05.08.2021
ABSTAND/ZOOM

K_KIPPE

Mainstream
Jetzt steht fast schon dieser Text auf der Kippe. Gia Coppolas Mainstream
(Foto: Filmfest München)

Was passiert eigentlich, wenn in Filmen nichts auf der Kippe steht? Wenn alles safe ist, kein Schwanken nah und fern, das Ziel klar und der Weg geräumig und ausgebaut?

Von Nora Moschuering

Rauchen würde mir ausneh­mend gut stehen, da bin ich mir sicher. Erst mal natürlich die Hand­hal­tung, das lässig abkni­ckende Hand­ge­lenk, dann das Daran­ziehen, das leise Knacken des bren­nenden Tabaks, das Nebenbei des Ausatmens. Die Lässig­keit unbe­wusster Gesten, ein Blick durch den Rauch in die Welt und dann: das Abaschen. Der ganze Vorgang eine kurze Pause in unserer andau­ernden Bewegung. Viele meinen, dass so eine Art Pause auch durch die Pandemie entstanden ist, aber es fühlt sich einfach überhaupt nicht nach einer langen, coolen Ziga­ret­ten­pause an. Im Gegenteil. Trotz dem eben Beschrie­benen habe ich noch nie geraucht, weil es sehr ungesund ist und überhaupt: stinkt und schwarz und teerig ist, und Haut, Nägel und Haare gelblich davon werden und porig. Von der Lunge gar nicht zu reden. Aber ich habe eine Zeit lang viel gedreht. Ziga­retten. Für andere. Es beruhigt mich. Es passiert konzen­triert und sorg­fältig und trotzdem kann man das, was um einen herum passiert, wahr­nehmen. Ich mag Menschen, die einem dabei in die Augen sehen können. Eigent­lich ein schöner Film­mo­ment, leider fällt mir kein Film ein, in dem er vorkommt. Rauch an sich dagegen spielt immer wieder eine Rolle, Rauch ist wie ein bewegter und unkon­trol­lierter Mitspieler. Über eine Person kann durch ihr Rauchen viel erzählt werden: Es kann Genuss bedeuten oder Stress. Kippen dagegen sind wenig filmisch.

Ich erinnere mich an das Kino »Smoky & Movie« in Ottobrunn (das gibt es noch immer), im Smoky konnte man rauchen und im hinteren Bereich gab es auch eine Bar. Das fand ich alles ziemlich faszi­nie­rend als junges Mädchen, das hier ihren ersten Kinofilm sah. Wir waren da aber nur ein einziges Mal, dann sind meine Eltern – beide Nicht­rau­cher – nicht mehr ins Smoky gegangen. Das machte es für mich eine Zeit lang fast ein bisschen mythisch, bis ich dann als Jugend­liche wieder drinnen war, das war dann weniger geheim­nis­voll, dass alle Nase lang jemand aufstand, um sich ein Bier von der Bar zu holen, eine Zigarette nach der anderen ange­zündet wurde und sich das Licht des Projek­tors im Rauch verfing. Starkes Husten.

Dabei kann man den Rauch auch nutzen, im Expanded Cinema wurde auf Rauch (nun gut, viel­leicht auch auf dichtem Dampf) proji­ziert. In den 60er und 70er-Jahren schwappte so der Film in den Raum bzw. ließ sich anfassen. Bilder­hau­erInnen arbei­teten auf diese plas­ti­sche Art mit Film, was Sinn macht, da beides sich mit Körper­lich­keit und Räum­lich­keit beschäf­tigt. (3D-Filme machen das gewis­ser­maßen auch, aber eben auf der zwei­di­men­sio­nalen Leinwand). Auf der anderen Seite gab es Filme­ma­cherInnen, die sich mit den skulp­tu­ralen Dimen­sionen des Filmes beschäf­tigten. Ein Klassiker ist Anthony McCall’s »Line Descri­bing a Cone« von 1973. Zuerst sieht man den Film als weißen Punkt auf einer schwarzen Ober­fläche. Dieser Punkt wächst zu einer Linie, die sich zu einem Kreis schließt. Während­dessen sieht man zwischen der Wand und dem Projektor die Licht­pro­jek­tion als einen immer weiter wach­senden Kegel, den man sieht, weil das Licht auf Partikel, sagen wir einfach mal Rauch, trifft. Im Raum kann man dann seine Blicke, aber auch seinen Körper bewegen und in den Kegel einsteigen.

Apropos Körper im Licht: Vor dem Rauch­verbot trafen Lichter im Club auf Körper und Rauch, und Kippen manchmal auch auf Menschen, die das gar nicht wollten. Es kam vor, dass man Bier­fla­schen abstellt, aus denen man dann wieder trank und sich an einer Kippe verschluckte. Danach stand der Abend schon auch auf der Kippe.

Legerer Übergang zum Film: Sandra Wollners The Trouble with Being Born steht immer auf der Kippe. Der Film punktiert einen mit Andeu­tungen, die leicht schmerzen, und findet dafür Bilder, die so zart und schön wie grenz­wertig sind. Eine große Kunst.

Der Film beginnt mit der flüs­ternden Stimme eines jungen Mädchens. Sie flüstert scheinbar Erin­ne­rungen und dabei gleitet die Kamera und unser Blick mit ihr schwe­relos durch das Grün eines Waldes und daraus hervor. Da sehen wir einen Mann auf einer Liege an einem kleinen Pool. Man hat das Gefühl, aus den Augen des Mädchens zu sehen, sich auf ihn zuzu­be­wegen, aber dann taucht ein Mädchen von links auf, während wir direkt auf beide zugehen und das Flüstern aufhört. Es ist nicht so einfach, mit nichts: der Perspek­tive, der Erin­ne­rung oder der Verortung eines Bewusst­seins. Allein die Konstel­la­tion: ein mittel­alter, viel­leicht auch etwas älterer Mann alleine mit einem 10-jährigen Mädchen, das meistens wenig anhat. Sein Gesicht ist ähnlich unbewegt wie ihres. Beide wohnen über den Sommer in einer kühlen Haus­ar­chi­tektur, so elegant wie unper­sön­lich, so futu­ris­tisch wie aus den spießigen Fünf­zi­gern. Wie in jedem Film, in dem künst­liche Menschen eine Rolle spielen, geht es natürlich vor allen Dingen um uns, die »unechten« Körper sind Dummies, an denen wir uns selbst philo­so­phi­sche Seins-Fragen stellen können. The Trouble with Being Born ist dabei unver­gleich­lich besser als Ich bin Dein Mensch von Maria Schrader, in dem es, in einer hipste­rigen Berliner Wohl­fühl­at­mo­sphäre, zwar auch darum geht, was Liebe ist, aber auf jeden Fall mit erklärtem Ziel: Dass es für diese/ jede Frau unbedingt nötig ist, einen Mann zu haben. The Trouble with Being Born ist klüger, komplexer und unein­deu­tiger und hat damit auch wirklich alles, was »Main­stream«, über den ich zum Schluss schreibe, nicht hat: Tiefgang, Lücken, Zeit für Gedanken und eine Stimmung, die man wirklich nur in einem Film erzeugen kann und das, ohne dabei von der Realität losgelöst zu sein.

In Filmen, in denen künst­liche Menschen vorkommen, steht ja vor allem auch immer einer auf der Kippe: Der Mensch. Aber »das auf der Kippe stehen« ist ja nicht nur eine Gefahr, es kann auch eine Möglich­keit sein, das möchte ich in einer »Late Night Film Lecture« auf den Münchner Film­kunst­wo­chen am 12.08.21 zeigen (Follow the cyborg ... eine Welt ohne Gender?).

Der erste Film, den ich wieder im Kino gesehen habe, pünktlich zum 01.07., war Nomadland von Chloé Zhao. Fern, eine 60-jährige Witwe, wird nach dem Verlust ihres Mannes und des Arbeits­platzes zu einer Nomadin und zieht ziellos in ihrem Van im Westen der USA herum. Ferns Leben steht auf der Kippe, sie ist auf der Suche nach einer Richtung, die sie in Zukunft einschlagen kann. Diesen Kipppunkt kann man natürlich auch auf ein ganzes Land ummünzen. Fern schafft es schließ­lich, den Kreis zu schließen oder besser: Etwas abzu­schließen, um weiter­zu­gehen, weiter unterwegs zu sein, denn auch in der Bewegung kann das Ziel liegen. Auch für einige, die sie unterwegs trifft, ist es eine freie Entschei­dung, für andere eine Notwen­dig­keit (z.B. aus ökono­mi­scher Not). Diese Menschen – im für uns schein­baren Dazwi­schen – schaffen es, dass der Film sich so warm anfühlt, mensch­lich. Das macht ihn irgendwie versöhn­lich, dabei werden in den USA Menschen in armen Verhält­nissen in Trailern geboren und sterben dort, in Downtown L.A. in Skid Row, aber auch woanders leben Menschen in Zelt­s­tädten auf den Straßen.

Ich habe das selber viel­leicht erst 2010 bei Winter’s Bone von Debra Granik so richtig verstanden, dass da irgend­etwas auf der Kippe steht in den USA oder dass das Bild des Lebens dort, das durch Hollywood-Filme verbreitet wird, nur für eine Handvoll Menschen gilt, wenn überhaupt. Dann habe ich weitere Filme von Vertre­terInnen des US-Inde­pen­dent-Kinos gesehen, wie die von Kelly Reichardt, z.B. Wendy and Lucy (2008). Darin fährt Wendy mit ihrer Hündin Lucy nach Alaska, sie ist auf der Suche nach einem Job. Ihr Auto gibt irgend­wann den Geist auf, und die beiden werden obdachlos. Natürlich begegnen sie dabei netten Menschen, die ihr helfen, aber eben auch weniger netten. Wendy versucht dabei immer, ihre Würde zu behalten, aber auch Lucy, ihre einzige Freundin.

Auch in Jake Mahaffys War (2004) oder Wellness (2008) leben Menschen zumindest teilweise in ihren Autos. In War fährt ein Vertreter mit seinem Auto herum und raucht. »On the Road« und »auf der Kippe« sind sich oft sehr ähnlich. Alle Personen in War suchen verzwei­felt nach einem Auskommen im verlas­senen Hinter­land, den länd­li­chen Regionen der USA. Der Vertreter aus War (Jeff Clark) wird bei Wellness (2008) zum Haupt­cha­rakter als unterste, aber viel­leicht willigste Stufe des Kapi­ta­lismus, der sich 24/7 für ein Produkt einsetzt. Ein Vertreter mit einer Vision für seine Karriere oder einer Art Ignoranz für die Realität – oder er ist einfach nur verzwei­felt. Er ist ein nicht fest ange­stellter Frei­be­rufler, der versucht, sein Invest­ment wieder rein­zu­holen, und sich mit attrak­tiven Berufs­be­zeich­nungen ablenken lässt, aber eigent­lich ein korruptes Schnee­ball­system befördert (»Wellness« ist das Produkt, und das Schnee­ball­system die einzige Strategie). Auf der anderen Seite sägt er leere Hornis­sen­nester von kargen Bäumen, kauft sich vom letzten Geld Rubbel­lose und man hofft, dass da eine Frau an der anderen Seite der Leitung ist, die er täglich anruft (sicher ist man sich nicht). Irgendwie erscheint er gutmütig und naiv, mit seiner Brille, seiner Frisur, den lächer­li­chen Status­sym­bolen, wie den dicken Ringen an den Fingern oder den Zigarren, die er als Bonus erhält (und die der andere sicher auch mal als »Bonus« erhalten hat). Aus solchen Zigarren werden sehr große Kippen.

Was passiert eigent­lich, wenn in Filmen nichts auf der Kippe steht? Wenn alles safe ist, kein Schwanken nah und fern, das Ziel klar und der Weg geräumig und ausgebaut?

Bei dem zweiten, und auch schon letzten Film auf dem Filmfest, den ich gesehen habe: Main­stream, spielt Arthur Garfield (aka Spiderman), den ich gar nicht kannte, weil ich mich zwar für Roboter, aber relativ wenig für Super­hel­dInnen inter­es­siere, einen Influencer. Influen­cerInnen sind ein bisschen so wie Vertre­terInnen: Perso­ni­fi­zie­rungen des ameri­ka­ni­schen Traums: Wenn du nur willst, fleißig, aber auch skru­pellos genug bist, kannst du reich und berühmt werden. Influen­cerInnen sind nur noch ein wenig indi­vi­dua­lis­ti­scher getrimmt, weil das einzige Produkt, das sie anzu­bieten haben, meist sie selbst sind: Sei irgendwie etwas, das authen­tisch erscheint, und sei laut, denn du bist nicht der einzige Vertreter, der an der Tür klingelt, sondern einer von Millionen.

Main­stream ist sehr voraus­sehbar und funk­tio­niert wahr­schein­lich auch nur für Menschen in Garfields Alter oder dem von Gia Coppola (wie der Opa so die Enkelin), also die, die Mitte dreißig sind und sich distan­ziert mit dem Netz ausein­an­der­setzen, die irgendwie befremdet, aber auch faszi­niert davon sind. Es wirkt dann auch etwas altbacken, aber das soll wohl auch so sein. Das Altba­ckenste ist aller­dings das Happy End: Während Link (Garfield) immer mehr durch­dreht, kehrt sich seine Freundin Frankie (Maya Hawke) von ihm ab, um sich dem Dritten im Bunde Jake (Nat Wolff) zuzu­wenden. Jake ist ein freund­li­cher schrei­bender Zauberer, moralisch unan­tastbar und darauf wartend, dass die Frau endlich zur Vernunft kommt und bemerkt, dass der coole Typ der Klasse eben kein Bezie­hungs­ma­te­rial ist. Puh. Teenie-Schmon­zette, aber insgesamt auch ganz lustig: einer­seits steht da Garfield immerzu auf der Kippe, mit einer wahr­schein­lich narziss­ti­schen Erkran­kung, der die Liebe & Aufmerk­sam­keit aller Menschen braucht und dem das Netz einen perfekten Platz dafür bietet, ande­rer­seits reizt der Film natürlich auch das aus, was man als Aufmerk­sam­keitsö­ko­nomie kennt und aus einer perma­nenten Stei­ge­rung und Hyper­ak­ti­vie­rung besteht: eine Blase, die irgend­wann implo­diert. Da steht etwas auf der Kippe, und Link weiß das und reizt es aus. Frankie gibt dazu zwar kurz den Impuls, wird dann aber einfach mitge­zogen. Also Link performt und Jake schreibt – die Aktion der Frau ist die Entschei­dung zwischen den beiden Männern, und sie entscheidet sich für den Netten. Merkt ihr’s? Aber das ist ein anderes Thema, jetzt steht ja schon fast dieser Text auf der Kippe.