986, mittel­losen Wien–Jugo­slawen, der mitt­ler­weile, oder besser gesagt seit geraumer Zeit schon, Öster­reichs führende Produk­ti­ons­firma Dor Film inne hat, ist eine so unglaub­lich charmante wie urko­mi­sche Hymne auf das anar­chi­sche Gedrifte dreier Outsider, die in all ihrem Tun Wider­stand leisten, weil sie das »richtige Leben« einfach nicht können, und zwar aus tiefstem Herzen nicht. Allein, um sich in den dilet­tan­ti­schen Entfes­se­lungs­künstler Chris, den geschäfts­un­fähigen Gauner Mischa und in dessen bezau­bernde aber miese­pe­trige Schwester Nada zu verlieben, hat sich die Reise nach Graz gelohnt!

Der große Malambo wie auch Kidlat Tahimiks Der parfü­mierte Alptraum wird präsen­tiert innerhalb der Programm­schiene »Zum Kollektiv: Filmladen«, mit der das Schaffen und Wirken einer Grup­pie­rung im vier­zigsten Jahr ihres Bestehens gewürdigt und aufge­ar­beitet werden soll. In einem Werk­statt­ge­spräch vermit­teln Ruth Becker­mann, die bereits die vorgest­rige Propa­ganda–Runde berei­chert hatte, sowie Franz Grafl, Josef Aich­holzer und Michael Stejskal ein lebhaftes Gefühl für jene Post–68er Zeit, da sie Pionier­ar­beit leisteten in einer film­kul­tu­rellen Wüste, die Öster­reich damals, in den 1970er Jahren gewesen sei, und aus einer poli­ti­schen Praxis selbst orga­ni­sierter landauf–landab–Film­vor­füh­rerei heraus den Film­ver­leih Filmladen gründeten. Ruth Becker­manns neuester Film Waldheims Walzer wiederum ist unter den meist disku­tierten des Festivals, zum einen wegen des heißen Eisens des Turning-point, welcher die Affäre Kurt Waldheim für die Republik bedeutet hatte, zumal das Auffliegen der Nazi–Täter­schaft des Bunde­sprä­si­denten und früheren UNO–Gene­ral­se­kre­tärs und vor allem dessen beharr­liche Herun­ter­spie­lerei doch dem Einzug des »old evil« in der Politik erst wieder den Weg geebnet hatte, zum anderen weil der Film hervor­ra­gend colla­giert ist. Abends schließe ich mich dem Reigen der vielen jungen Menschen zum »Street Cinema Graz« an, von Hinter­hof­mauer zu Hinter­hof­mauer ziehend, diese als Leinwand für Kurzfilme betrach­tend, mehr noch den Esprit eines Guerilla–Happe­nings zu atmen und die Karto­gra­phie von Graz mit Straßen­kultur zu beleben. Es sind mehrere hundert, die da als Straßen­ci­ne­asten unterwegs sind.

Produk­tive Unbe­hag­lich­keit

Aus der Schultüte fische ich drei hübsch bebil­derte Bier­filz­de­ckel mit gender facts aus der Produk­ti­ons­sta­tistik, die ich hier weiter­geben möchte. Wir lernen: »Fanta­sie­wesen wie Schlümpfe, Schwämme, Einhörner und Maschinen sind grund­sätz­lich männlich«, »75% der weib­li­chen Zeichen­trick­fi­guren sind dünner als anato­misch möglich« und »Wer macht inter­na­tio­nales Kinder­fern­sehen? Regie: 90% Männer«. Da macht das Blättern durch das Programm­heft mit den relativ sehr zahlreich vorkom­menden Namen von Regis­seu­rinnen gleich Spaß. Aber was ist in den Filmen nur los? Ob Katharina Mück­steins L’Animale, Mara Mattuschkas Phaidros, Alexandra Makarovás Zerschlag mein Herz oder Anna Martinetz' Onkel Wanja – überall wird Grup­pen­druck umkreist, werden neue Posi­tionen ankos­tü­miert. Auch in den anderen Wett­be­werbs­filmen, viel­leicht mit Ausnahme des Eröff­nungs­films, drohen mögliche Prot­ago­nisten zwischen feti­schi­sie­render Ober­fläch­lich­keit und nebulöser Unbe­hag­lich­keit in post­hu­ma­nis­ti­sche Zonen zu entgleiten. Als die Stadt auch außerhalb der Säle bereits ins Dunkel der Nacht getaucht ist, quere ich die Mur und schrecke kurz zusammen, als mir auf der Brücke eine kurz­ra­sierte Frau im Vorbei­gehen ein »spezi­elles Problem – spezielle Lösung« entge­gen­schleu­dert. Erst beim Umdrehen werde ich gewahr, dass die Worte nicht mir, sondern der Topf­pflanze galten, die die Frau im Arm trug, und die sie nun, mit einem entschul­di­genden Achsel­zu­cken, in die rauschende Mur hinab­fallen lässt.

Poli­ti­scher Gloka­lismus

Der ÖVP–Bürger­meister war nicht zum Eröff­nungs­film Murer – Anatomie eines Prozesses gekommen, was nicht unbemerkt geblieben war. Schließ­lich klagt Christian Froschs Gerichts­film das ein, was 1963 auf eine Klage von Simon Wiesen­thal hin nicht gelungen war: Den Grazer Unter­nehmer Franz Murer für seine Verbre­chen zu verur­teilen. Murer hatte als NS–Ober­be­fehls­haber im litaui­schen Vilnius tausende Juden gemordet. Zehn­tau­sende. Murer wurde frei gespro­chen. Opfer und Zeugen wurden verhöhnt, gede­mü­tigt. Franz Murer durfte bis ans Leben­s­ende unbe­hel­ligt in Graz walten und schalten. Die ÖVP schaltete mit, und sein heute bei der FPÖ aktiver Sohn bemüht sich noch um seine Image­po­li­e­rung. All diese Unglaub­lich­keit wurde nun sichtbar, das aus dem Gerichts­saal Gezeigte zeitigte Fassungs­lo­sig­keit im Kinosaal, und im Nicht–Erscheinen der poli­ti­schen Spitze wurde die unge­bro­chene poli­ti­sche Konti­nuität geradezu exem­pla­risch vorge­führt und bestätigt – wenn auch das Inten­danten–Duo Sebastian Höglinger und Peter Schern­huber in ihrer Eröff­nungs­rede sehr diplo­ma­tisch aber gewieft erklärte, der Film versuche keines­falls »plumpe tages­po­li­ti­sche Analogien« herzu­stellen. Also, alles auf Anfang.

Vor diesem Hinter­grund war der Preis an Murer – Anatomie eines Prozesses als »Bester öster­rei­chi­scher Kino­spiel­film« nahezu zwingend. Der andere große Preis ging an Die bauliche Massnahme als »Bester öster­rei­chi­scher Doku­men­tar­film«. Auch die Entschei­dung, den »Diagonale-Schau­spiel­preis« an zwei Filme zu vergeben, L’Animale von Katharina Mückstein und Cops von Stefan A Lukacs, und da jeweils an die gesamten Ensembles, kann mit der Vorder­grün­dig­keit der Grup­pen­dy­na­miken in den Filmen begründet werden. Ich schließe meinen Besuch mit der Late–Night–Premiere von Jedem Dorf sein Under­ground, einem Film von Jakob Kubizek über die Geschichte des Kultur­ver­eins Röda in der Provinz­stadt Steyr. In den Erin­ne­rungen an die Subkultur der Neunziger Jahre, an die Mühsal und das Durch­hal­te­ver­mögen, die aufzu­bringen sind, um eine Jugend­kul­tur­szene aufzu­bauen und zu erhalten, in diesen wie vielen anderen ebenso beiläu­figen Festi­val­mo­menten wird der Gedanke eines prospe­rie­renden Gloka­lismus im Publikum wach und erfahrbar. Achja, übrigens geht das geflü­gelte „Wehret den Anfängen!“ auf Ovid und seine „Prin­ci­piis obsta“ in seiner Schrift Remedia amoris (Heil­mittel gegen die Liebe) zurück. Sie sollen dem unglück­li­chen Verliebten helfen, sich wieder zu entlieben. Wenn die Beziehung aber schon fort­ge­schritten ist, solle der Verliebte sich an der Geliebten über­sät­tigen, um überhaupt thera­pierbar zu werden. In diesem Sinne gebe ich mich den Anfängen hin und freue mich auf weitere Male Diagonale.