29.08.2019
Cinema Moralia – Folge 202

Ein Neustart für »Vision Kino« ist unum­gäng­lich

Men Lotta-Leben
Auch so ein Fall von »jugendaffinem« Mainstream: Mein Lotta-Leben
(Foto: Wild Bunch/Central)

Eine Revision der Film- und Medienbildung für Kinder und Jugendliche ist nötig – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogängers, 202. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Es gibt nur eins, was auf Dauer teurer ist als Bildung: keine Bildung.«
John F. Kennedy

Alle reden von Film­bil­dung. In Sonn­tags­reden. In der Praxis passiert fast nichts. Dem Kino, dem deutschen vor allem stirbt sein Publikum weg. Das neue wächst nicht genug nach und wird, wo es noch existiert von ameri­ka­ni­scher B-Ware geprägt, die zum Massen­ver­brauch konzi­piert wurde. Filmkunst ist Fehl­an­zeige.

Es passiert da absolut nichts. Peter Dinges, der Geschäfts­führer der Film­för­der­an­stalt des Bundes (FFA) hat bestimmt ein paar gute Ideen und ist gutwillig, aber in der Praxis kommt nichts rum.

Was sich »Vision Kino« nennt, die einzige Film­initia­tive des Bundes zur Film­bil­dung, die es überhaupt gibt, ist besten­falls eine verschla­fene Veran­stal­tung, die niemand wahrnimmt. Das wundert auch niemanden, der weiß, wer dort den Ton angibt.

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Laut Wikipedia wurde »Vision Kino« 2005 durch Initia­tive des BKM, der FFA, der Stiftung Deutsche Kine­ma­thek sowie der »Kino macht Schule« ins Leben gerufen. Vision Kino steht unter der Schirm­herr­schaft des Bunde­sprä­si­denten.

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Dabei ist Film­bil­dung wichtiger als fast alles, was im Bund in Film­zu­sam­men­hängen so gefördert wird. Film­bil­dung ist unglaub­lich wichtig – denn das deutsche Kino kann nur eine Zukunft haben, wenn es ein Publikum hat. Und gute Kinos, gute Filme bilden und formen ihr Publikum, nicht umgekehrt. Kinder müssen Kino lernen.

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Jetzt ist bei »Vision Kino« eine Stelle frei, und zwar die der Geschäfts­füh­rerin. Die bisherige, Sarah Duve, ist jetzt die neue starke Frau bei der FFA, was dort keines­wegs alle freut, dafür aber manche bei »Vision Kino«.

Die anste­hende Neube­set­zung der Geschäfts­füh­rung ist jetzt Anlass für eine gemein­same Erklärung mehrerer Verbände und Insti­tu­tionen (AG Kurzfilm, Bundes­ver­band Kommunale Film­ar­beit, FILM MACHT SCHULE, HVC Haupt­ver­band Cine­philie, Produ­zen­ten­ver­band, Verband der deutschen Film­kritik) bei »Vision Kino« einen »Neustart« und eine »Revision der bishe­rigen Arbeit« zu fordern.
Film­bil­dung und -vermitt­lung sowie ein Vers­tändnis für Kino als eines attrak­tiven sozialen Orts des Austauschs müssten »als wesent­li­cher Bestand­teil von Film­po­litik begriffen werden, denn die Förderung von Film­kultur bei Heran­wach­senden ist wichtiger denn je.«
Gesell­schafter und Aufsichtsrat werden aufge­for­dert, die bisherige Arbeit von »Vision Kino« kritisch an den ursprüng­li­chen Absichten dieser gemein­nüt­zigen Gesell­schaft zu messen. Bunde­sprä­si­dent Frank-Walter Stein­meier wird als Schirm­herr von »Vision Kino« gebeten, »seine Fürsor­ge­pflicht auch inhalt­lich wahr­zu­nehmen.«

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Weiter heißt es in der Erklärung: Der Neustart für »Vision Kino« muss unter Berück­sich­ti­gung folgender Prin­zi­pien erfolgen:

1. Schule des Sehens. Es muss über Konzepte und Methoden der Film­ver­mitt­lung im Kino nach­ge­dacht werden. Diese müssen das Originäre des Kinos, seine Bild­sprache und seine hand­werk­li­chen Mittel, sowie Film­ge­schichte behandeln. Film muss als auch formal viel­fäl­tige Kunstform mit unter­schied­li­chen ästhe­ti­schen Ausprä­gungen betrachtet werden; er darf nicht nur auf ein Vehikel zum Vermit­teln von Inhalten reduziert werden oder sich auf reine Medi­en­pä­d­agogik mit aktuellen Filmen zu bestimmten Themen beschränken. Im Mittel­punkt der Film­bil­dung sollte stets ein Vers­tändnis für Film­sprache und die Vermitt­lung ästhe­ti­scher Formen stehen. Inhalte, Geschichten und Ästhetik hängen zusammen, und sollten nicht gegen­ein­ander ausge­spielt werden.

2. Diver­sität und Anspruch. Das Film­an­gebot von »Vision Kino« muss quali­tativ deutlich verbes­sert und verbrei­tert werden. Es darf sich nicht länger auf vermeint­lich »jugend­af­finen« Main­stream (wie etwa Spider-Man oder Bibi & Tina) und weit­ge­hend deutsche Produk­tionen beschränken. Film­ge­schichte, zeit­genös­si­sche Filmkunst und Film­ex­pe­ri­mente müssen eine Rolle spielen, ebenso wie Kurzfilme oder Filme aus Ländern außerhalb Europas und Nordame­rikas. Es darf nicht darum gehen, Erwar­tungen nur zu erfüllen, sondern heraus­zu­for­dern. Beispiele der meisten anderen europäi­schen Länder zeigen, dass es viele erfolg­ver­spre­chende Möglich­keiten gibt, Jugend­liche für das Kino und den Autoren­film zu inter­es­sieren, hinter denen Deutsch­land zur Zeit deutlich zurück­bleibt.
Wir fordern mehr Diver­sität und ein besseres Niveau der ange­bo­tenen Filme. »Vision Kino« wurde zum Weg der Zweit­aus­wer­tung kommer­zi­eller Filme; das ist eine vertane Chance.

3. Kino findet im Kino statt. Kino ist ein wichtiger, nieder­schwel­liger kultu­reller Ort. Auch der beste Video­pro­jektor im Physik­raum ersetzt nicht den Besuch im Kinosaal, und die Erfahrung, einen Film auf der Leinwand vorge­führt zu sehen. DVDs und andere Auswer­tungs­formen können die Medi­en­kunde ergänzen, aber nicht das Kino ersetzen. Das Ziel, für den Kulturort und originären Rezep­ti­onsort des Films, das Kino, zu sensi­bi­li­sieren, den »Vision Kino« im Namen trägt, kann nur durch regel­mäßigen Besuch des Ortes Kino erreicht werden.

4. Konti­nuität. Um Kinder und Jugend­liche für das Kino als kultu­rellen Ort und kultu­relle Praxis zu begeis­tern ist weit mehr notwendig, als jährlich statt­fin­dende Schul­ki­no­wo­chen. Hier ist konti­nu­ier­liche, nach­hal­tige Arbeit gefragt – in Zusam­men­ar­beit mit Schulen aber ebenso mit außer­schu­li­schen Einrich­tungen und Initia­tiven.

5. Inte­gra­tives Netzwerk. »Vision Kino« sollte ein Netzwerk sein und keine Verwal­tungs­in­sti­tu­tion für einige wenige Veran­stal­tungen oder lediglich Infor­ma­ti­ons­quelle über neue Filme für Lehre­rinnen und Lehrer. Lehrer­fort­bil­dung muss hingegen in Zukunft eine wesent­lich größere Rolle spielen, denn nur Lehre­rinnen und Lehrer, die die Film­sprache verstehen und Filme kennen, können Filme und Film­ge­schichte auch vermit­teln.
Dazu müsste auch die unüber­sicht­liche, große Anzahl an bereits exis­tie­renden Film­bil­dungs­in­itia­tiven unter­schied­li­cher Akteure mit großer Expertise zusam­men­ge­tragen, über­sicht­lich gelistet und verbunden werden. Hier bleiben z.Z. viele mögliche Synergien und Koope­ra­ti­ons­mög­lich­keiten ungenutzt.

Die Film­kritik sollte bei der schu­li­schen Film­ver­mitt­lung einbe­zogen werden. Eine kritische Haltung fördert den geschärften Blick auf das Medium und führt zur Mündig­keit, Filme einzu­ordnen, ästhe­tisch und inhalt­lich zu beur­teilen sowie Markt­me­cha­nismen zu erkennen.

Eine bessere Infor­ma­tion und Einbe­zie­hung aller Insti­tu­tionen der Film­branche auf der konzep­tio­nellen Ebene ist ebenso geboten und dringend wünschens­wert. Ausgren­zung ist der falsche Weg. »Vision Kino« kann nur als gemein­schaft­li­ches inte­gra­tives Projekt funk­tio­nieren und leisten, was wir alle wollen: die Kino­kultur stärken.

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Und: »Film bzw. Bewegt­bild ist gegen­wärtig das Leit­me­dium von Kindern und Jugend­li­chen. Daher ist die vers­tärkte Vermitt­lung von Medi­en­kom­pe­tenz dringend erfor­der­lich, die möglichst früh die Kompetenz Heran­wach­sender zum Thema Film und Medien ausbildet und Lust auf die Beschäf­ti­gung mit Kino macht. Selbst die in einigen Lehr­plänen vorge­se­hene Beschäf­ti­gung mit Film im Deutsch­un­ter­richt wird unseres Wissens unzu­rei­chend umgesetzt.
Film­bil­dung muss Bestand­teil der Lehrer­aus­bil­dung werden. Nur dann können Lehre­rinnen und Lehrer film­be­zo­genes Wissen vermit­teln, filmäs­the­ti­sche Bildung sowie rezeptive und produk­tive Kompe­tenzen im Umgang mit Film auch vermit­teln.
Die Rahmen­be­din­gungen an den Schulen müssen dringend dahin­ge­hend geändert werden, dass Lernorte außerhalb der Schule genutzt werden können, etwa Kinos und Film­fes­ti­vals.
Der 16 Jahre alte ›Filmkanon‹ der bpb muss dringend über­ar­beitet und erweitert werden. Ein Kinokanon, der unter 35 Filmen keinen Film einer Frau und nur zwei Filme enthält, die nicht aus Europa oder Hollywood stammen, ist mehr als anti­quiert. Ebenso gibt es nur einen Kurzfilm, keinen ›klas­si­schen‹ Doku­men­tar­film, keinen Anima­ti­ons­film für Erwach­sene, keine Expe­ri­men­tal­filme.
Wir fordern mehr Diver­sität und eine entspre­chende Erwei­te­rung des vorhan­denen Kanons.«

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Wie man hört, war die bisherige Geschäfts­füh­rerin Sarah Duve über die Wort­mel­dung der Verbände vorsichtig formu­liert, »not amused«, und habe so laut gepoltert, dass man es noch durchs Telefon hören konnte, berich­tete ein Gesprächs­partner.
Natürlich heißt es jetzt wieder, man hätte sich doch melden können. Fakt ist: Wer sich nicht öffent­lich meldet, und zwar laut genug, dass andere mithören, wird mit leeren Floskeln abge­wim­melt.

Fakt ist, dass die Kino­ver­bände von Anfang an (2004) »Vision Kino« anders haben wollten. Film­bil­dung sollte über die Schul­ki­no­wo­chen hinaus gehen, und zu einem Ansatz von Film­bil­dung werden, der Film­sprache vermit­telt, und nicht nur die neuen Filme der Verleiher abspielt. Zwar wird bei »Vision Kino« immer wieder betont, wie wichtig die Film­ver­mitt­lung für sie sei, de facto aber zählen nur die Zahlen.

Wenn die Verant­wort­li­chen, zum Beispiel die Bundes­kul­tur­staats­mi­nis­terin mehr dazu wissen will, sollte sie nicht Refe­renten und FFA-Funk­ti­onäre, sondern die protes­tie­renden Verbände befragen. Oder Edgar Reitz, der in punkto Film­bil­dung auch unschöne Erfah­rungen mit Frau Duve hat.