Cinema Moralia – Folge 202
Ein Neustart für »Vision Kino« ist unumgänglich |
||
Auch so ein Fall von »jugendaffinem« Mainstream: Mein Lotta-Leben | ||
(Foto: Wild Bunch) |
»Es gibt nur eins, was auf Dauer teurer ist als Bildung: keine Bildung.«
John F. Kennedy
Alle reden von Filmbildung. In Sonntagsreden. In der Praxis passiert fast nichts. Dem Kino, dem deutschen vor allem stirbt sein Publikum weg. Das neue wächst nicht genug nach und wird, wo es noch existiert von amerikanischer B-Ware geprägt, die zum Massenverbrauch konzipiert wurde. Filmkunst ist Fehlanzeige.
Es passiert da absolut nichts. Peter Dinges, der Geschäftsführer der Filmförderanstalt des Bundes (FFA) hat bestimmt ein paar gute Ideen und ist gutwillig, aber in der Praxis kommt nichts rum.
Was sich »Vision Kino« nennt, die einzige Filminitiative des Bundes zur Filmbildung, die es überhaupt gibt, ist bestenfalls eine verschlafene Veranstaltung, die niemand wahrnimmt. Das wundert auch niemanden, der weiß, wer dort den Ton angibt.
+ + +
Laut Wikipedia wurde »Vision Kino« 2005 durch Initiative des BKM, der FFA, der Stiftung Deutsche Kinemathek sowie der »Kino macht Schule« ins Leben gerufen. Vision Kino steht unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten.
+ + +
Dabei ist Filmbildung wichtiger als fast alles, was im Bund in Filmzusammenhängen so gefördert wird. Filmbildung ist unglaublich wichtig – denn das deutsche Kino kann nur eine Zukunft haben, wenn es ein Publikum hat. Und gute Kinos, gute Filme bilden und formen ihr Publikum, nicht umgekehrt. Kinder müssen Kino lernen.
+ + +
Jetzt ist bei »Vision Kino« eine Stelle frei, und zwar die der Geschäftsführerin. Die bisherige, Sarah Duve, ist jetzt die neue starke Frau bei der FFA, was dort keineswegs alle freut, dafür aber manche bei »Vision Kino«.
Die anstehende Neubesetzung der Geschäftsführung ist jetzt Anlass für eine gemeinsame Erklärung mehrerer Verbände und Institutionen (AG Kurzfilm, Bundesverband Kommunale Filmarbeit, FILM MACHT SCHULE, HVC Hauptverband Cinephilie, Produzentenverband, Verband der deutschen Filmkritik) bei »Vision Kino« einen »Neustart« und eine »Revision der bisherigen Arbeit« zu fordern.
Filmbildung und -vermittlung sowie ein Verständnis für Kino als eines attraktiven sozialen
Orts des Austauschs müssten »als wesentlicher Bestandteil von Filmpolitik begriffen werden, denn die Förderung von Filmkultur bei Heranwachsenden ist wichtiger denn je.«
Gesellschafter und Aufsichtsrat werden aufgefordert, die bisherige Arbeit von »Vision Kino« kritisch an den ursprünglichen Absichten dieser gemeinnützigen Gesellschaft zu messen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird als Schirmherr von »Vision Kino« gebeten, »seine Fürsorgepflicht auch
inhaltlich wahrzunehmen.«
+ + +
Weiter heißt es in der Erklärung: Der Neustart für »Vision Kino« muss unter Berücksichtigung folgender Prinzipien erfolgen:
1. Schule des Sehens. Es muss über Konzepte und Methoden der Filmvermittlung im Kino nachgedacht werden. Diese müssen das Originäre des Kinos, seine Bildsprache und seine handwerklichen Mittel, sowie Filmgeschichte behandeln. Film muss als auch formal vielfältige Kunstform mit unterschiedlichen ästhetischen Ausprägungen betrachtet werden; er darf nicht nur auf ein Vehikel zum Vermitteln von Inhalten reduziert werden oder sich auf reine Medienpädagogik mit aktuellen Filmen zu bestimmten Themen beschränken. Im Mittelpunkt der Filmbildung sollte stets ein Verständnis für Filmsprache und die Vermittlung ästhetischer Formen stehen. Inhalte, Geschichten und Ästhetik hängen zusammen, und sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden.
2. Diversität und Anspruch. Das Filmangebot von »Vision Kino« muss qualitativ deutlich verbessert und verbreitert werden. Es darf sich nicht länger auf vermeintlich »jugendaffinen« Mainstream (wie etwa Spider-Man oder Bibi & Tina) und weitgehend deutsche Produktionen beschränken.
Filmgeschichte, zeitgenössische Filmkunst und Filmexperimente müssen eine Rolle spielen, ebenso wie Kurzfilme oder Filme aus Ländern außerhalb Europas und Nordamerikas. Es darf nicht darum gehen, Erwartungen nur zu erfüllen, sondern herauszufordern. Beispiele der meisten anderen europäischen Länder zeigen, dass es viele erfolgversprechende Möglichkeiten gibt, Jugendliche für das Kino und den Autorenfilm zu interessieren, hinter denen Deutschland zur Zeit deutlich
zurückbleibt.
Wir fordern mehr Diversität und ein besseres Niveau der angebotenen Filme. »Vision Kino« wurde zum Weg der Zweitauswertung kommerzieller Filme; das ist eine vertane Chance.
3. Kino findet im Kino statt. Kino ist ein wichtiger, niederschwelliger kultureller Ort. Auch der beste Videoprojektor im Physikraum ersetzt nicht den Besuch im Kinosaal, und die Erfahrung, einen Film auf der Leinwand vorgeführt zu sehen. DVDs und andere Auswertungsformen können die Medienkunde ergänzen, aber nicht das Kino ersetzen. Das Ziel, für den Kulturort und originären Rezeptionsort des Films, das Kino, zu sensibilisieren, den »Vision Kino« im Namen trägt, kann nur durch regelmäßigen Besuch des Ortes Kino erreicht werden.
4. Kontinuität. Um Kinder und Jugendliche für das Kino als kulturellen Ort und kulturelle Praxis zu begeistern ist weit mehr notwendig, als jährlich stattfindende Schulkinowochen. Hier ist kontinuierliche, nachhaltige Arbeit gefragt – in Zusammenarbeit mit Schulen aber ebenso mit außerschulischen Einrichtungen und Initiativen.
5. Integratives Netzwerk. »Vision Kino« sollte ein Netzwerk sein und keine Verwaltungsinstitution für einige wenige Veranstaltungen oder lediglich Informationsquelle über neue Filme für Lehrerinnen und Lehrer. Lehrerfortbildung muss hingegen in Zukunft eine wesentlich größere Rolle spielen, denn nur Lehrerinnen und Lehrer, die die Filmsprache verstehen und Filme kennen, können Filme und Filmgeschichte auch vermitteln.
Dazu müsste auch die unübersichtliche, große
Anzahl an bereits existierenden Filmbildungsinitiativen unterschiedlicher Akteure mit großer Expertise zusammengetragen, übersichtlich gelistet und verbunden werden. Hier bleiben z.Z. viele mögliche Synergien und Kooperationsmöglichkeiten ungenutzt.
Die Filmkritik sollte bei der schulischen Filmvermittlung einbezogen werden. Eine kritische Haltung fördert den geschärften Blick auf das Medium und führt zur Mündigkeit, Filme einzuordnen, ästhetisch und inhaltlich zu beurteilen sowie Marktmechanismen zu erkennen.
Eine bessere Information und Einbeziehung aller Institutionen der Filmbranche auf der konzeptionellen Ebene ist ebenso geboten und dringend wünschenswert. Ausgrenzung ist der falsche Weg. »Vision Kino« kann nur als gemeinschaftliches integratives Projekt funktionieren und leisten, was wir alle wollen: die Kinokultur stärken.
+ + +
Und: »Film bzw. Bewegtbild ist gegenwärtig das Leitmedium von Kindern und Jugendlichen. Daher ist die verstärkte Vermittlung von Medienkompetenz dringend erforderlich, die möglichst früh die Kompetenz Heranwachsender zum Thema Film und Medien ausbildet und Lust auf die Beschäftigung mit Kino macht. Selbst die in einigen Lehrplänen vorgesehene Beschäftigung mit Film im Deutschunterricht wird unseres Wissens unzureichend umgesetzt.
Filmbildung muss Bestandteil
der Lehrerausbildung werden. Nur dann können Lehrerinnen und Lehrer filmbezogenes Wissen vermitteln, filmästhetische Bildung sowie rezeptive und produktive Kompetenzen im Umgang mit Film auch vermitteln.
Die Rahmenbedingungen an den Schulen müssen dringend dahingehend geändert werden, dass Lernorte außerhalb der Schule genutzt werden können, etwa Kinos und Filmfestivals.
Der 16 Jahre alte ›Filmkanon‹ der bpb muss dringend überarbeitet und erweitert
werden. Ein Kinokanon, der unter 35 Filmen keinen Film einer Frau und nur zwei Filme enthält, die nicht aus Europa oder Hollywood stammen, ist mehr als antiquiert. Ebenso gibt es nur einen Kurzfilm, keinen ›klassischen‹ Dokumentarfilm, keinen Animationsfilm für Erwachsene, keine Experimentalfilme.
Wir fordern mehr Diversität und eine entsprechende Erweiterung des vorhandenen Kanons.«
+ + +
Wie man hört, war die bisherige Geschäftsführerin Sarah Duve über die Wortmeldung der Verbände vorsichtig formuliert, »not amused«, und habe so laut gepoltert, dass man es noch durchs Telefon hören konnte, berichtete ein Gesprächspartner.
Natürlich heißt es jetzt wieder, man hätte sich doch melden können. Fakt ist: Wer sich nicht öffentlich meldet, und zwar laut genug, dass andere mithören, wird mit leeren Floskeln abgewimmelt.
Fakt ist, dass die Kinoverbände von Anfang an (2004) »Vision Kino« anders haben wollten. Filmbildung sollte über die Schulkinowochen hinaus gehen, und zu einem Ansatz von Filmbildung werden, der Filmsprache vermittelt, und nicht nur die neuen Filme der Verleiher abspielt. Zwar wird bei »Vision Kino« immer wieder betont, wie wichtig die Filmvermittlung für sie sei, de facto aber zählen nur die Zahlen.
Wenn die Verantwortlichen, zum Beispiel die Bundeskulturstaatsministerin mehr dazu wissen will, sollte sie nicht Referenten und FFA-Funktionäre, sondern die protestierenden Verbände befragen. Oder Edgar Reitz, der in punkto Filmbildung auch unschöne Erfahrungen mit Frau Duve hat.