16.08.2018
71. Locarno Filmfestival 2018

Die Welt im Spiegel des Films

Mit einem außergewöhnlich starken Wettbewerb, zahlreichen cineastischen Leckerbissen und vielen schillernden Frauenfiguren, überwiegend von Männern in Szene gesetzt, verabschiedete sich der künstlerische Leiter Carlo Chatrian aus Locarno und setzte mit dem Programm Zeichen als Nachfolger von Dieter Kosslick in Berlin

Von Holger Twele

Neue Erzähl­formen?
In den vergan­genen Jahren hat Locarno schon mehrfach Filme in den Wett­be­werb genommen, die das Zeit­raster einer »normalen« Kino­vor­stel­lung um ein Mehr­fa­ches über­schritten und – ja – es waren Meis­ter­werke darunter, bei denen das Zeit­ge­fühl außer Kraft geriet. Der dies­jäh­rige argen­ti­ni­sche Film La Flor von Mariano Llinás aller­dings ist 14 Stunden lang und kann leider nicht für sich in Anspruch nehmen, keine einzige über­flüs­sige Szene zu enthalten. Faszi­nie­rend und bewun­derns­wert, egoma­nisch und geschwätzig zugleich, mit großem Faible für das gespro­chene und in Echtzeit geschrie­bene Wort und dennoch mit viel Humor gelingt es dem Regisseur, die halbe Film­ge­schichte Revue passieren zu lassen, ausführ­lich über das Filme­ma­chen und film­sprach­liche Mittel zu reflek­tieren und obendrein die klas­si­sche Film­dra­ma­turgie infrage zu stellen und neue filmische Erzähl­formen auszu­pro­bieren. Dazu gehört, dass der Film gleich zu Beginn seinen Aufbau genau erklärt. Es sind vier nicht zu Ende erzählte Geschichten unter­schied­li­cher Genres, voll­kommen gegen den Strich gebürstet, mit einem zirkulären Mittel­teil, dem sich zwei weitere Episoden anschließen, die in die Vergan­gen­heit führen. Vier Schau­spie­le­rinnen in verschie­denen Rollen in den einzelnen Episoden bilden quasi einen roten Faden, selbst wenn der Regisseur mitunter lieber Bäume als Menschen ins Bild rückt.
Der Film wurde sowohl in täglichen kurzen „Häppchen“ präsen­tiert, bei denen die deut­li­chen Längen viel­leicht nicht ganz so ins Gewicht fallen, als auch in drei großen Teilen mit einkal­ku­liertem Besu­cher­schwund und dem Wechsel in ein kleineres Kino. Wer bis zum Ende durch­hielt, durfte sich als einge­fleischter Cineast outen und sich ähnlich wie ein Berg­steiger fühlen, der im Schweiße des Ange­sichts zu Fuß einen Gipfel erklimmt und mitleidig auf die herab­blickt, die lieber die Seilbahn oder das Auto genommen haben. Ob dieser unbe­stritten inno­va­tive Film in den nur 15 Beiträge umfas­senden Wett­be­werb gehörte, sei dahin­ge­stellt. Die Entschei­dung hatte immerhin den Vorteil, dass die vorhan­denen Programm­plätze wenigs­tens nicht mit über­flüs­sigen Filmen gefüllt werden mussten, wie das beispiels­weise bei der dies­jäh­rigen Berlinale der Fall war.

Asia­ti­sche Impres­sionen
Asia­ti­sche Wett­be­werbs­bei­träge haben eine lange Tradition in Locarno und gehen bei der Preis­ver­gabe selten leer aus. So auch in diesem Jahr, in dem A Land Imagined von Yeo Siew Hua, eine Produk­tion aus Singapur in Koope­ra­tion mit Frank­reich und den Nieder­landen, den Goldenen Leoparden erhielt. Vor der gesell­schaft­po­li­ti­schen Folie einer dem Meer abge­trotzten riesigen Land­ge­win­nungs­bau­stelle in Singapur und den höchst proble­ma­ti­schen Arbeits­be­din­gungen vieler Fremd­ar­beiter aus anderen asia­ti­schen Ländern erzählt der Krimi in be(d)rückenden Bildern zwischen sozialer und virtu­eller Realität oder reiner Imagi­na­tion die Geschichte eines Poli­zisten, der das spurlose Verschwinden zweier chine­si­scher Bauar­beiter aufdecken soll, die mögli­cher­weise einem Verbre­chen zum Opfer gefallen sind. – Nicht minder sehens­wert waren die anderen beiden asia­ti­schen Filme des Wett­be­werbs: A Family Tour von Ying Liang, eine Kopro­duk­tion zwischen Taiwan, Hongkong, Singapur und Malaysia, handelt von der als Fami­li­en­aus­flug nach Taiwan dekla­rierten, in Wirk­lich­keit mühsam arran­gierten Wieder­be­geg­nung einer in Hongkong lebenden jungen chine­si­schen Regis­seurin mit ihrer schwer­kranken Mutter aus China. Was auf den ersten Blick eine persön­liche Bezie­hungs­ge­schichte zwischen Mutter und Tochter scheint, entpuppt sich bald als private und gesell­schaft­liche Tragödie unge­ahnten Ausmaßes, bei der ein Happy End wegen der poli­ti­schen Verstri­ckungen zwischen der Volks­re­pu­blik, dem »abtrün­nigen« Taiwan und Hongkong mit seinem Sonder­status ausge­schlossen ist. Denn die system­kri­ti­schen Filme der Tochter sind in China alle verboten, die Mutter, die bereits ihren Ehemann an das Regime verloren hatte, musste sich offiziell von der Tochter lossagen, und die einstige Wohnung der Familie soll obendrein einem staat­li­chen Pres­ti­ge­pro­jekt weichen. – Um familiäre Wieder­be­geg­nung, Entfrem­dung, Aussöh­nung und Vers­tän­di­gung geht es auch im südko­rea­ni­schen Film Gangbyun Hotel von Hong Sangsoo, der sich aller­dings voll und ganz auf eine private Geschichte konzen­triert. Die Begegnung von fünf Menschen im titel­ge­benden Hotel, einem alten Dichter mit seinen längst erwach­senen Söhnen und zwei jungen Frauen, von denen die eine von ihrem Mann betrogen wurde, ist in strengen Schwarz­weiß­bil­dern mit weit­ge­hend stati­scher Kamera erzählt, wobei die schnee­be­deckte Winter­land­schaft für zusätz­liche Symbol­kraft und Konzen­tra­tion sorgt.

Kindheit und Jugend
Die Ausein­an­der­set­zung mit den Eltern bezie­hungs­weise mit der eigenen Kindheit findet sich in zahl­rei­chen Wett­be­werbs­filmen, wobei einige von ihnen sogar aus der Perspek­tive von Kindern und Jugend­li­chen gedreht sind, also problemlos auch für die Berlinale-Sektion Gene­ra­tion 14plus geeignet wären. Fast alle stammen von Männern, bis auf Tarde para morir joven (Zu spät um jung zu sterben) von Dominga Sotomayor, eine inter­na­tio­nale Kopro­duk­tion mit Chile – der einzige Spielfilm im Wett­be­werb von einer Regis­seurin, die dafür den Preis für die beste Regie erhielt. Ihr Coming of Age-Film, der die Bezie­hungen zwischen den Gene­ra­tionen in einer Ausnah­me­si­tua­tion reflek­tiert, blickt zurück ins Jahr 1990 in die Zeit des Umbruchs unmit­telbar nach Ende der Pinochet-Mili­tär­dik­tatur. Einige Familien hatten sich damals in einer kleinen Gemein­schaft auf das Land am Fuße der Anden zurück­ge­zogen, um ihre Freiheit zu genießen und ein von der Zivi­li­sa­tion weit­ge­hend unab­hän­giges Leben zu führen. Was für die jüngeren Kinder wie etwa die zehn­jäh­rige Clara noch Abenteuer pur, ist für die 16-jährige Sofía nur schwer ertragbar. Sie stirbt beinahe vor Lange­weile, sehnt sich nach ihrer Mutter, die ihre Familie verlassen hat, und rebel­liert gegen den allzu wort­kargen Vater. Darüber hinaus drohen in der staub­tro­ckenen Gegend, in der jeder Funke zur Kata­strophe führen könnte, neue Gefahren, was Sofía natürlich nicht davon abhält, ständig zu rauchen.
Der britische Fotograf Richard Billingham wurde durch seine Milieu­stu­dien und die Fotos seiner eigenen Familie berühmt, in der er mit zwei Brüdern in Birmingham am Rande der Gesell­schaft aufwuchs. Ähnlich wie seiner­zeit sein Landsmann Terence Davies erinnert er sich in seinem ersten Spielfilm Ray & Liz in tableau­haft insze­nierten Episoden an Schlüs­sel­szenen aus dieser von absurden Ritualen und zuneh­mender Verwahr­lo­sung geprägten Kindheit. Der sadis­ti­sche ältere Bruder befördert den alko­hol­kranken Onkel beinahe ins Jenseits, während der jüngere Bruder am Ende in eine Pfle­ge­fa­milie kommt, die fett­lei­bige Mutter ein strenges Regime führt und der in einer aktuellen Rahmen­hand­lung immer noch vor sich hinve­ge­tie­rende Vater jeden Impuls zur Eigen­in­itia­tive unter­drückt. Für Billingham mag die Kunst die Rettung aus dieser über­mäch­tigen ohnmäch­tigen Fami­li­en­kon­stel­la­tion gewesen sein. Und auch wenn der Film so gut wie keine Wärme oder Gebor­gen­heit vermit­telt, hinter­lässt die dichte und präzise Insze­nie­rung doch einen nach­hal­tigen Eindruck.
Auto­bio­gra­fisch geprägt ist auch der zweite Spielfilm Genèse des Kanadiers Philippe Lesage, der um erste Liebe, Verrat und Enttäu­schung kreist und eine unkon­ven­tio­nelle Erzähl­form findet, um dem altbe­kannten Thema neue Perspek­tiven abzu­ringen. Es scheint fast so, als wären die erste Liebe und der Wunsch, zu sich und den eigenen Gefühlen stehen zu können, trotz Aufklärung in einer sich liberal gebenden Gesell­schaft nicht etwa einfacher, sondern weitaus kompli­zierter und stör­an­fäl­liger geworden. Guillaume und seine Schwester Charlotte machen diese leidvolle Erfahrung im ersten Teil des Films. Der Junge ist im Internat allseits beliebt und ein sprach­lich begabter Muster­schüler obendrein. Als er dann aber seinen Lehrer in einer kriti­schen Situation als Duck­mäuser bezeichnet, bekommt er dessen Rache zu spüren und als er sich in seinen besten Freund verliebt, fühlt sich dieser völlig über­for­dert. Guillaume wird nach seinem Outing gar des Miss­brauchs an einem jüngeren Mitschüler bezich­tigt, der ihn um Hilfe gebeten hatte. Nicht viel besser ergeht es Guil­laumes Schwester, deren Freund ihr eine freie Beziehung vorschlägt. Als sie dann selbst einen etwas älteren Jungen kennen­lernt, gerät auch diese Beziehung, die in eine echte Verge­wal­ti­gung mündet, völlig aus den Fugen. So als wollte der Regisseur wenigs­tens einen Funken Hoffnung lassen, folgt eine dritte Geschichte mit einem ganz jungen Liebes­paar in einem Feri­en­camp, das trotz offener gegen­sei­tiger Sympathie aber nur schwer zuein­ander findet.
Während man in den bisher erwähnten Filmen mit den jugend­li­chen Prot­ago­nisten mitfühlen kann, gar echte Empathie entwi­ckelt, fällt das bei der titel­ge­benden Haupt­figur in Alice T. von Radu Muntean äußerst schwer. Der 15-jährige Teenager ist die Adop­tiv­tochter einer allein­er­zie­henden Mutter, die selbst schwere Enttäu­schungen in ihrem Leben verkraften musste. Aber das allein kann nicht erklären, warum Alice ohne jegliche Konse­quenzen von außen aufmüpfig und gewalt­tätig ist, sich einen Dreck um die anderen schert, selbst ihre Freun­dinnen schamlos ausnutzt, keinerlei Respekt gegenüber den Erwach­senen hat und mit offenen Drohungen sogar die Schul­lei­tung schach­matt setzt. Ihre Schwan­ger­schaft, die sie zunächst verheim­licht, bringt ihr dann etwas Nähe und Aner­ken­nung ein, doch da hat sie schon längst eine Abtrei­bung hinter sich, wobei sie am Ende selbst von ihren Lügen eingeholt wird. Als isolierter Einzel­fall taugt Alice nicht, um den Film als mögliche Kritik an einer allzu permis­siven bzw. gleich­gül­tigen rumä­ni­schen Gesell­schaft oder an einer Jugend ohne Perspek­tiven zu sehen, zumal der Film keine Ursa­chen­for­schung betreibt oder nach möglichen Erklärungen sucht. Für ihre Rolle des kleinen Monsters hat Andra Gu?i jedoch den Preis für die beste weibliche Darstel­lerin erhalten, was ange­sichts der vielen heraus­ra­genden Frau­en­fi­guren in anderen Filmen dann doch eher über­raschte.

Yara, Sibel, Diane und die anderen Frauen
Yara im gleich­na­migen Film von Abbas Fahdel hat ihre Eltern durch einen Unfall verloren und lebt in einem von Abwan­de­rung geprägten liba­ne­si­schen Bergdorf bei ihrer kranken Groß­mutter. Sie ist das genaue Gegenteil von Alice, aufmerksam und selbst­be­wusst, wobei auch sie gegen die Regeln der Gesell­schaft verstößt, als sie sich auf einen fremden jungen Reisenden einlässt und mit ihm gemeinsam das abge­le­gene Tal erforscht. Die aufkei­mende Liebe zwischen den beiden wird auf eine harte Probe gestellt, als der Mann sie bittet, mit ihm gemeinsam zu emigrieren.
Ebenfalls in einem kleinen Bergdorf irgendwo in der Türkei spielt der ethno­gra­fisch ange­hauchte Film Sibel von Guillaume Giova­netti und Çagla Zencirci, eine Kopro­duk­tion zwischen Frank­reich, Deutsch­land, Luxem­bourg und der Türkei, die bereits einen deutschen Verleih gefunden hat, in Locarno den Preis der FIPRESCI und der Ökume­ni­schen Jury glei­cher­maßen sowie einen 2. Preis der Jugend­jury erhielt. In diesem Bergdorf unter­halten sich die Menschen über große Entfer­nungen hinweg in einer ausdif­fe­ren­zierten Pfeif­sprache. Sibel, die ältere Tochter des Bürger­meis­ters, ist stumm, kann sich nach einer Krankheit in der Kindheit nur in dieser Vogel­sprache ausdrü­cken und wird im Dorf als Außen­sei­terin gemieden. Um endlich die ersehnte Aner­ken­nung zu finden, streift Sibel fast täglich durch die Wälder, um einen Wolf zu erlegen, der angeblich das Dorf bedroht, von den Männern aber nur erfunden wurde, um die Frauen daran zu hindern, das Dorf zu verlassen. Als Sibel auf ihren Streif­zügen einen verwun­deten Mann entdeckt, der den Mili­tär­dienst verwei­gert hat und von der Polizei gesucht wird, beginnt sie durch diese Begegnung sich selbst und die Umwelt plötzlich mit ganz anderen Augen zu sehen. Die beein­dru­ckend gespielte, mitunter viel­leicht etwas vorher­seh­bare Geschichte einer Eman­zi­pa­tion und des Umgangs mit dem Fremden handelt von Grenzen aller Art und Möglich­keiten der Kommu­ni­ka­tion, wobei auch die poli­ti­sche Dimension nicht ausge­spart bleibt.
Diane im gleich­na­migen Debüt­spiel­film von Kent Jones wird über­zeu­gend verkör­pert von der erfah­renen US-Schau­spie­lerin Mary Kay Place. Diane aus Massa­chu­setts hat sich ihr Leben lang für andere einge­setzt und aufge­op­fert, nicht zuletzt für ihren schwer drogen­ab­hän­gigen Sohn, der sich am Ende einer funda­men­ta­lis­tisch geprägten christ­li­chen Sekte anschließt und daraufhin seine Mutter bekehren will. Diane fühlt sich einsam und ausge­brannt, obwohl sie ständig von Menschen umgeben ist, die ihr wohl­ge­sonnen sind und ihre Hilfe dankbar annehmen. In einer Mischung aus Gegenwart und Vergan­gen­heit lässt der Film das Leben dieser gereiften Frau Revue passieren, die erst im Alter wirklich zu sich selbst findet.
Nicht zuletzt passt auch der italie­ni­sche Beitrag Menocchio von Alberto Fasulo in die Rubrik mit starken Frau­en­fi­guren. Nach einem authen­ti­schen Fall von Inqui­si­tion Ende des 16. Jahr­hun­derts in Italien wird ein einfacher Müller aus einem abge­le­genen Bergdorf der Ketzerei beschul­digt, weil seiner Erfahrung nach die Jungfrau Maria ihr Kind nur durch eine normale Schwan­ger­schaft zur Welt bringen konnte. Der Müller unter­schätzt dabei die Gefahr, die ihm und der Familie seitens der Kirche droht, aber er kann sich voll auf seine Frau verlassen, die fest zu ihm h ält.

Ambi­va­lentes aus Deutsch­land
Gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht. Das trifft in beson­derer Weise auf den deutschen Wett­be­werbs­bei­trag Winter­mär­chen von Jan Bonny zu. In Anspie­lungen auf Heinrich Heine, das »Sommer­mär­chen« der Fußball­welt­meis­ter­schaft 2006, den vom Regisseur genau verfolgen NSU-Prozess gegen Beate Tschäpe und den am Ende des Films zitierten Text des Liedes »Schrei nach Liebe« der Musik­gruppe »Die Ärzte« geht es in dem provo­kativ ange­legten Film um eine drei­köp­fige rechte Terror­zelle, die sich auf sado­ma­so­chis­ti­sche Weise selbst zerfleischt und in einer Serie brutaler Morde gegenüber Migranten einen Akt der Selbst­be­freiung sieht. Den gefähr­li­chen Klischee­vor­stel­lungen und allzu einfachen Erklärungs­mus­tern der rechts­extremen Szene über Ausländer und Migranten lässt sich aber nicht auf dem gleichen platten Niveau begegnen mit drama­tur­gisch über­spitzten Klischees über die psychi­schen und patho­lo­gi­schen Defekte von Rechts­extremen, die in Wirk­lich­keit viel breiter aufge­fächert ist. Ein beson­derer Erkennt­nis­ge­winn oder wenigs­tens ein Ansatz zur weiteren Reflexion, wie es dem später von den Toten Hosen geco­verten Lied viel­leicht noch ansatz­weise gelingt und im Bereich des Films Kriegerin von David Wnendt vor einigen Jahren sogar glückte, lässt sich aus den schwer konsu­mier­baren und breit ausge­tre­tenen Macht-, Sex- und Gewalt­szenen in Bonnys Films jeden­falls nicht ziehen.
Die psycho­lo­gisch verbrämte Konstruk­tion geistig und seelisch aus dem Gleich­ge­wicht geratener Figuren scheint derzeit wohl ein Problem des deutsch­spra­chigen Films insgesamt zu sein. Im auf der Piazza urauf­ge­führten neuen Film Was uns nicht umbringt von Sandra Nettel­beck steht erneut ein Psych­iater im Mittel­punkt, der sich in eine seiner Pati­en­tinnen verliebt und auf diese Weise auch anderen Patienten nicht mehr gerecht werden kann, die alle ein bisschen »bluna« sind. In den Rollen durchweg gut gespielt, verliert sich der Film in zu vielen Neben­strängen und wird auch dadurch nicht wirk­lich­keitsnah, indem sich wie durch ein Wunder am Ende alle Konflikte in Luft auflösen. Deutsch­land, oh Wunder­land! – Ähnlich blutleer und zu konstru­iert wirkt der Schweizer Wett­be­werbs­bei­trag Glau­ben­berg von Thomas Imbach über eine inzes­tuöse Liebes­be­zie­hung zwischen Bruder und Schwester, die von der Umwelt genau regis­triert, aber offenbar völlig ignoriert wird.
Zur Ehren­ret­tung des deutschen Films gab es in der Reihe »Cineasti del presente« das Erst­lings­werk von Eva Trobisch mit dem fast program­ma­tisch klin­genden Titel Alles ist gut: Der bereits auf dem Filmfest München ausge­zeich­nete Film erhielt in Locarno den Preis für den besten Debütfilm und handelt von einer selbst­be­wussten, beruflich erfolg­rei­chen jungen Frau, die unter Alko­hol­ein­fluss, aber eindeutig gegen ihren Willen von einem ehema­ligen Schul­ka­me­raden und jetzigen Team­kol­legen verge­wal­tigt wird und nun schwanger ist. Unbe­greif­lich, dass ihr so etwas passieren konnte und selbst wenn sich der Täter reumütig entschul­digte, wähnt sie sich weiterhin in der Rolle der starken Frau, die das alles einfach wegste­cken kann, bis sie von ihrem Trauma brutal eingeholt wird.

Vorge­fun­dene Realität
Ohne seine Doku­men­tar­filme wäre auch das Festival in Locarno nur halb so gut. M von Yolande Zauberman und damit der zweite von einer Frau gedrehte Wett­be­werbs­film gewann den Spezi­al­preis der Jury. Er wagt sich an eines der letzten großen Tabu­themen in ultra­or­tho­doxen jüdischen Gemeinden, nachdem vor einigen Jahren bekannt wurde, dass auch Ultra­or­tho­doxe schwul sein können, warum auch nicht? Doch Menahem Lang, der in der streng reli­giösen Gemeinde von Bnei Berak aufwuchs und ein muster­gül­tiger Talmud­schüler und Sänger war, wurde als Kind syste­ma­tisch von einem Rabbiner und anderen Gemein­de­mit­glie­dern verge­wal­tigt und – wie sich im Verlauf des Films heraus­stellt – er war alles andere als ein Einzel­fall. Jahre später sucht er im Rahmen des Films die Orte seiner leid­vollen Erfah­rungen erneut auf und möchte seine Peiniger zur Rede stellen. Aber nicht aus Rache, sondern um endlich Ruhe zu finden und den Teufels­kreis zu durch­bre­chen, in dem so viele Menschen immer noch gefangen sind. Ein thema­tisch beein­dru­ckender Film, mit Hand­ka­mera gedreht, oft mitten in der Nacht und auch sonst von schwarzen Flächen und Gewändern geprägt, in denen das Licht und die hellen Gesichter zwar klein, aber umso deut­li­cher hervor­treten. Ein Film auch als gelungene Selbst­the­rapie und mit einer großen Geste der Versöh­nung.
Das Thema des sexuellen Miss­brauchs findet sich natürlich nicht nur in jüdischen Gemeinden. Eine angehende Nonne aus Berlin wurde in einem Pries­ter­se­minar in unmit­tel­barer Nähe des Papstes in Rom syste­ma­tisch verge­wal­tigt, bis sie einen Weg fand, sich aus dieser Opfer­rolle zu befreien, wenn auch ohne päpst­liche Unter­s­tüt­zung. Dies ist eines von vier exem­pla­ri­schen ausge­wählten Frau­en­schick­salen aus west­li­chen, fernöst­li­chen und afri­ka­ni­schen Ländern in Barbara Millers Doku­men­tar­film #Female Pleasures – der nebenbei ein komplett ausver­kauftes Kino bescherte. Um weibliche Freuden ging es dabei nicht, vielmehr um den Kampf um Gleich­be­rech­ti­gung und gegen die bis heute andau­ernde syste­ma­ti­sche Unter­drü­ckung der weib­li­chen Sexua­lität überall auf der Welt, sei es durch genitale Beschnei­dung oder die in Japan noch unter Strafe gestellte Abbildung des weib­li­chen Geschlechts­or­gans, während der Phallus offiziell verehrt wird und Jung und Alt genuss­voll am Eis in Form eines Phallus lecken.
Zwei heraus­ra­gende fran­zö­si­sche Doku­men­tar­filme dürfen an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben: L’Époque von Matthieu Bareye lässt nach den Terror­an­schlägen in Frank­reich über einen Zeitraum von drei Jahren hinweg Jugend­liche, die auf der Straße protes­tieren und sich nach einer besseren Gesell­schaft sehnen, ausführ­lich zu Wort kommen – Einhei­mi­sche wie Zuge­reiste glei­cher­maßen. Dabei gelingt es dem Film, etwas von der Wut und Frus­tra­tion, aber auch von der Kraft und der Hoffnung dieser Gene­ra­tion einzu­fangen.
Und nach dem Preis­trä­ger­film aus der »Semaine de la critique« Le Temps des forêts von François-Xavier Drouet wird man jeden Wald mit voll­kommen anderen Augen betrachten, wobei die alte Rede­wen­dung, den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen zu können, hier eine völlig neue brisante Bedeutung gewinnt, die den lebens­not­wen­digen Schutz des Waldes ad absurdum führt. Große Teile des Waldes zumindest in Frank­reich sind ökolo­gisch bereits eine Wüste ohne jegliches Leben, längst kein erhal­tens­werter Rück­zugsort mehr für Tiere und Menschen. Nur noch eine ausschließ­lich auf Gewinn­ma­xi­mie­rung angelegte Nutz­fläche, deren Verwer­tung ganze Arbeits­plätze und Exis­tenzen vernichtet. Ein ökolo­gisch intakter Wald – viel­leicht bald nur noch im Kino zu sehen.