14.08.2019
72. Locarno Filmfestival 2019

Der Tag der Hunde

Space Dogs
Aus der Perspektive der Hunde erzählt: Space Dogs
(Foto: Real Fiction / Raumzeitfilm)

Katzen, Elefanten und Schildkröten in Space Dogs; Notizen aus Locarno, 3. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Es ist ein Wahn­sinns­mo­ment. Einer von vielen »Wow!«-Momenten in diesem Film. Genau das, was ich mir vom Kino wünsche, was sich jeder, der bei Sinnen ist und nicht ganz abge­stumpft, vom Kino wünschen muss, jeden­falls unter anderem: Nämlich Erfah­rungen und Bilder, die er so noch nie gesehen hat. Unge­se­hene Bilder. Und wie merk­würdig, dass es in diesem Film, der doch vor allem um Hunde kreist, ausge­rechnet das war, was alle später nur »die Katzen­szene« nannten, was vor allem anderen bespro­chen wurde, und mit ein paar anderen Szenen ganz besonders nach­haltig im Gedächtnis bleibt. Der »elephant in the room«, wie es der Moderator des Q&A nannte.

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Aber der Reihe nach. Angekün­digt wurde die öster­rei­chisch-deutsche Kopro­duk­tion Space Dogs von Elsa Kremser und Levin Peter, die beide in Ludwigs­burg studierten und jetzt in Wien leben, wo sie ihre Produk­ti­ons­firma mit dem tref­fenden Namen Raum­zeit­film gründeten, als ein Doku­men­tar­film. Ein Doku­men­tar­film, der irgendwie von Laika handelt, jener welt­berühmten Weltraum-Hündin, die 1957 von den Sowjets als erstes Lebewesen ins Weltall geschossen wurde. Beide Infor­ma­tionen sind nicht richtig falsch, aber, wenn man den Film gesehen hat, auch nicht ganz richtig, und jeden­falls irre­füh­rend. Ich bin nicht sicher, ob ich auf diesen Pitch hin hinein­ge­gangen wäre, würde ich nicht Filme der beiden Regis­seure kennen und wissen, dass es sich lohnt, sich ihre Sachen anzu­schauen. Wegzu­bleiben wäre in diesem Fall ein folgen­schwerer Fehler gewesen.
Denn Space Dogs ist ohne Frage der bisher aufre­gendste Film in Locarno.

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Die Erzählung von Laikas Weltraum­mis­sion und von der Rolle, die Hunde in den Weltraum­pro­grammen der UdSSR spielten, wird verknüpft mit einer genauen Beob­ach­tung des Lebens einiger Straßen­hunde in Moskau. Denn auch Laika und ihre Hunde-Kameraden im UdSSR-Weltraum­pro­gramm waren Moskauer Straßen­hunde.
Aus diesen zwei Säulen entwi­ckeln die Regis­seure eine anthro­po­lo­gi­sche Unter­su­chung und eine in mythische Erzähl­form gegossene Medi­ta­tion über das Verhältnis von Technik und Natur, Mensch und Tier.

Mit dem Wort »Doku­men­tar­film« ist das höchst unzu­rei­chend beschrieben, denn dies ist auch etwas ganz anderes, etwas Neues, mehr als ein Doku­men­tar­film, etwas für das wir – noch – keinen Namen haben.

Man könnte das auch einen Spielfilm mit Hunden als Darstel­lern nennen. Das wäre zuge­spitzt und ebenfalls nicht ganz richtig. Tref­fender schon wäre zu sagen: Dies ist ein Film, der die Perspek­tive von Hunden einnimmt, oder einzu­nehmen versucht, denn ob das gehen kann, ist so eine dieser Fragen... Und der mit dieser Perspek­tive auf die Menschen blickt. Der mitunter eher essay­is­tisch gehalten ist, mit einem Erzähler aus dem Off, der mit sonorer Stimme – es handelt sich um den Russen Alexey Sere­b­ryakov – eine Art mythische Erzäh­le­bene öffnet, und hier aus Laikas Geschichte eine Fabel macht, ein Märchen aus uralten Zeiten, wie sie am Lager­feuer erzählt wurden, wo Tiere sich in Geister verwan­deln können, deren Seele dann in Form von Wieder­gän­gern unter uns wandelt. Diese Fabel verweist auch auf unsere Erzäh­lungen von den Entde­ckern unbe­kannter Welten.

Plötzlich blicken wir Zuschauer mit den Tieren auf die Menschen und lernen eine andere Natur kennen, eine Natur zweiter Ordnung. Denn die Straßen­hunde von Moskau leben ja nicht in »der« Natur, einer reinen natur­be­las­senen Natur, sondern in der mensch­li­chen Zivi­li­sa­tion einer brodelnden und auch vor sich hin rottenden Metropole; sie leben zwischen Autos und Tank­stellen, in Parks, auf Straßen und in den Nischen irgend­wel­cher Beton­bauten – sie sind auf Menschen einge­stellt und zugleich sind sie Natur. Denn sie besorgen sich dort ihr Fressen, sie koexis­tieren mit den Menschen, sie handeln aber gesteuert von archai­schen tieri­schen Instinkten.

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Unbedingt erwäh­nens­wert ist das groß­ar­tige filmische Handwerk. Denn wie macht man es, Hunde zu filmen, und sie dabei in Ruhe zu lassen?
Wer die Bilder gesehen hat, kann es kaum glauben. Es geht los mit Straßen­hunden, die um ein geparktes Auto kreisen, es beschnup­pern, besteigen, abschle­cken, in es hinein­beißen. Offenbar macht ihnen das Spaß. Schon hier fragt man sich: Wie machen die das? Wie diese Nähe? Wie entstehen die Close-ups des Hunde­le­bens? Es ist klar, dass sie nicht mit Drohnen gear­beitet haben, und auch die Möglich­keit, dass Hunden irgend­welche Headsets oder Mikro­ka­meras anmon­tiert wurden, kann man bald ausschließen...

Hier hat einfach der Kame­ra­mann, der noch relativ junge, unbe­kannte Yunus Roy Imer (dessen tolle Arbeit beim Berlinale-Renner System­sprenger bestimmt vielen aufge­fallen ist) einen Weg gefunden, das Vertrauen der Tiere zu gewinnen, und selbst den Tieren zu vertrauen, ihre Schritte vorweg­zu­nehmen – beide Seiten näherten sich einander an und so zog er irgend­wann mit den Hunden durch die Straßen von Moskau.
Aller­dings musste er die Kamera auch immer an einem Arm herun­ter­hän­gend durch die Gegend tragen, so wie andere ihre Einkaufs­ta­sche, um damit quasi auf Hunde­au­gen­höhe zu kommen.

Dieses symbio­ti­sche Verhältnis ging so weit, dass es Momente gab, in denen – so erzählen die Filme­ma­cher – die Hunde auf das Filmteam warteten. Ob sie denn hinterher kämen. Auf der anderen Seite versuchte man, die Hunde möglichst nicht zu beein­flussen in ihrem Verhalten.

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Daniela Persico, neuer­dings Mitglied der Auswahl­kom­mis­sion, und mir schon seit meinem aller­ersten Locarno-Besuch 2006 bekannt, hat im Katalog einen Text über den Film geschrieben, den ich ein bisschen absurd finde und auch nicht richtig verstehe. Ich habe andere dazu gefragt, und sie verstehen den Text auch nicht richtig – das einzige, was man daraus wirklich entnehmen kann, ist, dass Daniela den Film sehr gerne mag und damit hat sie auch recht. Was man auch noch entnehmen kann, ist, dass der Film in irgend­einer Weise eine nicht mensch­liche Perspek­tive auf die Welt wirft, und auch das trifft zu. Ist das ein realis­ti­scher Film? Das ist auch so eine Frage. Natu­ra­lis­tisch viel­leicht schon eher, wenn man sich klar macht, dass die Natur immer etwas höchst Künst­li­ches ist.

Dabei ein klassisch realis­ti­scher Film. Wunderbar, wie die Tiere hier beob­achtet werden und wie sie weiter Tiere sein dürfen. Dies ist keine Vergöt­te­rung der Tiere, keine senti­men­tale Vermensch­li­chung.

Das zeigt die Katzen­szene. Die soll sich am besten einfach jeder selbst ansehen. Sie ist toll, toll, toll, denn wir sehen hier, dass jederzeit alles möglich ist, und sie ist ein Lack­mus­test für die Zuschauer, die hier mit ihren Erwar­tungen ans Kino konfron­tiert werden. Wir sehen, wie den Hunden eine Katze über den Weg läuft, die ihnen nicht mehr entfliehen kann, gegriffen und getötet wird. Die Hunde fressen sie nicht mal, aber sie töten sie, weil das ihre Natur ist, und sie freuen sich damit.
Das alles zeigt der Film so, wie er alles zeigt.

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Manchen Zuschauern geht es wie mir, dass sie das noch nie gesehen haben und sich freuen, es mal zu sehen. Bei anderen ist es eher eine Mischung aus Abwehr und Freude. Wieder andere schauen weg, wollen es nicht sehen.
Und dann gibt es die, gar nicht so wenige, die aggressiv werden. Die es nicht den Hunden übel­nehmen, dass sie tun, was sie tun, sondern den Filme­ma­chern, dass sie zeigen, was sie zeigen. Sie wollen belogen werden. Sie wollen sehen, aber nur, was sie sehen wollen. Und möchten nicht dadurch, dass sie etwas anderes gezeigt bekommen, auf diese ihre selbst­ge­wählte Beschrän­kung aufmerksam gemacht werden.
Bizar­rer­weise wäre es ein Trost für sie, könnte man ihnen beweisen, dass die Szene ein Fake war, compu­ter­ge­neriert, oder mit Tricks, beispiels­weise einem bereits toten Tier insze­niert.
So wie es bizar­rer­weise auch Zuschauer gab, die so schlecht hinsehen, dass sie später überzeugt sind, die Tiere seien dressiert gewesen.
Das alles ist inter­es­sant, denn es verrät uns etwas über den Zustand des post­mo­dernen Bewusst­seins: Die Lust am Spektakel, aber die Angst vor dem Echten, die ihr eigent­lich wider­spricht, und Lust am Gefühl, aber nur am guten, warmen, an Wohl­fühl­ge­fühlen – also eigent­lich Senti­men­ta­lität und Saccharin, Wellness. Also eigent­lich kein Gefühl, oder Angstlust gegenüber Gefühlen.

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Das ist eines von vielen Symptomen für einen neuen Puri­ta­nismus: Gefühle sollen rein sein, und die Menschen in ihrem falschen (und insgeheim als falsch erkannten) Selbst­bild bestä­tigen: Dass sie gut, schön und edel sind.
Das Unreine wird mehr gefürchtet als alles andere.

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Noch in anderer Weise erzählt Space Dogs von der Medien- und Spek­ta­kel­ge­sell­schaft. Das hoch­in­ter­es­sante Archiv­ma­te­rial, das die Filme­ma­cher zur Weltraum­for­schung ausge­graben haben, enthüllt nämlich auch, wie sehr Laika ein Propa­gan­da­pro­dukt war. Dass man sie nach medialen Gesichts­punkten und Vermarkt­bar­keits­kri­te­rien auswählte. Ihr wurde ein besonders »stolzer Blick« attes­tiert. Und dass sie ein weißes Fell mit deut­li­chen schwarzen Punkten hatte, war in Zeiten des Schwarz­weiß und kris­se­liger, unscharfer Bilder ein visueller Vorteil.

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Warum aber nahm man Hunde in der Sowjet­union, während die Ameri­kaner Menschen­affen als Versuchs­tiere benutzten?
Und warum schoss man zur ersten Mond­um­run­dung zwei Schild­kröten ins All?

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Es ist der Tag der Hunde in Locarno. Im Programm laufen nur ein paar Stunden später auch White Dog von Samuel Fuller in der Retro­spek­tive, und Ghost Dog – Der Weg des Samurai von Jim Jarmusch, ebenfalls Retro­spek­tive.
Das kann kein Zufall sein.