20.05.2019
72. Filmfestspiele Cannes 2019

Schlaf­wandler der Sehnsucht

Mati Diops »Atlantique«
Mati Diops Atlantique
(Foto: Netflix/Les Films du Bal)

Der Raum des Anderen: Utopie des globalen Südens in Cannes (Mati Diop, Atlantique; Betrand Bonello, Zombi Child; Kleber Mendonça, Bacurau; Ladj Ly, Les Misérables) – Cannes-Notizen, 7. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Some memories are omens.« Aus: Atlan­tique

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Der Wind ist das Prägnan­teste in der Erin­ne­rung an diesen Film. Er ist laut, und überaus stark, er facht das Feuer an, das hier brennt, wie die Gefühle, die walten, er lässt die Wellen gegen die Küste peitschen, bis aus ihnen weiß­glän­zende Gischt wird. Das Zweite sind die Farben. In wie vielen Farben das Meer strahlen kann! Von schwarz­kup­fernem Orange über tief­dunkles Blau, zum türkis­gelbem Glit­zer­spiel bis hin zu reinem Weiß, wenn die Sonne es im passenden Winkel trifft.

Dies ist ein überaus sinn­li­cher Film, ein Film der kleinen unmerk­li­chen Impres­sionen und Verschie­bungen – ein Eindruck, der nur noch verstärkt wird durch das Wissen um die dunklen Kräfte, die hier die Menschen mehr als gele­gent­lich erfassen. Das Afrika der Mati Diop ist ein Raum des Anderen, der anderen Erfahrung, zugleich fernab von allen Vorstel­lungen eines »Heart of Darkness«, mehr ein Raum für Gedanken und Empfin­dungen, für Erfah­rungen der Freiheit.

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Eine frühe Szene in diesem Film zeigt eine Autofahrt am Meer entlang. Der Pickup hat Arbeiter geladen, gerechnet wird in Stückzahl, man sieht und hört Wellen, wie den Wind, dazu Musik, denn die Arbeiter singen. Das dauert minu­ten­lang, nur ab und an bleibt die Kamera auf die eine Haupt­figur konzen­triert, die man da schon kennt, sie alle Zeit der Welt. So macht der Film Poesie.

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Zunächst wirkt Atlan­tique ganz realis­tisch. Es fängt an, wie ein Loach-Film: Alles spielt im Senegal, in Dakar, viele Hundert Arbeiter arbeiten am »Muegeza Tower«, sie protes­tieren, denn seit drei Monaten gibt es kein Geld. Die Kräfte im Büro wimmeln ab: »Es nicht unser Geld.« Der etwa 20-jährige Suleiman ist einer der Sprecher der Arbeiter. Bald wissen wir, warum er das Geld gerade heute so dringend braucht, wissen den resi­gnierten Gesichts­aus­druck zu deuten, als er es nicht bekommt.

Danach der späte Nach­mittag den Suleiman und Ada zusammen verbringen, am Meer. Alles scheint zunächst ganz einfach die Liebes­ge­schichte zwischen ihnen zu erzählen. Doch irgend­etwas ist los, steht unaus­ge­spro­chen im Raum, man spürt das mehr, denn erzählt wird es absichts­voll nicht. Entschei­dende Stunden. Einmal läuft im Hinter­grund die Musik: »In die neue Welt« – ein Omen.

Später verstehen wir: Ada soll in zehn Tagen verhei­ratet werden mit einem Mann den sie nicht liebt; sie ignoriert diese Tatsache, als gäbe es kein Morgen. Diesen Morgen wird Suleiman auf See sein, weit weg von Ada, denn schon am selben Abend wird sich der junge Mann auf die gefahr­volle Schiffs­reise nach Europa begeben. Eine Reise, die womöglich eine ohne Wieder­kehr ist, auch wenn er das in dem Augen­blick nicht wahrhaben will. Er will es der Geliebten erzählen, aber findet nicht den Moment.

Als dieser Punkt über­schritten ist, gegen Mitter­nacht, als Ada erfährt, das Suleiman ganz weg ist und wir ahnen, dass sie ihn so leicht nicht wieder­sehen wird, da hebt der Film ab, wird zu einer im Trance-Tempo voran­schwe­benden poeti­schen Traum­reise, erst recht, als irgend­wann klar wird, dass Suleiman tot ist.

Doch am Atlan­ti­kufer, dem Ort für sehn­suchts­volle Blicke und für Stunden des Verges­sens in der Strandbar von Adas Freundin, dort kann man des Nachts auch den Toten begegnen, mit ihnen sogar eine Liebes­nacht verbringen – die Sehnsucht macht es möglich.

Atlan­tique ist weniger inter­es­sant, wo der Film wider­spruchs­frei erzählen und doku­men­tieren will. Wobei das Doku­men­tierte faszi­nie­rend ist: Die hyper­mo­derne Mega­lo­manie, die billigen Kopien west­li­chen Lebens, die Last afri­ka­ni­scher Tradi­tionen, demge­genüber die Häresie der Jungen.

Stark wird der Film immer dann, wenn er sich intuitiv ganz dem eigenen Ansatz hingibt, auf das lyrische Erzählen vertraut, auf die Lust am Bild.

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Träu­me­ri­sche Bilder. Raum für Gedanken und Empfin­dungen. Das Meer. Der Horizont. Zweifel und Feuer. Freun­dinnen geben Ada Ratschläge. Ein »Virginity-Test« wird gemacht und erfolg­reich bestanden, ein Marabout konsul­tiert. So gehen Natu­ra­lismus und Märchen Hand in Hand. Ein Polizist ist von einer seltsamen Krankheit ergriffen, wie überhaupt so manches seltsam ist an diesem Film. Die Mythen der Seefahrt treffen auf magisches Erzählen. Die Welle. Der Tod.

»Some memories are omens«, sagt Ada einmal. Ein Schlüssel zu diesem Film: Atlan­tique ist auch eine Geschichte des Erwach­sen­wer­dens von Ada. Ein Film wie ein Trance, dem man sich anver­trauen kann. Diop ist ein beglü­ckendes Film­mär­chen gelungen, das uns Europäern die Fenster zu etwas atem­be­rau­bend Neuem öffnet.

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Ich habe es schon geschrieben, aber es ist, wenn man einmal den Blick dafür bekommen hat, sensi­bi­li­siert ist, erstaun­lich, welche Dimension das Zombie-Sujet in den dies­jäh­rigen Filmen einnimmt. Dieses faszi­nie­rende und gar nicht so abseitige Thema wirklich ernst nehmen aber nur zwei sehr unter­schied­liche fran­zö­si­sche Filme­ma­cher. Und sie zeigen auch, was es tatsäch­lich mit der Gegenwart zu tun hat.

Mati Diop ist die eine. Die Französin mit sene­ga­li­scher Verwandt­schaft (ihr Onkel ist der Regisseur Djibril Diop Mambéty, der mit Touki Bouki – Die Reise der Hyäne 1972 in Cannes den Preis der Film­kritik erhielt, ihre Mutter ist Film­mu­si­kerin) ist die inter­es­san­teste Regis­seurin im dies­jäh­rigen Wett­be­werb. Als Schau­spie­lerin (u.a. für Claire Denis) wurde sie bekannt, ihre Kurzfilme waren ein Tipp für Einge­weihte, ihr erster Langfilm landete nun gleich im Wett­be­werb.

Der andere ist Bertrand Bonello.

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Es gibt eine Szene in Bonellos Zombi Child, in der ein junges Mädchen zombi­fi­ziert werden soll. Mir selbst ist tatsäch­lich während dieses Zombie-Akts im Kino schlecht geworden, Übelkeit kam auf, das Gefühl, jetzt und hier krank werden zu müssen. Danach, kaum war die Szene vorbei, war alles wieder gut. Der Gedanke ließ sich nicht vermeiden: Ist da mehr, als es scheint?

Dieser Gedanke trägt diesen Film. Er fragt nach Zusam­men­hängen, ohne sich der Antwort im Vorhinein gewiss zu sein.

Dies ist ein Film über Kolo­nia­lismus und seine Folgen, ein Film über den Stolz der Schwarzen und die Kraft ihres Wider­stands, auch in der Skla­ven­ko­lonie Haiti, aus der sie nicht stammten, die sie sich genauso erobern mussten, wie ihre Herren es getan hatten.

Bonellos Liebe zu jungen Menschen zeigt sich in jeder Sekunde des Films. Der Film behandelt Rapper wie Damso, einen Pop-Star wie Rihanna gleich­wertig wie Balzac und Michelet. »What does Rihanna represent to you?« – »Which is your favourite Rihanna song?« fragen die Lehrer ihre Schüler. Insofern prak­ti­ziert dieser Film eine égalité, die sonst oft nur behauptet wird: Auch die Hautfarbe Melissas, der einzigen Schwarzen einer Girl Gang, wird nie thema­ti­siert, und es ist an Mélissa und ihrer Freundin Fanny erkennbar, dass sich Bonello nicht zuletzt dafür inter­es­siert, diffe­ren­ziert und unvor­ein­ge­nommen zu zeigen, wie junge Mädchen heute auf die Welt blicken, wie ihr Verhältnis zu ihrer jeweils eigenen Kultur aussieht.

Schließ­lich die Zombies und das Zombi­fi­zieren. Es wird selbst­ver­s­tänd­lich genommen, wie alles in diesem Film. Und beiläufig erzählt. Fast wissen­schaft­lich, aber immer fiktional unter­sucht Zombi Child die Bedin­gungen und Möglich­keiten von Voodoo und Zombies als einer sozialen Praxis zu erkunden, einer Praxis, die tief im Alltag von Haiti und – siehe Atlan­tique – auch in der afri­ka­ni­schen Kultur verhaftet ist. Zu dieser Haltung und der Intel­li­genz dieses Films passt, dass als letztes Lied gespielt wird: »You'll never walk alone.« Darauf muss man auch erst mal kommen. Denn ich kann nicht glauben, dass Bonello an irgend­etwas anderes gedacht hat, als an Jacques Tourneurs, von Curt Siodmak geschrie­benen Klassiker: I Walked with a Zombie.

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Wenn Atlan­tique und Zombi Child anti­ko­lo­nia­lis­ti­sches Kino sind, dann könnte man Bacurau als Anti-Gringo-Kino bezeichnen.

Der Brasi­lianer Kleber Mendonça hat einen Film gemacht, der seine Fans enttäuscht. Kein Hauch mehr von der schönen Präten­tion und strengen Disziplin von Aquarius, die Liebhaber typischen Hipster-Festi­val­kinos 2016 in Cannes verzückte. Das spricht für ihn und für sich. Es geht Mendonça um die Sache. Aber welches ist seine Sache? Ein Wasser­tanker zu Beginn erinnert an The Sorcerer, ein Laster mit Särgen ist umgekippt. Bald wird ein Dorf bedroht. Es folgen Splat­ter­ef­fekte und Rachefan­tasie.

Der Film verbindet Science-Fiction, Para­noia­kino und Western zu einem Hybrid aus John-Carpenter-Hommage und Kommentar zur aktuellen Politik. Und zwar nicht nur zur brasi­lia­ni­schen. Das meine ich mit Anti-Gringo. Denn diese Geschichte eines Dorfes, das sich à la Die sieben Samurai gegen böse Politiker und ihre US-ameri­ka­ni­sche Mörder­truppe vertei­digt, richtet sich auch gegen westliche Kate­go­rien, gegen die »Epis­te­mo­lo­gien des Nordens«, wo die Wohl­stands­bürger sich zur Zeit am liebsten mit dem Kate­go­ri­sieren von Menschen und dem Erfinden immer neuer Kate­go­rien im Niemands­land zwischen Hetero und Homo, Trans und Queer die Zeit vertreiben.

Die Utopie des Südens ist dagegen Vers­tän­di­gung durch Durch­mi­schung. Man ignoriert Unter­schiede, zele­briert sie nicht. Sie zu benennen ist schon Rassismus. Das führt dieser Film vor. Das Brasilien dieses Films ist ein Ort der Kargheit, der Gewalt, des Hete­ro­genen, nicht der Homo­ge­ni­sie­rungen, seien sie auch gut gemeint.

»The world is upside down.«

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Spuren von Anti-Gringo und Zombi­fi­ca­tion finden sich auch ohne Umschweife in Les Miséra­bles von Ladj Ly. Der Titel spielt natürlich auf Victor Hugo an, der Film hat aber mit dessen vielfach verfilmten Roman nur gemeinsam, dass auch Ladj Ly von den Pariser Unter­schichten erzählt. Zweimal fällt beiläufig Hugos Name.

Alles spielt heute, an ein paar Sommer­tagen kurz nach dem Sieg der Franzosen bei der Fußball-WM im vergan­genen Jahr: Eine Einheit von drei Poli­zisten streift im Wagen durch die Banlieues. Wir lernen vor allem mit ihren Augen das Viertel kennen, die verschie­denen ethni­schen Gruppen, die Banden, die Erwach­senen, die straf­un­mün­dige Kinder für ihre Geschäfte instru­men­ta­li­sieren. Dann eska­lieren die Dinge, und als die drei Poli­zisten einen Fehler machen, und dann noch ein paar, um den ersten zu vertu­schen, werden sie selbst zu Gejagten.

Dies ist einer jener Filme, in dem sich Menschen dauernd anschreien, Kamera und Schnitt arbeiten mit den Mitteln des über­stei­gerten Realismus – Close-ups, Reiss­schwenks, mal Wackel­ka­mera, mal schnelle Schnitte – um »Echtheit« zu sugge­rieren. Die Inten­sität gelingt, aller­dings auf Kosten der Genau­ig­keit. So ist dieser Film weder ein präzis beob­ach­tetes Sozi­al­por­trait, noch richtig funk­tio­nie­rendes Genrekino. Immerhin ein Film, der einen für Augen­blicke am Zustand der Gesell­schaft verzwei­feln lässt. Genau dieses Gefühl will Ladj Ly wahr­schein­lich auch herstellen.

Im Zentrum steht neben den drei Poli­zisten ein Kind. Das wird von einer Leucht­gra­nate ange­schossen, schwer verletzt, und trägt ein entstelltes Gesicht davon. Natürlich ist auch dieses Kid ein Zombie. Maskiert und leblos wird es zum Herren des Halb­dunkel, des Feuers, gibt Tod und Leben.

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Schluss mit Europa! Das ist es, was alle diese Filme auch sagen. Es ist vorbei, bye bye, Junimond...

(to be continued)