Cinema Moralia – Folge 261
Das gute Gefühl, sich schlecht zu fühlen... |
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Zu viel Provokation für die EU-Funktionäre? Julia Ducournaus Titane | ||
(Foto: Koch Films) |
Der europäische Filmpreis wird von einer Akademie verliehen, die 4000 Mitglieder umfasst. Es sind alles Filmschaffende aus ganz Europa. Das heißt, wenn man dies mal auf alle europäischen Länder verteilt, bedeutet es, dass in jedem einzelnen Land vielleicht ein paar hundert, in kleineren Ländern wahrscheinlich auch weniger als hundert Mitglieder über die vielen Preise entscheiden – es handelt sich also um eine durchaus exklusive, man könnte auch sagen privilegierte und elitäre Angelegenheit.
Andererseits ist es dann auch wieder nicht so elitär, denn die Masse der Abstimmenden zeigt im Ergebnis, dass das Ganze oft dümmer ist und weniger als die Summe der einzelnen Teile, und dass ein Schwarm nicht immer Schwarmintelligenz bedeutet, sondern auch Schwarmdummheit sein kann – insbesondere wenn es um Kulturfragen und um Abstimmungen über Kunstwerke geht.
Der Europäische Filmpreis wird in sehr vielen Kategorien verliehen; der Oscar ist das Vorbild und früher vor vielen Jahren hieß der europäische Filmpreis mal »Felix«. So heißt er schon lange nicht mehr.
Das heißt, man hat hier ganz offen versucht, den Oscar nachzuahmen. Böse Zungen würden auch sagen: nachzuäffen.
Ich glaube, dass die Verleihung am Wochenende aber recht gut gezeigt hat – und zwar sowohl von den Filmtiteln her, die dort gewonnen haben, als auch in der
Art, wie das Ganze präsentiert und verliehen wurde –, dass man vom Oscar sehr weit entfernt ist, und dass man dem Europäischen Filmpreis wirklich wünschen würde, dass er ein bisschen näher am Oscar dran wäre. Vom Oscar kann man lernen, wie man es macht; der europäische Filmpreis hat es nicht gelernt.
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Es ist zunächst einmal ganz interessant zu schauen, wer hier in diesem Fall gewonnen und nicht gewonnen hat, und was mit diesen besagten Filmen ansonsten passiert ist.
Es gab am Wochenende einen ganz großen Siegerfilm. Das ist der Film von Jasmila Zbanic: Quo vadis, Aida?. Der wurde als bester Film ausgezeichnet, er hat außerdem den Preis für die »Beste Regie« bekommen und den Preis »Beste Schauspielerin«.
Wir müssen hier nicht drum herumreden, denn es kann dazu jeder auf artechock meine Kritik nachlesen: Ich bin überhaupt kein Fan
dieses Films. Dies ist ein propagandistischer Film, der von seiner ganzen Art her erzählt ist wie ein schlechter Hollywood-Western aus den 50er Jahren. Mit guten weißen Siedlern und bösen augenrollenden Indianern, die diese weißen Siedler massakrieren wollen. In diesem Fall sind es halt Bosnier und Serben. Bosnier sind die braven Siedler, die Serben sind die bösen primitiven Indianer.
Es gibt keinen einzigen guten Serben in diesem Film, und es gibt keinen einzigen schlechten Bosnier.
Die Bosnier wollen alle nur Frieden, die Serben wollen alle nur Krieg und Mord. Das ist dann doch ein sehr primitives Bild des Jugoslawien-Konflikts, das die klügeren Kommentatoren des jugoslawischen Bürgerkriegs schon vor 30 Jahren nicht hatten. Und das man ganz bestimmt heute nicht mehr haben kann. Dafür genügt ein kurzer Blick in die Geschichtsbücher, um zu wissen, dass es in Wirklichkeit ein bisschen komplizierter ist und man diese Geschichte nicht als Schwarz-Weiß-Geschichte
erzählen darf – aus ästhetischen Gründen ebenso wie aus politischen und moralischen.
Dies ist dagegen ein höchst parteiischer Film. Einen solchen Film zu machen, bleibt natürlich auch der Regisseurin Jasmila Zbanic völlig unbenommen. Ich finde nur nicht, dass man ihn auch noch prämieren müsste.
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Interessant ist überdies, dass dieser Film im Unterschied zu allen anderen Filmen, die nominiert waren, ziemlich alt ist.
Dieser Film lief bereits im Jahr 2020 in Venedig beim Festival im Wettbewerb, während fast alle anderen Filme erst im Jahr 2021 ihre Weltpremiere hatten. Das ist aber offenbar möglich, anhand der Regularien des europäischen Filmpreises, die haben dann etwas mit dem entsprechenden Film-Starttermin zu tun. Das gibt uns aber die Möglichkeit zu einem
interessanten Vergleich. Denn Quo vadis, Aida? hat bei den Filmfestspielen in Venedig 2020 keinen einzigen Preis bekommen.
Ganz im Unterschied umgekehrt zu dem Film Titane, der die Goldene Palme in Cannes gewonnen hat in diesem Sommer, und jetzt beim Europäischen Filmpreis
zwar viermal nominiert war, aber nur einen einzigen Preis (ausgerechnet »Bestes Maskenbild«) bekommen hat.
Ähnlich auch Die Hand Gottes von Paolo Sorrentino. Wer meine Kritik gelesen hat, der weiß: Ich bin auch kein Fan dieses Films. Ich finde ihn sehr schwierig und Paolo Sorrentino einen schwierigen Regisseur. Aber es ist fraglos ein viel besserer und interessanterer Film als Quo
vadis, Aida? Und es ist fraglos ein Film, der viel, viel stärker filmisch und ästhetisch sein Thema in Szene setzt. Sorrentino hat einen ganz anderen Begriff und eine ganz andere Vorstellung von Kino, die weitaus größer und ästhetisch differenzierter ist und weitaus künstlerischer orientiert als etwa der Kinobegriff von Jasmila Zbanic.
Sorrentinos Film lief in diesem Sommer in Venedig und hat dort einen der wichtigsten Preise im Wettbewerb bekommen. Beim Europäischen
Filmpreis aber noch nicht einmal einen Trostpreis.
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So zeigt sich hier einmal mehr das Problem dieser Massen-Abstimmungen, wie wir sie auch vom Deutschen Filmpreis her kennen: Wenn viele Menschen anonym abstimmen, dann kommt in der Regel der kleinste gemeinsame Nenner heraus; dann gibt es überhaupt keine Differenzierung mehr; dann gehen alle Preise an den gleichen Film. Wie in diesem Sprichwort: »Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.«
Das konnte man hier beobachten: Quo vadis, Aida? war in vier Kategorien nominiert und hat drei gewonnen. Ähnlich auch der Film The Father, in dem Anthony Hopkins einen Demenzkranken spielt und ähnlich auch der beste Dokumentarfilm/ Animationsfilm/ Studentenfilm Flee von Jonas Poher Rasmussen (3. Preis).
Alle anderen Filme sind komplett leer ausgegangen.
Das heißt: Wir erleben einen Konstruktionsfehler der Filmakademien. Ein Konstruktionsfehler, der sich – warum auch immer! – nur bei den Oscar-Verleihungen nicht so auswirkt, dass dann ein oder zwei Filme durchmarschieren und alle Preise kriegen und alle anderen Filme keinen einzigen.
Dazu kommt das Problem, dass immer jene Filme dann keinen einzigen Preis oder nur ganz wenige kriegen, die in irgendeiner Weise ein bisschen extremer sind, ein bisschen differenzierter oder ein bisschen komplizierter, die bekommen nichts.
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Ein weiterer Konstruktionsfehler dieser europäischen Filmakademie ist diese absolute Humorlosigkeit! Dieser Bierernst, dieses lackierte Pathos sowohl in der Verleihungsveranstaltung wie in den Filmen selber.
Wenn wir einmal nachschauen, was die Themen und die Probleme in den entsprechenden Filmen sind, dann sehen wir: Es geht um Trauma; es geht um Folter; es geht um Genozid; es geht um #MeToo; es geht um Flüchtlingsgeschichten...
Das sind alles politisch wichtige Themen. Auch Themen, die man in Filmen politisch bearbeiten sollte, und zu denen man sich politisch differenzierte Meinungen und Erzählungen auch im Kino wünscht – selbstverständlich!
Allerdings ist es zum einen so, dass es den konkret ausgezeichneten Filmen aus meiner Sicht komplett an solcher Differenzierung fehlt.
Vor allem aber sind diese Filme und diese Preise aus meiner Sicht überhaupt nicht in irgendeiner Weise repräsentativ für das europäische Kino – Gott sei Dank, muss man sagen.
Aber wenn der europäische Filmpreis auch eine Werbeveranstaltung sein soll für das europäische Kino und seine Vielfalt, wenn er Lust machen soll, ins Kino zu gehen, dann geht das alles natürlich total in die falsche Richtung.
Wenn das europäische Kino nur aus solchen Filmen bestünde, dann wird es nach der Pandemie nicht wiederkommen. Und dann vermisse ich es auch nicht. Dann möchte ich doch lieber Filme aus Asien sehen, aus Lateinamerika und aus den USA. Die sind dann doch ein
bisschen anders und viel interessanter.
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Was wir hier erleben, ist, dass Filme auf ihren politisch-feuilletonistischen Gehalt reduziert werden. Filme werden zu »Message-Filmen«. Filme sollen irgendetwas illustrieren, was von bestimmten Meinungsmachern und politisch-kulturellen Entscheidern für politisch wichtig gehalten wird, aber gleichzeitig nicht wirklich verletzt und es gleichzeitig den Menschen, die diesen Film sehen, nicht wirklich schwermacht. Stattdessen werden die Themen, die hier bearbeitet werden – wobei wie gesagt Kino viel mehr ist als die Bearbeitung von Themen – mundgerecht und konsumierbar zubereitet. Sie werden verniedlicht und melodramatisiert.
Was wir dagegen überhaupt nicht erleben, in keinem einzigen der Filme, von denen hier die Rede ist, dass es den Filmen erlaubt ist, zu differenzieren, uneindeutig zu sein, dass es den Filmen erlaubt ist, es ihrem Publikum schwerzumachen, und diesem Publikum uneindeutige Figuren zu bieten, mit denen man sich eben nicht so leicht identifizieren kann oder die man vielleicht sogar verabscheuen kann. Dass es den Filmen überhaupt nicht erlaubt ist, zu irritieren, unangenehm zu werden und das Publikum selbst in Frage zu stellen.
Mir scheint, dass ein Film da erst wirklich politisch wird, wo er jede Zuschauerin und jeden Zuschauer persönlich angeht. Wo er sie im doppelten Sinn angeht, also nicht nur mich betrifft und mich interessiert, sondern wo er auf mich zielt!
Wo er mir persönlich klarmacht, dass ich vielleicht selber falschliege; dass ich vielleicht selber und bei mir etwas ändern muss; dass ich meine Haltung überprüfen muss. Es geht gar nicht darum, dass Filme in so einem cheesy Sinne aktivistisch
sind, sodass man gleich nach dem Kinobesuch raus auf die Straße gehen will und für irgendetwas zu demonstrieren beginnt. Oder in eine Partei eintritt – gar nicht! Es geht vielmehr darum, dass Filme meiner Meinung nach dann gut sind, wo sie uns in einen Zustand versetzen, wo wir Fragen stellen. Wo wir selber nicht so genau wissen, was wir von ihnen zu halten haben.
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Ganz anders Quo vadis, Aida?. Dieser Film funktioniert eigentlich wie ein Ablassbrief. Man geht in diesen Film hinein, und hat dann das gute Gefühl, sich schlecht zu fühlen. Das gute Gefühl, sich mit den Problemen der Welt in irgendeiner Form beschäftigt zu haben und etwas Gutes getan zu haben. Man guckt sich ja diesen Film an und damit ist ja klar, dass man gegen
Völkermord ist, und für die lieben Bosnier.
Das greift natürlich viel zu kurz. Es lässt überhaupt kein Verständnis dafür aufkommen, dass das wahrhaft Politische und die wahrhaft politische Einsicht vielleicht da erst vorkommt, wo wir merken, dass wir alle mitbeteiligt sind. Dass wir alle schuldig sind. Dass nicht das Böse irgendwo »da draußen« ist, sondern in uns. Dass es auch überall immer nur Grautöne gibt, nie hier nur das Gute und dort nur das Böse. Sondern dass die Dinge derart
kompliziert sind, dass wir uns gar nicht auf eine bestimmte Seite schlagen können, selbst wenn wir es wollten.
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Gute politische Filme machen es uns nicht leicht, sondern sie machen es uns schwer.
In diesem Sinn ist Quo vadis, Aida? ein Propagandafilm. Ein Film, der es sich viel zu leicht macht, der uns sagt was wir tun und denken und wo wir politisch stehen sollen, und jeder, der irgendetwas anderes denkt, der ist sowieso schon per se böse und falsch gewickelt.
In diesem Sinne ist auch das Bild, das bei diesem Europäischen Filmpreis vom europäischen Kino gezeichnet wird, ein extrem trauriges Bild. Denn es geht in der Kunst nicht darum, nett zu sein. Es geht auch nicht darum, den richtigen Standpunkt zu haben – schon gar nicht wenn der politische Standpunkt so allgemein ist. Dass man für Menschenrechte ist, und gegen Folter. Ja klar!
Aber darum geht es nicht in der Kunst. Es kommt in der Kunst darauf an, uns alle (!!) herauszufordern; die Bequemlichkeiten in Frage zu stellen. Auch darum, diesen oberflächlichen Humanismus in Frage zu stellen, in dem wir alle es uns allzu gern bequem machen. Der uns allen also schnell erlaubt, die wahren Probleme zu ignorieren.
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So muss man dann natürlich auch fragen: Was ist denn das Bild von Europa, das hier beim Europäischen Filmpreis gezeichnet wird?
Man muss hier sehr klar sagen, dass der europäische Filmpreis zurzeit fast schon so wirkt, wie das »Whitewashing« von irgendeinem Unternehmen.
Das heißt: es wirkt wie ein Ornament. Es wirkt allzu cheesy, wie immerzu in den gleichen Floskeln wiederholt wird, wie schön und wie toll es ist, dass wir alle in Europa zusammenleben, und dass überall die Grenzen auf sind und so weiter und so fort – ich finde das auch! Ich finde das vereinte Europa großartig!! Ich finde es schön, dass
es keine geschlossenen Grenzen mehr gibt, und keine Zölle. Und ich wünsche mir einen europäischen Bundesstaat, und nicht nur einen Staatenbund, wie wir ihn im Augenblick haben.
Um das sehr deutlich zu sagen, bevor ich jetzt diese Reduzierung des Europagedankens auf ein Ornament kritisiere.
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Der europäische Filmpreis würde, wenn er sich selber ernstnehmen würde, nicht so funktionieren wie die Ausstellung eines Automobil- oder Chemiekonzerns, oder einer Bank oder einer Waffenfirma, die sehr sehr gerne tolle teure Ausstellungen finanzieren und wichtige Künstler unterstützen. Sondern er würde so funktionieren, dass er die Probleme der Europäischen Union und die Probleme der realen Praxis der europäischen Vereinigung in irgendeiner Form aufgreift und zum Thema macht.
Am besten auch auf eine witzige und interessante und originelle Art, auf eine ästhetische Art, und nicht nur schlagworthaft politisch, indem man einen Leitartikel-Film dazu produziert.
Er würde nicht so funktionieren, dass man über alle echten Probleme hinwegsurft.
Wie zum Beispiel Mitgliedsstaaten wie Polen oder Ungarn, die massive Probleme mit der Meinungsfreiheit haben. Die zum Teil gar nicht interessiert sind an einem Europa der Vielfalt.
Man müsste hier viel
deutlicher – nicht nur in Wohlfühlstatements bei irgendeiner Preisverleihung – diese Probleme mindestens einmal benennen.
Zu diesen Problemen gehört natürlich auch, dass ein Teil der Gesellschaften, ein Teil der Völker, ein Teil der Europäer gar nicht an diesen offenen Grenzen interessiert sind. Jedenfalls nicht an den Folgen der offenen Grenzen, wenn es zum Beispiel um Flüchtlinge geht oder wenn es um gefährdete Jobs geht. Die dieses Europa als Selbstbedienungsladen ansehen.
Macht man für sie auch Filme?
So wie es jetzt ist, nämlich von einer neoliberalen Grundhaltung bestimmt, ist dieses Europa nicht in der Lage, in irgendeiner Form irgendwelchen schlechten Entwicklungen Einhalt zu gebieten und mit einer gemeinsamen politischen Stimme zu sprechen. Stattdessen ist dieses Europa auch mit Schuld daran, dass wir diese rechtspopulistischen Entwicklungen in vielen Ländern haben, dass wir separatistische Tendenzen haben, Loslösungs-Tendenzen wie den Brexit.
Auf diese massiven Bedrohungen und die offenen Fragen in Europa eine Antwort zu finden, alles das wäre das natürliche Thema einer europäischen Filmakademie, die sich dafür interessieren würde.
Das kann man meiner Ansicht nach überhaupt nicht einlösen, wenn man solche Filme macht wie Quo vadis, Aida?.
Filme wie Titane oder Die Hand Gottes deuten ein Europa an, das differenziert ist, das offen ist, brüchig, fragmentiert, das überhaupt nicht am Ende ist.
Das Europa-Bild der europäischen Filmakademie wirkt dagegen manchmal wie eine Illustration des Endes der Geschichte: Wir leben in einem »Friede Freude Eierkuchen«-Land, nichts muss sich mehr ändern, nichts könnte besser sein.
Das ist natürlich vollkommen falsch.
(to be continued)