02.03.2020
70. Berlinale 2020

Kalter Winter, warme Herzen

Tsai Ming-liangs »Days«
Unprämiert wie nahezu sämtliche wirklich künstlerisch radikale Beiträge: Tsai Ming-liangs »Days«
(Foto: © Homegreen Films, Berlinale Presseservice)

Welcome Mr. Kosslick: Ein allzu vorhersehbarer Goldener Bär trübt die gute Bilanz der neuen Berlinale-Leitung – Berlinale-Tagebuch, Folge 2

Von Rüdiger Suchsland

»As long as the roots are not severed, all is well. And all will be well in the garden.«
»In the garden?«
»Yes. In the garden, growth has it seasons. First comes spring and summer, but then we have fall and winter. And then we get spring and summer again.«

Hal Ashby »Welcome Mr. Chance«, 1980

Der Film »There is no Evil« des Iraners Mohammad Rasoulof gewann am Sams­tag­abend bei der 70. Berlinale den Goldenen Bären.
Es war alles andere als eine Über­ra­schung, als Jury­prä­si­dent Jeremy Irons den Sieger verkün­dete. Zu gut passten der aller­letzte Beitrag im Berlinale-Wett­be­werb und der Iraner Mohammad Rasoulof ins Konzept einer typischen Berlinale-Preis­ver­lei­hung und zu einer Jury, die sich ganz offen­sicht­lich nicht auf ästhe­tisch-stilis­ti­sche Kriterien einigen konnte, deren Ansichten zur Filmkunst sich gegen­seitig neutra­li­sierten. Zu weit ausein­ander lagen die anderen Preise, um diesen Eindruck zu verschleiern.

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So blieb eine politisch-mora­li­sche Botschaft der vorher­seh­bare kleinste gemein­same Nenner. Denn filmisch ist der neorea­lis­ti­sche Insze­nie­rungs­stil Mohammad Rasoulofs altbacken und im Vergleich zu manch anderem groß­ar­tigen irani­schen Film besten­falls Durch­schnitts­ware. »Es gibt kein Böses« führt in vier Episoden mora­li­sche Konflikte seiner Haupt­fi­guren vor und stellt diese in Zusam­men­hang mit Fragen der im Iran nach wie vor prak­ti­zierten Todes­strafe.
Vor allem geht es um Männer, alles clever und berech­nend, Betrug und mora­li­sche Konflikte kommen vor, Menschen, die sich weigern, die Todes­strafe zu voll­ziehen, die alle ihrer Ämter beraubt werden und gezwungen sind, ins Exil zu gehen, ein Onkel, der tatsäch­lich der Vater einer Frau ist.
Dies ist ein Film, der Ameri­kaner zur Super­la­tiven provo­ziert, es sind vier Geschichten, sie handeln von verschie­denen Männern und Frauen, der Film fragt: Was würdest du tun? Und fordert uns alle insofern moralisch heraus.
Dies ist eine mindes­tens schlichte, viel­leicht einfach etwas stupide Version von Hannah Arendts These von der »Banalität des Bösen«. Der Titel »There is no evil« bedeutet eigent­lich auf Farsi etwas anderes. Wörtlich übersetzt etwa: »Das Böse hat kein Wesen« oder »Das Böse ist nicht«.
Um zu zeigen, wo er politisch steht, wird im Film mehr als einmal das Lied »Bella Ciao« gespielt.
Ein sehr kalku­lierter Film, sehr berech­nend.

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Womit sich Rasoulof den Preis aber in erster Linie verdient hatte, ist die Tatsache, dass über ihn im Iran zur Zeit ein Ausrei­se­verbot verhängt ist. Die Ursache: Sein letzter Film »A Man of Integrity«, der als regime­kri­tisch einge­schätzt wird. Daher konnte der Regisseur nicht nach Berlin zur Film­pre­miere anreisen – nun hatten die Berlinale-Medien ihre Geschichte und gute Gründe, sich nicht mit Fragen der Filmkunst und der Qualität des Films zu belasten. Dabei ist es eine wichtige Frage, ob film­künst­le­ri­sche Preise nach poli­ti­scher Jahres­zeit und mora­li­scher Gefäl­lig­keit vergeben werden sollten.

Mit Rasoulof hat nun nach Asghar Farhadi (Nader und Simin – Eine Trennung) 2011 und Jafar Panashi (Taxi Teheran) 2015 zum dritten Mal in zehn Jahren ein irani­scher Dissident einen Goldenen Bären gewonnen – auch weil Berlin für iranische Oppo­si­ti­ons­filme offenbar eine perfekte Bühne ist, hatte der Preis am Samstag nur wenige über­rascht.

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Die Berlinale und unsere Produk­ti­ons­be­din­gungen hinter­lassen ihre Spuren, leider auch bei mir. Ein Wirkungs­treffer gewis­ser­maßen war die Ursache für eine allzu forsche, allzu schnelle Formu­lie­rung bezogen auf Mohammad Rasoulofs Verbin­dung zu Hamburg und zur Hamburger Film­för­de­rung. Für diese gestri­chene, miss­ver­s­tänd­liche Passage, die als ausgren­zend wahr­ge­nommen werden konnte, möchte ich mich hiermit auch öffent­lich entschul­digen – das war blöde von mir, und hat überdies den falschen Eindruck erweckt, als wolle ich Mohammad Rasoulof irgendwie aus Hamburg ausbür­gern wollen. Nichts liegt mir ferner. Genau wie Fatih Akin und andere ist Mohammad Rasoulof selbst­ver­s­tänd­lich Hamburger.
Es ist gut dass die Film­för­der­insti­tu­tionen der Bundes­re­pu­blik Filme­ma­cher, die sich – aus welchen Gründen auch immer – in Deutsch­land nieder­lassen, fördern und in das plurale Spektrum des viel­fäl­tigen Medi­en­stand­orts Deutsch­land inte­grieren.
Auf all dies haben mich mehrere Menschen freund­schaft­lich aufmerksam gemacht. Danke dafür!
Eine Text­nach­richt von Albert Wieder­spiel weist überdies auf Folgendes hin: Mohammad Rasoulof wohnt mit seiner Familie seit 2012 in Hamburg. Der gesamte Film ist aus Hamburg heraus produ­ziert. Die gesamte Post­pro­duk­tion hat in Hamburg statt­ge­funden.
Dem ist nichts hinzu­zu­fügen.

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Auch sonst waren es sehr unin­ter­es­sante Preise und überhaupt keine gute Jury – mit ihrer komplett unein­deu­tigen Preis­ver­gabe, die ohne künst­le­ri­sches Statement auskommt, und nur billige Polit-Soli­da­rität kommu­ni­ziert, wirkt alles eher wie ein SPD-Stadt­teil­fest, nicht wie ein Film­fes­tival.
So ein Preis hätte genauso unter Dieter Kosslick vergeben werden können. Eine türkische Kuratorin kommen­tierte am Sams­tag­abend treffend: »Welcome Mr. Kosslick.«

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Die weiteren Preise gingen größ­ten­teils an weniger bekannte Filme­ma­cher, wie die Ameri­ka­nerin Eliza Hittman, während mit Ausnahme des Koreaners Hong Sang-soo (»Beste Regie«) die bekannten Namen im Wett­be­werb wie die Ameri­ka­nerin Kelly Reichardt, der Franzose Philippe Garrel oder der Deutsche Christian Petzold leer ausgingen. Für dessen Film­mär­chen »Undine« wurde Paula Beer immerhin als »Beste Schau­spie­lerin« prämiert – eine vertret­bare Entschei­dung. Beer, die nach »Transit« zum zweiten Mal in Folge eine Petzold-Haupt­rolle spielt, hat offen­sicht­lich Nina Hoss als Muse des Regis­seurs abgelöst. Im Gegensatz zu Hoss, die erst mit ihrem dritten Petzold-Auftritt 2007 für Yella einen Silbernen Bär gewann, gelang das Beer bereits mit der zweiten gemein­samen Arbeit. Petzold will nun, wie er in Berlin erklärte, nach der Wasser­nixe Undine eine Erdgeister-Fabel in seiner eigen­tüm­li­chen Form von Moder­ni­sie­rung und Symbo­lismus erzählen – höchst­wahr­schein­lich wird man Beer dort wieder­sehen.

Unprä­miert blieben am Samstag dagegen nahezu sämtliche wirklich künst­le­risch radikale Beiträge: Ob der bild­starke medi­ta­tive »Days« vom Taiwa­nesen Tsai Ming-liang oder der intensive Doku­men­tar­film »Irra­diated« vom Kambo­dschaner Rithy Panh (der immerhin den Berlinale Doku­men­tar­film­preis erhalten hat), aber auch der zweite deutsche Wett­be­werbs­bei­trag, Burhan Qubadis Döblin-Update »Berlin Alex­an­der­platz« gingen zur Über­ra­schung nicht weniger komplett leer aus.
Die eine Ausnahme war der Silberne Bär »für eine heraus­ra­gende künst­le­ri­sche Leistung«, der an den deutschen Kame­ra­mann Jürgen Jürges ging – und damit an den umstrit­tensten Film des Wett­be­werbs, das russisch-ukrai­ni­sche Kunst­pro­jekt »DAU«.

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Bei »DAU« handelt es sich um ein über zehn­jäh­riges, expe­ri­men­telles Kunst­pro­jekt, das in Filmform doku­men­tiert wird. Zwei von bislang 13 Film-Auskop­pe­lungen aus dem viele hundert Stunden umfas­senden Material wurden in Berlin gezeigt. Wie zu hören ist, sollen während des Jahres weitere »DAU«-Filme gezeigt werden. In dem Projekt stellen Frei­wil­lige unter Anleitung des Regis­seurs Ilya Khrzha­novskiy und seines Teams das Leben unter dem Stali­nismus nach – inklusive Terror und Schau­pro­zessen.
Die Vorfüh­rung von »DAU: Natascha« spaltete auch das profes­sio­nelle Berli­nal­e­pu­blikum. Waren die einen faszi­niert von starken unge­se­henen Bildern und einer einma­ligen Seh-Erfahrung, stellten andere die Legi­ti­mität von »DAU« infrage. Vorwürfe über Arbeits­be­din­gungen und die Darstel­lung des Regis­seurs als »Diktator« im Vorfeld sorgten zusätz­lich dafür, dass manch einer sich weigerte, sich auf die Erfahrung überhaupt einzu­lassen. Das aber wäre gerade die Aufgabe von Film­kritik – nicht Kapi­tu­la­tion unter dem Vorwand mora­li­scher Empfind­lich­keit.

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Der wohl beste Berlinale-Film lief gar nicht im Wett­be­werb, dafür kam er aus Ludwigs­burg: The Trouble with Being Born von Sandra Wollner gewann einen »Special Jury Award« im neuge­grün­deten zweiten Berlinale-Wett­be­werb »Encoun­ters«.

Für das neube­ru­fene Berlinale-Leitungs­team Carlo Chatrian und Mariette Rissen­beek war das erste Jahr in der Nachfolge des Zampano-Direktors Dieter Kosslick kein leichtes. Dazu dann im nächsten Beitrag.

(to be continued)