27.11.2014

Keine Ausflüchte

La prima neve
Zwei, die langsam zueinander finden – Dani und Michele in La prima neve

Immigration nach Italien – der umfassende Schwerpunkt der Filmreihe des Circolo Cento Fiori ist mehr als tagesaktuell-europäisch

Von Natascha Gerold

Kommt jetzt Grenz­schutz vor Menschen­ret­tung? Die europäi­sche Einwan­de­rungs­po­litik, wie sich derzeit gebärdet, lässt kaum einen anderen Schluss zu. Nachdem sich das Programm Mare Nostrum der italie­ni­schen Marine und Küsten­wache die Rettung von über 100.000 Menschen in Seenot verdient gemacht hat, übernimmt offiziell seit Anfang November die europäi­sche Frontex-Mission »Triton«. Rettungs­ein­sätze werden nicht mehr koor­di­niert, der Schwer­punkt liegt dann auf Iden­ti­täts­er­mitt­lung und soge­nannte »Rück­kehr­po­litik«.

Italien, noch immer schwer gebeutelt von der Finanz­krise und seit über drei Jahren in der Rezession, sah sich gezwungen, Mare Nostrum einzu­stellen, alle Bemühungen von Italiens Regie­rungs­chef Matteo Renzi, den Rest der EU von der Notwen­dig­keit einer von der Gemein­schaft soli­da­risch getra­genen Mission zu über­zeugen, schlugen fehl. »Europa rette zwar die Banken, sehe aber den Kindern beim Sterben zu«, wurde Renzi von Spiegel online dies­be­züg­lich zitiert.
So unbe­zwingbar nicht wenige europäi­sche Entscheider ihre »Festung Europa« auch ausge­stattet sehen wollen: Die Menschen kommen und sie werden bleiben. Der Kontinent befindet sich im demo­gra­phi­schen, sozio­kul­tu­rellen Wandel, und Italien, für viele Flücht­linge und Migranten die erhoffte Ausgangs­basis in eine bessere Zukunft, erlebt ihn gerade mit am unmit­tel­barsten. Welche Auswir­kungen er auf die im Land lebenden Alt-, Neu- und Nicht-Bürger hat, zeigen die Filme der Reihe »Die Odyssee des 21. Jahr­hun­derts – Immi­gra­tion nach Italien« des Circolo Cento Fiori in eindring­li­cher und viel­schich­tiger Weise: Sie erzählen von dras­ti­schen Konfron­ta­tionen wie in Terraferma (dt. »Festland«; Fr., 28.11. 18 Uhr) von Emanuele Crialese, wo Fischer Ernesto und sein Enkel Filippo an der Küste einer kleinen Nach­bar­insel von Lampedusa auf ein Boot mit afri­ka­ni­schen Flücht­lingen in Seenot treffen. Die Begegnung macht aus Entschei­dungen Schlüs­sel­er­leb­nisse, wirft den Einzelnen auf sich selbst zurück, erst recht, wenn sie sich in prekären Lebens­si­tua­tionen aufdrängt: So wie die Insel­be­wohner in Terraferma ange­sichts hoher Arbeits­lo­sig­keit um ihre Existenz kämpfen, wird dem alten Pfarrer in Il villaggio di cartone (was sich als »das Karton­dorf« über­setzen lässt; Sa., 29.11. 17.30 Uhr) von Regie-Altmeister Ermanno Olmi der Rahmen für seine Berufung entzogen, seine kaum noch besuchte Kirche für den Abriss leer­geräumt. Eine Gruppe Flücht­linge rüttelt nicht nur an den Toren des Gottes­hauses, sondern den Priester wach für ein klares Statement über christ­liche Nächs­ten­liebe und Barm­her­zig­keit – dies erinnert an die Debatte um Kirchen­asyl, in das sich nach Angaben des ökume­ni­schen Netzwerks »Asyl in der Kirche« derzeit circa 300 Menschen in 180 Gemeinden hier­zu­lande begeben haben.

Wie geht es nach der Ankunft weiter? Dagmawi Yimer, der vor einigen Jahren aus Äthiopien nach Italien emigrierte, ergreift Kultur-Initia­tive und macht in der neuen Heimat Filme. Zum Beispiel über Migranten, die in der Groß­stadthektik besten­falls ignoriert, schlimms­ten­falls zu Opfern rassis­ti­scher Gewalt­akte werden: In seinem Doku­men­tar­film Va' pensiero: Storie ambulanti (So., 30.11. 19.30 Uhr) kommen drei Sene­ga­lesen zu Wort, die nach rassis­ti­schen Über­griffen und schweren Verlet­zungen in Mailand respek­tive Florenz noch immer an Italien als Wahl­heimat fest­halten. Yimer wird bei der Vorfüh­rung dieser »flüch­tigen Geschichten« anwesend sein.

»Man kommt als Fremder und bleibt ein Fremder«, war einst die bittere Bilanz von Juanita, der Puerto-Ricanerin aus der Westside Story, die gleich­zeitig so überzeugt I like to be in America schmet­terte. Genauso leiden­schaft­lich wie sie singt Student Said die Hymnen seines Geburts­landes Italien in Sta per piovere (dt. »Es fängt gleich zu regnen an«; Sa., 29.11. 19.30 Uhr), bis seinem Vater, der vor Jahr­zehnten aus Algerien einwan­derte, nicht nur die Visums­ver­län­ge­rung verwei­gert wird, sondern der gesamten Familie die Abschie­bung droht. Die Zeit rennt davon, doch Said kämpft. Regisseur Haider Rashid weiß, was er da zeigt: wie sein Prot­ago­nist gehört der in Italien geborene Sohn eines emigrierten Irakers zur soge­nannten Zweiten Gene­ra­tion, die zum Wandel einer kultu­rellen Identität Italiens beitragen. Noch immer vermisse er ein Umdenken auf poli­ti­scher und akade­mi­scher Ebene, so Rashid im Rahmen eines Podi­ums­ge­sprächs in Oxford: »Wenn man den Menschen ihre Rechte nicht zubilligt, werden sie sie sich irgendwie nehmen.«

Bei all den gezeigten Iden­ti­täts­krisen, physi­scher Gewalt, mora­li­schen Dilemmata und Schreib­tischat­ten­taten haben die Filme dieser Reihe über­wie­gend eines gemein: Sie strahlen Hoffnung aus auf die Möglich­keit, dass Europa doch zu einer Migra­ti­ons­po­litik findet, die einer Gesell­schaft den Weg ebnet, »die die 'Anderen' nicht mehr als Problem betrachtet, sondern in ihnen eine Chance zur eigenen Weiter­ent­wick­lung sieht«, wie es Ambra Sorren­tino-Becker in ihrem Vorwort zur Italie­ni­schen Filmreihe formu­liert. Am meisten davon dürfte wohl in La prima neve (So., 30.11. 17 Uhr) von Andrea Segre zu spüren sein. Dieser erste Schnee der Saison, auf den die Menschen in einem Tal im Trentino warten, wird eine Premiere für Dani sein, dem Flücht­ling aus Togo, der eine kleine Tochter bei sich und tiefe Trauer in sich trägt – genau wie der zehn­jäh­rige Michele, der vor Kurzem seinen Vater verloren hat. Beiden wird der prächtige Wald der Botschafter, der zwischen ihnen vermit­telt und sie lehrt, einander zuzuhören.

Die Italie­ni­sche Filmreihe ist Teil des Projekts »Wir sind alle Migranten«.