14.04.2022
Cinema Moralia – Folge 271

Ist weniger mehr?

Tove
Gefördert und dennoch unterfinanziert: Und morgen die ganze Welt
(Foto: Alamode Film/Filmagentinnen)

Das Kartell des Bestehenden schottet sich ab. Wie steht es mit der Transparenz? Wie mit anderem Denken und der Freiheit der Andersdenkenden? Überlegungen, nicht nur zum deutschen Film, aber aus aktuellem Anlass – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 271. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Selbst das mindeste, was man von den Trägern poli­ti­scher Macht verlangen konnte, eine ordent­liche Verwal­tung dieses Landes, erweist sich als entsetz­liche Illusion.«
Pier Paolo Pasolini

»Freiheit ist immer Freiheit der Anders­den­kenden«
Rosa Luxemburg

»Wer 'Russia Today' und 'Sputnik' verbietet, wird künftig ein Glaub­wür­dig­keits­pro­blem bekommen, die Unter­drü­ckung der Presse- und Meinungs­frei­heit in, zum Beispiel, Russland zu kriti­sieren. Besteht die Stärke liberaler Gesell­schaften nicht genau darin, auch – pardon my French – allerlei Scheiß­dreck aushalten zu können?«
Deniz Yücel, Präsident des deutschen PEN-Zentrums

Wer in einem Leichnam sucht, findet nur Würmer.

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Wir hatten es vor ein paar Wochen geschrieben: »Schluss mit der Flick­schus­terei«. Die Novel­lie­rung des Film­för­der­ge­setzes (FFG), die gerade bei der zustän­digen Behörde, dem BKM, im Gange ist, ist eigent­lich über­flüssig. Denn es kann nicht um die sound­so­vielte Novelle gehen, sondern es muss ganz grund­sätz­lich um das Förder­system und seine Verän­de­rung oder Neuer­fin­dung gehen. Nur dann haben die ganzen Diskus­sionen und Stel­lung­nahmen, die jetzt die größeren Runden oder zu viert in Hinter­zim­mern statt­finden, überhaupt irgend­einen Sinn.
Es gibt immerhin ein paar positive Signale aus der zustän­digen Behörde. Signale dafür, dass man sich auch dort darüber im Klaren ist, dass sehr grund­sätz­liche Dinge passieren müssen, und dass man bereit ist, dafür tatsäch­lich etwas zu tun.
Inzwi­schen wird sogar in Fern­seh­sen­dern sehr klar zwischen Publi­kums­er­folg, künst­le­ri­scher und inhalt­li­cher Relevanz und künst­le­ri­scher Qualität eines Films unter­schieden. Viel klarer, als die Funk­ti­onäre der Film­för­de­rung dazu willens oder in der Lage sind. Da stehen einzelne Menschen noch immer auf dem Stand­punkt, dass man all dies überhaupt nicht defi­nieren kann, es sich jeder Defi­ni­tion entzieht – mit dem Ergebnis, dass dann die immer irgendwie gleich oder ähnlich besetzten Gremien die Entschei­dung darüber fällen, was gefördert wird, was also relevant und quali­tativ wertvoll und poten­tiell erfolg­reich ist.
Man kann dann doch so viele Hinter­zim­mer­runden, Workshops, Fokus-Gespräche und runde Tische veran­stalten – wenn der Wille fehlt oder die Bereit­schaft der Betei­ligten, wirklich etwas zu verändern und auf die Bedürf­nisse der Filme­ma­cher und derje­nigen, die mit Filmen Preise bekommen oder Geld verdienen, zu hören, dann bleibt dies alles sinnlos und nur ein Parti­zi­pa­ti­ons­theater.

Zumindest die FFA (Film­för­der­an­stalt des Bundes), die noch nie durch Inno­va­tion oder kreative Gedanken aufge­fallen ist, scheint inzwi­schen zu ahnen, dass ihre beste Zeit vorbei ist. Längst wird über die mögliche Abschaf­fung der FFA, oder ihre Unter­ord­nung in größere Förder­zu­sam­men­hänge innerhalb der deutschen Branche immer offener und immer öfter geredet – einzelne Verbands­funk­ti­onäre fordern diese Abschaf­fung längst, genauso wie in den Koali­ti­ons­runden bereits deren Für und Wider disku­tiert wurde. Das Konglo­merat dieser ganzen deutschen Förder­behörden, die nie wirklich zusam­men­ge­ar­beitet haben, sondern offen mitein­ander konkur­rieren und dann doch alle die gleichen Filme finan­zieren, muss zerschlagen und neu geordnet oder zusam­men­ge­fasst oder abge­schafft werden. So wie es ist, kann es nicht bleiben.

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Bei den Debatten, die wir gerade um den deutschen Film führen, geht es seit einigen Jahren immer wieder darum, die Zahl von fertig­ge­stellten Filmen zu redu­zieren. Als sei das ein Allheil­mittel. Als sei die Reduktion an sich schon ein Pluspunkt, etwas, das allen, also »der Branche«, »der Szene«, dem gesamten deutschen Film, und letztlich sogar den Filmen, die dann wegre­du­ziert sind, irgendwie nutzen würde.
Dies ist einer der wenigen Punkte, in denen sich sehr viele einig sind. Aber warum eigent­lich? Natürlich gibt es Filme, die nur gemacht werden, weil man sie fertig­stellen muss, um das inves­tierte Geld nicht an die Förderer zurück­zahlen zu müssen. Aber deren Zahl ist gering. Ihr gegenüber stehen mindes­tens ebenso viele Filme, die nicht gemacht wurden, obwohl alle sie machen wollen, obwohl alle Betei­ligten an diese Filme glauben. Nur die Förder­gre­mien nicht. Oder es gibt richtige Ausreden als Argumente, warum man nicht gefördert wurde: »Es gab zu viele Anträge.« Gerade Filme aus Deutsch­land, die besonders erfolg­reich sind, die etwas Inno­va­tives haben oder zumindest etwas Publi­kum­s­träch­tiges – nehmen wir mal ganz unver­fäng­liche Beispiele: Toni ErdmannSystem­sprengerUnd morgen die ganze Welt – sind zwar gefördert worden, aber nicht zurei­chend. Sie waren unter­fi­nan­ziert. Sie sind also ein Beispiel für die Irrtümer der Film­för­de­rung, nicht für ihre Weisheit. Trotzdem haben die zustän­digen Förder­funk­ti­onärInnen die Chuzpe, sich mit diesen Filmen, die sie eigent­lich verhin­dern wollten, im Nach­hinein zu brüsten.

Wenn wir die Masse der Filme, die in Deutsch­land herge­stellt werden, redu­zieren mit dem Argument, dass Masse keine Klasse ist – und wer würde das als solches bestreiten? – woher wissen wir dann, dass die richtigen Filme reduziert werden und nicht die falschen? Nicht gerade die dummen und geschmack­losen Filme, die mit irgend­wel­chen merk­wür­digen Argu­menten diese diffusen Selek­ti­ons­me­cha­nismen über­stehen. Woher wissen wir, dass nicht genau das, was jetzt schon eine margi­na­li­sierte Position hat, erst recht wegmar­gi­na­li­siert werden wird?

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Es ist eine Form der Perver­sion, wenn Film­för­derer, die, wie ihr Name schon sagt, dafür zuständig sind, Filme zu fördern, und für nichts anderes – zum Beispiel nicht dafür, sich in kreative Entschei­dungen oder in die von gewählten Volks­ver­tre­tern verant­wor­tete Film­po­litik einzu­mi­schen –, sich neuer­dings in der Position der Film­ver­hin­derer gefallen, wenn sie in hohem Ton und angeblich auf dem riesigen Fels ihrer Erfah­rungen stehend, erklären, warum es unbedingt weniger Filme geben muss, damit diese wenigen Filme Erfolge haben können, und warum zu viele Filme gemacht werden, anstatt dann eben ihre Richt­li­nien so umzubauen, dass sie wenige Filme fördern, aber nicht darüber reden, was für Filme nicht gemacht werden sollen. Und anstatt zu erklären, was eigent­lich erklärt werden müsste: Warum viel zu viele falsche Filme gemacht werden, warum viel zu wenig gute Filme gemacht werden, viel zu wenig Filme, die Erfolge beim Publikum oder Erfolge bei Film-Festivals oder im Ausland oder bei der Film­kritik oder am besten bei allen zusammen haben.
Welche Filme sollen denn nicht mehr gemacht werden? Hanni & Nanni?, Leber­käs­junkie? Ostwind? Immenhof? Oder wird es am Ende auf irgend­welche forschenden, »schwie­rigen« Doku­men­tar­filme und vor allem auf Studen­ten­ar­beiten hinaus­laufen, weil man den Film­stu­denten einredet, sie sollten doch besser mit einem Kurzfilm ihren Abschluss machen. Und der läuft in Hof und dann hat er schon Glück, und das war’s dann mit der Regie-Karriere.
Oder Arbeiten von älteren Filme­ma­che­rinnen, denen man subtil und sanft einredet, »dass Sie doch ein bisschen alt sind fürs Geschäft, dass Ihre Themen viel­leicht vor zehn oder zwanzig Jahren... Aber doch heute nicht mehr... Bitte das sehen Sie doch selber ein... Oder?«

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Die Branche ist hart genug – man siehe zum Beispiel die Entschei­dung zur alljähr­li­chen Auswahl zum Deutschen Filmpreis durch die soge­nannte Deutsche Film­aka­demie. Dazu braucht man keine Film­för­de­rung mehr.

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Pres­se­mit­tei­lung des Wagenbach Verlags: Ben Becker liest Pasolini! Also genau der Mann, bei dem ich immer schon an Pasolini gedacht habe. Der wird auch das überleben.

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Was ist Wahrheit? Ich wasche meine Hände in Unschuld.

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»Freiheit ist immer Freiheit der Anders­den­kenden« – was sagt uns das berühm­teste Rosa-Luxemburg-Zitat? Ein drei Jahre alter Deutsch­land­funk-Beitrag, der noch immer online steht, präsen­tiert die inter­es­sante, sehr zeit­ge­mäße Lesart der Berliner Philo­so­phin Bini Adamczak. Laut Adamczak formu­liert Luxemburg in ihrem Text, der das berühmte Zitat enthält, eine doppelte Kritik: Luxemburg lehnt Einschrän­kungen der Presse- und Meinungs­frei­heit und demo­kra­ti­scher Verfah­rens­weisen auch dann ab, wenn sie dem Kampf gegen die »Konter­re­vo­lu­tion« dienen. Luxemburg beharre dagegen darauf, dass Sozia­lismus nur auf einer demo­kra­ti­schen Grundlage, unter Mitwir­kung aller, entwi­ckelt werden könne. Andern­falls sei er zum Scheitern verur­teilt.
»'Freiheit ist immer Freiheit der Anders­den­kenden', meint nun genau das: dass sich keine Regierung der Welt, keine poli­ti­sche Bewegung hinstellen und von sich behaupten kann, ein fertiges Konzept bereits in der Tasche zu haben, das sie nun von oben dekre­tieren kann. Sondern die Entwick­lung eines Gemein­we­sens, das nicht herr­schaft­lich orga­ni­siert ist, muss immer mit allen gemeinsam geschehen – und das heißt eben auch, mit denen, die eine andere Meinung haben.«

Wir sollten diese Analyse und die Bemer­kungen Adamczaks ernst nehmen, und in unsere Gegenwart über­setzen.
Sie bedeutet dann: Gewünschte Ansichten, und das »ange­mes­sene Denken« lassen sich nicht gewaltsam erzwingen: »Wenn wir die Bedin­gungen der Demo­kratie verändern, dann muss diese Verän­de­rung selbst demo­kra­tisch sein, sonst wird sie autoritär und konter­ka­riert ihren eigenen Anspruch.«

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In den Frei­beu­ter­schriften von Pierre Paolo Pasolini gibt es einen inter­es­santen Text, der den Titel trägt »Der Faschismus der Anti­fa­schisten«.

Darin erklärt der Regisseur und Autor, wie banale Selbst­ver­s­tänd­lich­keiten des demo­kra­ti­schen Lebens durch das Beharren auf »Reinheit der Prin­zi­pien« ins Gegenteil verkehrt werden.

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Der Meinungs­kor­ridor wird enger, Streit­kultur weniger, sie ist zumindest erkennbar weniger gewollt. Eine von mehreren Gemein­sam­keiten zwischen unseren gesell­schaft­lich-kultu­rellen Diskursen über den jetzigen Ukraine-Krieg und andere Themen der vergan­genen zwei Jahre ist jene, dass die Gesell­schaft sich in Lager aufspaltet oder aufspalten lässt: Für und Wider. Da geht es wenig um Fakten und sehr viel und Bekennt­nisse. Jeder weiß, nicht erst seit dem berühmten Spruch, dass im Krieg als erstes die Wahrheit stirbt, dass etwa 50 Prozent aller Nach­richten über einen Krieg sich als falsch erweisen. Das sind Ergeb­nisse von Medien- und Politik-Forschern. Trotzdem glauben wir fast alles, was wir hören und lesen, und nahezu alles, was wir sehen. Obwohl allein schon ein Blick auf die verschie­denen Karten der verschie­denen Fern­seh­sender und erst recht jener, die zum Beispiel bei den Vertei­di­gungs­mi­nis­te­rien der EU-Staaten veröf­fent­licht werden, klar­ma­chen, dass ein großer Teil von ihnen nicht stimmen kann, wenn ein anderer großer Teil von ihnen stimmt. Oder eben umgekehrt. Auch wenn es einem nicht gefallen kann, so trifft es doch zu, dass auch die berich­teten Fakten oft relativ sind – wohl­ge­merkt: die berich­teten, nicht die tatsäch­li­chen. Für Werte, Ziele, Hoff­nungen und andere Ansichten gilt das erst recht.

Daraus kann nur folgen, dass wir uns dem Bekennt­nis­zwang entziehen, sowohl dem, der auf uns ausgeübt wird – wir müssen nicht zu allem eine Meinung haben und wir müssen nicht öffent­lich zu bestimmten Werten oder poli­ti­schen Hand­lungen oder Nationen »stehen«. Wir können auch einfach mal schweigen, oder uns mit starken Worten zumindest zurück­halten. Hier ist weniger mehr.

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Klar: Das offen­kun­dige Gegen­ar­gu­ment hier lautet, dass der Autor dieser Sätze selber nicht schweigt.
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Sich dem Bekennt­nis­zwang zu entziehen, heißt daher viel­leicht noch viel mehr, nicht auf andere Menschen solche Bekennt­nis­zwänge auszuüben. Und ihnen überhaupt nicht vorzu­schreiben, was sie zu sagen haben, was sie sagen dürfen und vor allem was sie auf keinen Fall sagen dürfen.

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Wenn es über jemanden – zum Beispiel einen Künstler, einen Denker oder einen Politiker – bei uns heißt, er sei »umstritten«, dann ist dies oft die Vorstufe dazu, ihn oder seine Kunst oder beides zu canceln.

Jetzt wird Deniz Yücel »umstritten« genannt. War er vor Jahren noch, als es gegen die Türken und Erdogan ging, Frei­heits­kämpfer und Heros der Meinungs­frei­heit, die bei uns bitte­schön, richtig frei ist, ist er nun unter Beschuss. Nicht wegen seiner oben zitierten Kritik am Verbot von »Russia Today«, das jeder Kundige, wenn es denn sein muss, eh durch VPN umgehen könnte, sondern weil er öffent­lich gefordert hatte, eine Flug­ver­bots­zone über der Ukraine einzu­richten. Ich persön­lich finde das falsch und sogar ein bisschen gefähr­lich, aber es ist albern, noch viel falscher und noch viel gefähr­li­cher, dass jetzt mehrere frühere PEN-Präsi­denten Yücel wegen dieser Ansichten zum Rücktritt aufge­for­dert haben. »Zurück­treten ist nicht« macht Yücel klar.

Und vertei­digt seine Rede- und Meinungs­frei­heit: »Ich bin kein Pres­se­spre­cher, ich bin Präsident und Autor. Sofern ich nicht ausdrück­lich auf etwas Bezug nehme, worauf wir uns in den Gremien geeinigt haben, spreche ich nur in der Ich-Form. Generell finde ich die Vorstel­lung merk­würdig, dass ein PEN-Präsident für alle Mitglieder sprechen soll, kann oder muss. Der PEN kann nur als Verein von Autoren und Schrift­stel­lern, also Indi­vi­dua­listen, exis­tieren.« Konflikte innerhalb des PEN gehörten zu einer solchen Insti­tu­tion, so Yücel: »Schließ­lich ist die Vereins­ge­schichte voller Strei­te­reien und Zerwürf­nisse. Das war immer alles hoch­po­li­tisch, aber es galt immer auch der schöne Satz von Tucholsky: 'Stuben­reine Dackel züchten kann jeder, die Seele des Vereins ist der Knatsch.'«

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Nichts ist falsch. Drücken. Aufwachen!

(to be continued)