Nicht das Was, sondern das Wie |
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Älterwerden, in echt! Boyhood | ||
(Foto: Universal Pictures International Germany GmbH) |
2014 war wieder einmal ein Kinojahr, in dem wirklich für jeden etwas dabei war. Jedes Niveau, jede Geschichte, jede Aussage, jeder Stil und jede Stimmung war vertreten, theoretisch fand sich so für jede Anforderung, die man an Film- bzw. Kunst- bzw. Kulturkonsum stellen kann, etwas Passendes. Praktisch war dies aber nicht ganz so einfach, da man sich in der unglaublichen Masse und Vielfalt irgendwie zurechtfinden musste, es also schon irgendwo den perfekten Film für jeden Kinogeher gab, die beiden aber erst einmal zusammenkommen mussten.
Um mit dem überwältigenden Angebot klar zu kommen, gibt es verschiedene Methoden und Selektionskriterien. Der eine wählt (vor allem) nach den beteiligten Personen aus, der andere nach der Machart, der dritte nach dem Genre, mancher lässt auswählen und vertraut auf den Geschmack seines bevorzugten Kinos oder Kritikers. Ein ganz wichtiges Auswahlmerkmal ist für viele die Geschichte, die ein Film erzählt, weshalb den Inhaltsangaben in Werbung und Berichterstattung eine solche Bedeutung zukommt. Für mich hat sich im Jahr 2014 wieder einmal bestätigt, dass in meinem Kinoalltag dieses Kriterium bestenfalls zweitrangig ist. Denn in Detailfragen und Ausformung mögen sich die Geschichten im aktuellen Kino schon unterscheiden, im Kern sind sie aber alle schon einmal dagewesen und dabei spreche ich nicht von der Elementarteilchen-Ebene des Geschichtenerzählens mit Bausteinen wie »boy meets girl« oder »Gut gegen Böse«, sondern der höheren Ebene der cineastischen Elemente, also Stoffen wie »boy meets girl aus unterschiedlichen kulturellen, verfeindeten Hintergründen« oder »der Gute, der eine dunkle Seite hat, kämpft gegen den Bösen, der nicht nur schlecht ist«. Inhaltlich gab es im Kino des vergangenen Jahres somit kaum wirklich Neues zu entdecken, weshalb für mich nicht das Was (wird erzählt) sondern das Wie (wird erzählt) maßgeblich bei der Auswahl und Bewertung der Filme war. Die folgenden Filme haben mir 2014 alte, mehr oder minder bekannte Geschichten auf eine neue und/oder ungewohnte und/oder spannende und/oder einfach nur schöne Weise erzählt.
Die Verhältnisse und Beziehungen in einer Familie (selbst in den neuen Varianten wie z.B. der mono- bzw. bi- bzw. multinuklearen Familie) sind im Kino in jeder erdenklichen Form schon durchexerziert worden, darum war das interessante an Filmen wie Stories We Tell, Nebraska, Boyhood, Höhere Gewalt und When Animals Dream auch nicht die Schilderung davon, wie Eltern und Kinder in den unterschiedlichsten Lebenslagen (nicht) miteinander klarkommen, sondern die Art, wie das erzählt wurde. Sarah Polley macht sich in Stories We Tell auf eine menschlich wie künstlerisch liebevolle Suche nach ihren Vätern, Alexander Payne stellt in Nebraska melancholisch schön die Frage nach persönlicher, familiärer und allgemeiner Wahrnehmung und Erinnerung, Richard Linklater schaut in Boyhood einem Jungen in Echtzeit beim Älterwerden zu und verdeutlicht en passant die schleichende Veränderung, der wir alle unterliegen, in Ruben Östlunds Höhere Gewalt wird ein Ski-Paradies zur Beziehungshölle, die ausgerechnet durch eine Lawine freigelegt wird und Jonas Alexander Arnbys When Animals Dream belegt einmal mehr (auf durchaus eigenständige Weise), dass sich die emotionellen Irrungen und Wirrungen an der Schwelle zum Erwachsenwerden erstaunlich treffend mit den Mitteln des Horrorfilms zum Ausdruck bringen lassen.
Zu den am häufigsten vorkommenden Elementen des cineastischen Periodensystems zählen Gewalt, Macht, Schuld, Sünde und Sühne, diesbezüglich hat man als regelmäßiger Kinogeher auch schon ziemlich jede Konstellation gesehen.
Bemerkenswert an A Touch of Sin ist deshalb auch nicht, dass hier Menschen unter der Last des Lebens im- bzw. explodieren, sondern die kühl-konsequente Art, wie
dies geschildert wird.
Um Sünden und Menschen am psychischen und sozialen Abgrund geht es auch in Am Sonntag bist du tot, der die Geschichte vom Sündenbock und Opferlamm so lange hin und her dreht, bis jedes Ende möglich scheint, weshalb die angekündigte Katastrophe bei ihrem tatsächlichen Eintreten umso nachhaltiger verstört.
Zum Sündenbock wird auch ein (nicht ganz
unschuldiger) Ehemann in Gone Girl, der auf der Basis einer fatal attraction das faszinierende Bild einer lügenden und betrügenden Gesellschaft zeichnet, einziger Wehrmutstropfen ist das etwas überzogene Ende.
Virtuos (wie der gesamte Film) war dagegen das Ende von Enemy, der das
altbekannte Motiv des Doppelgängers in bester Tradition von Autoren wie E.T.A. Hoffmann und E.A. Poe als paranoid pathologischen Alptraum zum Leben erweckte.
Ein Klassenkampf zwischen unterdrückten, rechtlosen Armen und despotisch dekadenten Reichen in einem unstoppbaren Zug, der in einer endzeitlichen Welt das letzte Refugium darstellt, klingt für mich auf inhaltlicher Ebene nach einem langweiligen, klischeebeladenen Quatsch. Zum Glück habe ich mir (im Gegensatz etwa
zum ähnlich gelagerten Elysium aus 2013) Snowpiercer trotzdem angeschaut und war von seiner mitreißenden, artifiziell überwältigenden Machart durchaus begeistert.
Wenn man Filme vor allem nach ihrer Art und Weise des Erzählens auswählt, wird man zwangsläufig mit stilistischen Eigenheiten und Mustern im Werk einzelner Regisseure konfrontiert. So schaut man sich manchen Film auch dann an, wenn die Inhaltsangabe nicht Gutes verheißt, weil man auf die besondere, ansprechende Darstellungsweise des verantwortlichen Regisseurs vertraut.
So hatte ich eigentlich keine Lust auf die millionste Gangster-Mafia-Betrüger-FBI-korrupte
Politiker-Geschichte, nachdem aber David O. Russell hinter American Hustle stand, ging ich das Risiko ein und erlebte eine für diesen Regisseur typisch stachelige Story mit großartiger Figuren- und Beziehungszeichnung.
Künstlerbiographien im Kino fallen leider oft sehr belanglos aus, gerade der Versuch, die stilistischen Eigenheiten des porträtierten Künstlers zu übernehmen (oder vielleicht sogar zu erklären) führt in den seltensten Fällen zu einem ansprechenden Ergebnis. Wie gut, dass sich Mike Leigh in Mr. Turner treu geblieben ist und in erster Linie ein gewohnt meisterhaftes Psycho- und Soziogramm erstellt hat. Zahlreiche pittoreske Kameraeinstellungen fügten sich dabei gut ein, nahmen aber nicht für sich in Anspruch, der Ästhetik William Turners gleichzukommen.
Bei Wes Anderson findet man konventionelle Geschichten so wenig wie konventionelle Charaktere, das kann manchmal auch ein wenig ermüden, wenn wieder einmal zwei Dutzend Stars in skurrilen Outfits und Masken in skurrilen Dekors eine skurrile Geschichte durchleben. Das war in Grand Budapest Hotel im Grunde nicht anders, jedoch durchzog diesen eine film-, kunst- und allgemeinhistorische Note, die ihm (trotz aller Verspieltheit) Gewicht und somit Nachhaltigkeit verlieh.
Um unkonventionelle Geschichten ist auch Spike Jonze regelmäßig bemüht, letztlich variierte und kombiniert aber auch Her nur bekannte Geschichten von ungewöhnlicher bzw. unmöglicher Liebe und selbstbewußten Maschinen, weshalb der wahre Reiz des Films in der Schilderung eines antiquiert emotionellen Menschen in einer hypermodernen Welt liegt.
Ein Genre, bei dem die erzählte Geschichte in der Regel eine untergeordnete Rolle spielt, ist die Komödie (was aber nicht bedeutet, dass die Geschichten in Komödien zwangsläufig immer belanglos sind). Dass eine Handlung grundsätzlich nur durch die Art des Erzählens lustig wird, kann man bei der kleinsten Form dieses Genres, dem Witz, erkennen. Derselbe Witz, von zwei Personen erzählt, kann bei der einen zum Schreien komisch, bei der anderen zum Gähnen langweilig sein.
Gute filmische Witzeerzähler sind etwa Phil Lord und Chris Miller, die sogar auf der Basis eines Spielzeuges oder einer alten Fernsehserie eine (zum Teil gar nicht so dumme) Geschichte so anrichten, dass man sich bei The Lego Movie und 22 Jump Street bestens amüsieren konnte (das entsprechende
Humorverständnis vorausgesetzt).
Was mit Spielzeug und Fernsehserien klappt, geht auch mit Comics, weshalb Guardians of the Galaxy ein heiterer Spaß war, der ein nettes Gegengewicht zum angestrengten Pathos und / oder faden Humor sonstiger Superhelden-Comic-Verfilmungen darstellte.
Eine ähnliche Wirkung hatte auch 5 Zimmer Küche Sarg, der mit einer herzerwärmenden Detailverliebtheit und subversivem Witz gleichermaßen die lächerlichen Aspekte von Horror- wie Dokumentar- wie Buddy-Film aufdeckte.
Konflikte zwischen Nachbarn sind in der Realität wie im Kino regelmäßig zu beobachten, Bad Neighbors ließ ein junges Paar am schwierigen Übergang von jugendlich hip zu erwachsen spießig auf eine wilde Studentenverbindung treffen, dass das erfrischend lustig wurde, liegt vor allem an der respektlosen, anspielungsreichen Erzählweise, die man seit einigen Jahren mit den Regisseuren und Darstellern des sog. Frat-Packs verbindet.
Wenn es im Kino schon keine neuen Geschichten gibt, könnte man vielleicht in der Realität welche finden. Wer als Dokumentarfilmer interessiert auf unsere Welt schaut, muss doch auf zahllose neue Geschichten treffen. Dem ist leider nicht so, denn auch im wirklich echten Leben begegnen uns vor allem Variationen des ewig gleichen (wenn dem nicht so wäre, hätte auch das Kino als Spiegel der Realität mehr neue Geschichten zu erzählen).
So zeigte dann auch Das große Museum vor allem Menschliches, Allzumenschliches und Bekanntes, Allzubekanntes, das aber einen wichtigen Grundsatz des gezeigten Museums übernahm: auf die Präsentation kommt es an!
In der Sub- und Jungendkultur glaubt man auch ständig, die Welt neu zu erfinden. Wenn man genau hinschaut, sind die Geschichten um Künstler, Bands, Labels, Stilrichtungen, Widerstand und Kommerz doch immer irgendwie ähnlich, so auch bei Parallax Sounds Chicago, der aber die üblichen Standards der huld- und weihevollen Musikdokus vermied und damit dem Chicago Post-Rock ein angemessenes
Denkmal setzte.
Ein angemessenes Denkmal setzte sich auch Nick Cave mit 20.000 Days on Earth, der sich im Zwischenreich von Dokumentar und Inszenierung bewegte, was für den alten Selbst- und Fremdinszenierer Cave aber die passendste Form der Darstellung ist, weshalb der Film eine erstaunliche Wahrhaftigkeit hat.
Ein sicherer Garant für Wahrhaftigkeit ist seit langem
Errol Morris, der mit seinem The Unknown Known eindringlich belegte, dass man eigentlich keine Whistleblower und Wikileaks braucht, wenn man das offen Zugängliche sorgfältig betrachtet und man den Verantwortlichen die richtigen Fragen stellt.
All diese Filme haben es also im vergangenen Jahr geschafft, durch ihre Machart vergessen zu lassen, dass sie eine alte, bekannte Geschichte erzählen. Über die anderen, die das nicht geschafft haben, die also ihre alten Kamellen mit nichts oder nur mit belanglosen Mitteln spärlich ummantelten, soll hier geschwiegen werden.