14.05.2018
71. Filmfestspiele Cannes 2018

Girls with guns...

Ash is purest White
Sensibles, facettenreiches Porträt der Zeitgeschichte Chinas: Jia Zhang-kes Asche ist reines Weiß
(Foto: Neue Visionen)

Die Todgeweihten: Amour Fou und ein Frauenbataillon – Cannes-Notizen, 5. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Tomorrow is a day for Victory«
aus: »Les Filles du Soleil«

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»Schau dich doch mal um, Cannes ist ein Grei­sen­heim« meinte Carlos vom BR durchaus gutge­launt heute Morgen, als wir auf die erste Vorstel­lung warteten. Was er meinte: Das Alter vieler Film­kri­tiker und Einkäufer, die mit uns in den Reihen saßen. Und die Filme werden von älteren Leuten für diese älteren Leute ausge­wählt. Ich glaube, Carlos irrt sich. Denn tatsäch­lich sind viele Film­kri­tiker und Fach­be­su­cher bereits jünger als wir, die wir auch schon 15 oder mehr Jahre herkommen. Es ist nur so, dass die (noch) nicht alle eine so gute Akkre­di­tie­rung haben, wie wir, und daher nicht auf den besonders guten Plätzen im »Orchestre« des »Grand Théâtre Lumière« sitzen, sondern oben im Balkon. Ich erinnere mich noch an mein erstes Cannes, 2003, wie ich dort oben völlig unaus­ge­schlafen »Matrix Reloaded« geguckt habe, und trotz des infer­na­li­schen Krachs immer wieder wegnickte.
Und die Filme­ma­cher? Die sind auch eher jung. Gerade in diesem Jahr versucht Cannes, nicht nur die Filme der üblichen Verdäch­tigen zu zeigen, sondern auch Neues zu entdecken. Und junge Regis­seure zu pflegen.

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Zum Beispiel Alicia Rohr­wa­cher. Ich bin es unseren Lesern sowieso noch schuldig, die Ergeb­nisse der alljähr­li­chen Auftakt­wette nach­zu­rei­chen. Diesmal haben nur sechs Leute mitge­macht – was auch damit zu tun hatte, dass das Festival in diesem Jahr einen Wochentag früher begonnen hat, und viele Freunde erst am Eröff­nungstag angereist sind. Nächstes Mal also Online. Im Topf sind damit diesmal nur 30 Euro – mal sehen, wer sie bekommt.
Nil aus Istanbul tippt auf Jia Zhang-ke – »das mache ich einfach immer. Denn irgend­wann wird er gewinnen und ich damit auch«. Ernesto aus Chile wettet auf Matteo Garrone. Engin aus Istanbul auf Nadine Labaki – im Ernst? fragen wir anderen. Michael aus Berlin auf den Franzosen Stéphane Brizé – ein sehr guter Tipp, dachte ich dann bei den Ausschnitten bei der Eröff­nungs­feier einen Tag später. Torsten, Verleiher aus Berlin, hatte mich erstmal zur Brust genommen, weil ich »unseren« Bauhaus-Film auf artechock verrissen habe – worauf ich ihm erklärte, »was sein muss, muss sein.« Dann setzt Torsten auf den Kasachen Sergeij Dvorts­evoy, dessen Tulpan ich vor etwa zehn Jahren ganz und gar nicht gemocht hatte. Er bringt Dvorts­evoys neuen Film aber heraus, insofern ist der Tipp auch einer der Hoffnung. Was sein muss, muss sein.
Und mein eigener Tipp? Eben Alicia Rohr­wa­cher – deren Nachnamen man auf dem A betont, wie ich seit einem gemein­samen Abend in Buenos Aires weiß. Ich gebe zu, dass ich mich im Vorfeld des Festivals mehr auf andere Filme gefreut habe, am meisten natürlich auf den Godard. Aber wenn in diesem Jahr mit »Me Too«&Sexskan­dalen und einer weiblich majo­ri­sierten Jury nicht eine Frau die Goldene Palme gewinnt, wann dann? Viel­leicht wenn wieder einmal ein richtig guter Film von einer Frau zu sehen ist. Unter den dies­jäh­rigen vier Regis­seu­rinnen im Cannes-Wett­be­werb ist Rohr­wa­cher aber ohne Frage die inter­es­san­teste und beste.
In Rohr­wa­chers neuen Film bin ich dann am Sonntag nicht rein­ge­kommen – den muss ich also am Samstag bei den Wieder­ho­lungs­vor­stel­lungen vor der Preis­ver­lei­hung eben nachholen.

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Ist es eigent­lich gut, dass man jetzt immer, wenn irgendwo keine Frau beteiligt ist, oder Frauen mehr­heit­lich beteiligt sind, nicht mehr nur an Selbst­ver­s­tänd­lich­keiten wie Gleich­be­rech­ti­gung und Eman­zi­pa­tion und womöglich Femi­nismus denkt, sondern immer auch »Me Too«, Sexismus, schmie­rige Annähe­rungen mitdenkt? Ich glaube nicht. Ich glaube, es wird mittel­fristig den Frauen eher schaden, sie in ein eher noch geschlos­se­neres Wahr­neh­mungs-Ghetto sperren. Denn Gleich­be­rech­ti­gung ist ja nicht etwa wegen Sexismus nötig.

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Die Weisheit, dass in der Film­in­dus­trie Frauen zu wenig zum Zuge kommen, ist nicht neu: Doch auch Cannes wurde jetzt dazu genutzt, die Sicht­bar­keit des Problems und der ekla­tanten Ungleich­be­hand­lung zu erhöhen. 82 berühmte Film­frauen demons­trierten am Wochen­ende auf dem Roten Teppich – keine Kritik am Festival, sondern am Zustand des Kinos.
Ein bisschen ist der Auftritt natürlich auch Selbst­ver­mark­tung der Betei­ligten und wohlfeile Sonn­tags­rede.
Gerade 50 Jahre nach dem Mai ‘68 darf man daran erinnern: »the revo­lu­tion will not be televised«!

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Aber was erzählen uns nun die Filme? Sie zeigen zum Beispiel eine Frau in einer Männer­welt. Eine Mafia­b­raut. In den ersten Minuten des chine­si­schen Wett­be­werbs­bei­trags »Ash is the purest White« wird sie schnell charak­te­ri­siert: Qiao kommt aus der Provinz, ihr Vater ist ein Gewerk­schafts­führer, der einen aussichts­losen Kampf für die Minen­ar­beiter führt. Qiao ist hart, sie kann kämpfen. Ohne Waffen. Und sie kämpft für ihren Freund, Bin, einen Gangs­ter­boss. Aber sie hat eher konven­tio­nelle Träume, sie will Familie mit Bin, Sicher­heit, aus der Stadt heraus­ziehen. Als sie doch einmal, um Bin bei einem Angriff vor dem Tod zu retten, eine Waffe benutzt, wird dies ihr Verhängnis – fünf Jahre Haft für Waffen­be­sitz.
Dies ist auch ein Einschnitt in diesem Film. Regisseur Jia Zhang-ke erzählt danach davon, wie Qiao sich ihr Leben, oder was davon übrig blieb, zurück­holt. Wie aus der, die nie eine Mafiafrau sein wollte, eine wird.

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Der Anfang ist großartig: Die erste Szene zeigt einen voll­be­setzten Bus. Die zweite Qiao in einer Spiel­hölle ihres Freundes. Männer spielen Mahjong. Qiao bewegt sich souverän, sie ist Herrin der Situation. Aus dem Off fällt im Gespräch das Datum: 2.4.2001. Dann will einer gelie­henes Geld von anderen, der leugnet, dass er es lieh, Bin fragt nach, lässt ihn dann vor der alten Buddha-Statue schwören: Da sagt er die Wahrheit. Die alten Mythen funk­tio­nieren noch, erzählt diese Szene.
Zuvor zog er drohend eine Waffe. Die kassiert Bin ein – da kommt also jene Knarre her, die Qiao zum Verhängnis werden wird.

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Dann erst kommen die Anfangs­credits: Zur Musik von John Woos  The Killer – in China offenbar auch 12 Jahre danach und nach wie vor ein Knaller –, eine subtile Anspie­lung viel­leicht auch an das Jahr der Entste­hung des Films: 1989, das Jahr von Tiananmen.
Zu den Credits sehen wir die Jungs der Mafia. »Wir sind alle Brüder« – China im Aufbruch.

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Wäre der ganze Film so ausge­zeichnet wie sein Anfang, wäre er der eindeutig beste des bishe­rigen Wett­be­werbs. Aber er hält den guten Anfang nicht ganz, franst am Schluss etwas aus. Nicht dass die zweite Hälfte irgendwie schlechter wäre, sie ist nur weniger zwingend, doku­men­ta­risch suchend und zeigend, weniger Spiel­film­kino.

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Wir sehen Chinesen in einer Disco tanzen zu »YMCA«. Wir erleben, wie die Mafia mit Immo­bi­lien handelt, und bekommen eine Ahnung vom Immo­bi­li­en­boom jener Jahre.
Wir sehen eine Unter­hal­tung: Qiao und Bin gucken über ein Tal auf einen Vulkan. Ob er wohl noch aktiv ist, fragt sie. Sie will Familie, aufs Land ziehen. »Enjoy the Moment« sagt er. Die uralte Mann-Frau-Geschichte.
Wir sehen zwei Handvoll Mafi­a­typen, die einen Film sehen. Es soll m.E. The Killer sein, weil dessen Musik wieder kommt, es könnte  A Better Tomorrow sein, es ist aber Tragic Hero von Taylor Wong – so oder so eine Erin­ne­rung an den Charme der alten Filme, ihre Grazie.
Sie reden über die Waffe. »Armed men tend to die first.« sagt er. Aber auch: »For people like us it’s always kill or be killed.« Sie: »Was heißt das: people like us?« Darauf Bin: »Jianghu – Unterwelt. Wo immer es Menschen gibt, gibt es Mafia.«
Dann kommt der Tag, der ihr Leben ein für allemal ändert, an dem sie die Waffe zieht und dreimal in die Luft schießt. Erst später nach dem Frau­en­ge­fängnis und nach einem Wieder­auf­stieg unter hohen Risiken sagt sie: »Jetzt bin ich Jianghu«.
Sie hat gelernt, dass ihr nichts geschenkt wird. Die chine­si­sche Lektion.

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Jia Zhang-ke, mit 47 immer noch jung, ist eine der profi­lier­testen Stimmen des chine­si­schen Gegen­warts­kinos, und gewann bereits vor 12 Jahren in Venedig den Goldenen Löwen. In seinem neuen Film erzählt Jia von einer kühlen, nur halb glückenden Amour Fou, die sich über einen Zeitraum von 18 Jahren erstreckt und so zu einem sensiblen, facet­ten­rei­chen Porträt der Zeit­ge­schichte Chinas wird. Zudem ist Jia ja auch ein sehr guter Doku­men­tar­film­re­gis­seur, und hier arbeitet er wieder semi-doku­men­ta­risch, kehrt zudem an den »Drei­schluch­ten­stau­damm«, den Schau­platz eines seiner größten Erfolge, Still Life, zurück.
Im Einzelnen ist »Ash is the purest White« ein bissiger und sati­ri­scher Film, im Ganzen sehr zeit­genös­sisch, weil er vom rohen Kapi­ta­lismus erzählt. Indem er 2001 beginnt und 2018 endet, führt sein Film einen Wett­be­werb endlich in unsere Gegenwart, dessen Geschichten zuvor fast sämtlich in den unter­schied­li­chen Vergan­gen­heiten des 20. Jahr­hun­derts ange­sie­delt waren.

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Pure Gegenwart ist dann Eva Hussons Film »Les Filles du Soleil«, ebenfalls aus uner­klär­li­chen Gründen (oder als »böser Witz« des Festi­val­di­rek­tors, wie die ihm offenbar nicht so wohl­ge­son­nene Hannah Pilarczyk im »Spiegel« anmerkt) im Wett­be­werb – dieser in Spiel­film­form verfilmte Zeitungs­ar­tikel über ein Frau­en­ba­taillon der kurdi­schen Peshmerga im Krieg gegen die ISIS ist zu pathe­tisch und naiv heroi­sie­rend, um auch nur politisch zu über­zeugen. Die Zukunft des Kinos findet man hier nicht, und sich über einen Kriegs­film zu freuen, weil er nun Frauen statt Männern die Kala­sch­nik­offs in die Hand drückt, dürfte auch nicht die letzte Weisheit des Femi­nismus sein. Wenn jeden­falls dies das Ergebnis aller Bemühungen um mehr Frauen im Kino sein sollte – dann lässt man es besser, auch wenn selbst­ver­s­tänd­lich nicht nur Männer das Recht haben, schlechte Filme zu machen. Nach­den­kens­werter als diese mit Musik zuge­schmierte Pein­lich­keit war da die Demons­tra­tion der 82 Frauen. Was von ihr wirklich bleibt, außer wohl­feilen Gesten wird man aber erst in den nächsten Jahren sehen.
Nach noch nicht einmal der Hälfte des Wett­be­werbs sucht die dies­jäh­rige Konkur­renz zwischen vielen guten Beiträgen also noch ihre Konturen.

(to be continued)