Keine Ausflüchte |
||
Zwei, die langsam zueinander finden – Dani und Michele in La prima neve |
Von Natascha Gerold
Kommt jetzt Grenzschutz vor Menschenrettung? Die europäische Einwanderungspolitik, wie sich derzeit gebärdet, lässt kaum einen anderen Schluss zu. Nachdem sich das Programm Mare Nostrum der italienischen Marine und Küstenwache die Rettung von über 100.000 Menschen in Seenot verdient gemacht hat, übernimmt offiziell seit Anfang November die europäische Frontex-Mission »Triton«. Rettungseinsätze werden nicht mehr koordiniert, der Schwerpunkt liegt dann auf Identitätsermittlung und sogenannte »Rückkehrpolitik«.
Italien, noch immer schwer gebeutelt von der Finanzkrise und seit über drei Jahren in der Rezession, sah sich gezwungen, Mare Nostrum einzustellen, alle Bemühungen von Italiens Regierungschef Matteo Renzi, den Rest der EU von der Notwendigkeit einer von der Gemeinschaft solidarisch getragenen Mission zu überzeugen, schlugen fehl. »Europa rette zwar die Banken, sehe aber den Kindern beim Sterben zu«, wurde Renzi von Spiegel online diesbezüglich zitiert.
So unbezwingbar nicht
wenige europäische Entscheider ihre »Festung Europa« auch ausgestattet sehen wollen: Die Menschen kommen und sie werden bleiben. Der Kontinent befindet sich im demographischen, soziokulturellen Wandel, und Italien, für viele Flüchtlinge und Migranten die erhoffte Ausgangsbasis in eine bessere Zukunft, erlebt ihn gerade mit am unmittelbarsten. Welche Auswirkungen er auf die im Land lebenden Alt-, Neu- und Nicht-Bürger hat, zeigen die Filme der Reihe »Die Odyssee des 21.
Jahrhunderts – Immigration nach Italien« des Circolo Cento Fiori in eindringlicher und vielschichtiger Weise: Sie erzählen von drastischen Konfrontationen wie in Terraferma (dt. »Festland«; Fr., 28.11. 18 Uhr) von Emanuele Crialese, wo Fischer Ernesto und sein Enkel Filippo an der Küste einer kleinen Nachbarinsel von Lampedusa auf ein Boot mit afrikanischen Flüchtlingen in
Seenot treffen. Die Begegnung macht aus Entscheidungen Schlüsselerlebnisse, wirft den Einzelnen auf sich selbst zurück, erst recht, wenn sie sich in prekären Lebenssituationen aufdrängt: So wie die Inselbewohner in Terraferma angesichts hoher Arbeitslosigkeit um ihre Existenz kämpfen, wird dem alten Pfarrer in Il villaggio di cartone (was sich als »das Kartondorf« übersetzen lässt; Sa., 29.11. 17.30 Uhr) von Regie-Altmeister Ermanno Olmi der Rahmen für seine Berufung entzogen, seine kaum noch besuchte Kirche für den Abriss leergeräumt. Eine Gruppe Flüchtlinge rüttelt nicht nur an den Toren des Gotteshauses, sondern den Priester wach für ein klares Statement über christliche Nächstenliebe und Barmherzigkeit – dies erinnert an die Debatte um
Kirchenasyl, in das sich nach Angaben des ökumenischen Netzwerks »Asyl in der Kirche« derzeit circa 300 Menschen in 180 Gemeinden hierzulande begeben haben.
Wie geht es nach der Ankunft weiter? Dagmawi Yimer, der vor einigen Jahren aus Äthiopien nach Italien emigrierte, ergreift Kultur-Initiative und macht in der neuen Heimat Filme. Zum Beispiel über Migranten, die in der Großstadthektik bestenfalls ignoriert, schlimmstenfalls zu Opfern rassistischer Gewaltakte werden: In seinem Dokumentarfilm Va' pensiero: Storie ambulanti (So., 30.11. 19.30 Uhr) kommen drei Senegalesen zu Wort, die nach rassistischen Übergriffen und schweren Verletzungen in Mailand respektive Florenz noch immer an Italien als Wahlheimat festhalten. Yimer wird bei der Vorführung dieser »flüchtigen Geschichten« anwesend sein.
»Man kommt als Fremder und bleibt ein Fremder«, war einst die bittere Bilanz von Juanita, der Puerto-Ricanerin aus der Westside Story, die gleichzeitig so überzeugt I like to be in America schmetterte. Genauso leidenschaftlich wie sie singt Student Said die Hymnen seines Geburtslandes Italien in Sta per piovere (dt. »Es fängt gleich zu regnen an«; Sa., 29.11. 19.30 Uhr), bis seinem Vater, der vor Jahrzehnten aus Algerien einwanderte, nicht nur die Visumsverlängerung verweigert wird, sondern der gesamten Familie die Abschiebung droht. Die Zeit rennt davon, doch Said kämpft. Regisseur Haider Rashid weiß, was er da zeigt: wie sein Protagonist gehört der in Italien geborene Sohn eines emigrierten Irakers zur sogenannten Zweiten Generation, die zum Wandel einer kulturellen Identität Italiens beitragen. Noch immer vermisse er ein Umdenken auf politischer und akademischer Ebene, so Rashid im Rahmen eines Podiumsgesprächs in Oxford: »Wenn man den Menschen ihre Rechte nicht zubilligt, werden sie sie sich irgendwie nehmen.«
Bei all den gezeigten Identitätskrisen, physischer Gewalt, moralischen Dilemmata und Schreibtischattentaten haben die Filme dieser Reihe überwiegend eines gemein: Sie strahlen Hoffnung aus auf die Möglichkeit, dass Europa doch zu einer Migrationspolitik findet, die einer Gesellschaft den Weg ebnet, »die die 'Anderen' nicht mehr als Problem betrachtet, sondern in ihnen eine Chance zur eigenen Weiterentwicklung sieht«, wie es Ambra Sorrentino-Becker in ihrem Vorwort zur Italienischen Filmreihe formuliert. Am meisten davon dürfte wohl in La prima neve (So., 30.11. 17 Uhr) von Andrea Segre zu spüren sein. Dieser erste Schnee der Saison, auf den die Menschen in einem Tal im Trentino warten, wird eine Premiere für Dani sein, dem Flüchtling aus Togo, der eine kleine Tochter bei sich und tiefe Trauer in sich trägt – genau wie der zehnjährige Michele, der vor Kurzem seinen Vater verloren hat. Beiden wird der prächtige Wald der Botschafter, der zwischen ihnen vermittelt und sie lehrt, einander zuzuhören.
Die Italienische Filmreihe ist Teil des Projekts »Wir sind alle Migranten«.