12.05.2018
71. Filmfestspiele Cannes 2018

The art of kissing around

Leto
Leto ist ganz großes Kino...
(Foto: Weltkino)

Die Romantik der analogen Welt: Mehr als gelungene Filme von Honoré und Serebrenikov und eine neue Kinowelle aus Russland? – Cannes-Notizen, 3. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Summer!
Recently I've heard somewhere
That a comet will come soon
And we will all die.

Strophe aus »Sommer« von »Zoopark«

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Es wird der Nach­mittag sein, an dem alles anfing: Ein Sonntag am Strand, eine Gruppe Jugend­li­cher, mit Wein, Wodka, Musik, irgend­wann wird nackt gebadet und am Lager­feuer gesungen, und die zwei Neuen in der Gruppe gehören nun auch dazu. Eines der Lieder heißt »Sommer«, auf Russisch »Leto«...

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Es könnte überall sein; wir aber wissen, wenn wir das sehen, bereits: Es ist bei »Leningrad, in den frühen 80ern«, wie ein Insert erzählte, weit weg vom Sowjet­staat. Ein paar Girls sind gleich zu Beginn durch einen Hinterhof, per versteckter Leiter und durchs Fenster des Männer­klos in ein Konzert gekommen, das offenbar sehr begehrt ist, aber nicht illegal, denn ein paar Herren von der Partei sorgen dafür, dass Plakate mit Fanbot­schaften und allzu enthu­si­as­tisch zur Schau getragene Emotionen schnell wieder verschwinden. Es spielt »Zoopark«, wir sehen den Frontmann »Mike«, wir sehen Natasha, von der sich schnell heraus­stellt, dass sie Mikes Freundin ist, wir sehen einen ganzen Haufen Leute, die wir bald besser kennen­lernen werden in diesem Film.
Zuerst bei der Strand­szene: Weil es UdSSR ist, blickt man anders hin, bemerkt Adidas-Schuhe, westliche Musik, westliche Namen. Der Westen als Vorbild.
Man bemerkt dann gleich, dass die Kamera sehr gut ist, dass sie sensibel beob­achtet, die Blicke der Figuren aufein­ander glänzend und präzis auffängt, Bezie­hungen stiftet, wie ein Teil­nehmer ist.
Mike, der Lead­sänger von »Zoopark«, wird von allen verehrt, sein Wort ist Gesetz und tatsäch­lich wird er für die Gruppe der zwei Neuen zum Namens­geber: »Garin and the Hyper­bo­loid«, die erst später »Kino« heißen wird. Ein Gott.
Heute sind die Punk-Rock-Gruppen »Zoopark« und »Kino« Musik­le­genden, Anfang der 80er Jahre waren sie der erste Vorschein einer besseren Zukunft, die unter den Begriffen »Glasnost« und »Perestroijka« bald auch den Westen verzau­berte und für die neuen liberalen Seiten der Sowjet­kultur einnahm. An diesem Nach­mittag fing alles an.

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Leto im Wett­be­werb von Cannes erzählt diese Geschichte vom Herbst des sowje­ti­schen Jahr­hun­derts und von einem früh­lings­haften Aufbruch unter den Lenin­grader Jugend­li­chen der frühen 80er Jahre. Während die UdSSR gerade in Afgha­ni­stan einmar­schiert ist, entdeckt ein Dutzend 20-Jähriger westliche New Wave und Punkmusik, von den Stones bis zu Police, von Bowie bis Blondie. Und das System weiß, dass es mit purer Repres­sion nicht weit kommt, es duldet Popkultur, neuartige Bands und deren Auftritte, solange keine »Dekadenz« droht und poli­ti­sche Lini­en­treue weit­ge­hend garan­tiert ist (»Soviet musicians must find all that*fs good in humanity«) – inmitten dieses kultu­rellen Tauwet­ters platziert der Film seine Figuren. Die Handlung basiert auf einer auto­bio­gra­fi­schen Vorlage von Natalia Naumenko, dem realen Vorbild für Natasha. Natasha (Irina Stashen­baum) ist intel­li­gent, charmant, sexy. Viktor (Teo Yoo) rätsel­haft und zu allen außer zu Mike (Roman Bilyk) und Natasha abweisend.
Schon am Strand zu Anfang, schon in der Haltung der Kamera, noch vor den ersten Blicken ist klar, dass Natasha und Viktor sich fürein­ander inter­es­sieren. Die Drei­ecks­lie­bes­ge­schichte sorgt neben der Musik für emotio­nale Dynamik, doch unter dem Glück des Aufbruchs junger Menschen lauern Melan­cholie und tiefe Verzweif­lung.
Die drei Haupt­fi­guren werden sehr gleich­be­rech­tigt behandelt. So kann man im Publikum sich seine Favoriten heraus­su­chen. Meiner ist Mike, nicht nur wegen der schönen, trotzdem beiläu­figen Sätze, die ihm das Drehbuch gibt – »Lazyness is my best ability – it keeps me out of so many troubles.« oder »You know, that holding hands with each other is the hardest thing of all.« – sondern weil er der Groß­zü­gigste ist: Er gibt Namen, Ideen, Songs, Studio­ver­träge, und geht spontan auf die Bühne, um eine miss­glückte Perfor­mance mit seinem Charisma zu retten. Er hilft Viktor, obwohl der sein Rivale ist, arran­giert sogar noch die Treffen der beiden – und genau deswegen wird sie sich für ihn entscheiden. Zugleich ist Mike eigent­lich traurig – ein Melan­cho­liker.

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Regie führt der in Russland verfemte, zur Zeit unter Haus­ar­rest gestellte Kirill Sere­bre­n­ikov, trotz einiger Vorgän­ger­filme wie dem bereits auffäl­ligen, wenn auch noch recht sche­ma­ti­schen »Student« eine neue Stimme im inter­na­tio­nalen Kino, und eher von der Bühne bekannt.
Leto ist ganz großes Kino. Was vor allem begeis­tert, ist die Insze­nie­rung, die voll­kommen ohne Thea­ter­ver­weise auskommt: Schwarz­weiß, mit Farb­spreng­seln und Animation, Figuren, die in die Kamera sprechen, und schnell geschnitten, ist alles insgesamt virtuos: Dies ist ein Film voller Romantik, die Romantik der jungen Jahre und die Romantik der analogen Welt. Ein Film, dessen Form wie Figuren und Handlung universal sind und weit über das gewohnte post­so­wje­ti­sche Aufar­bei­tungs­kino hinaus­gehen – eine neue Kinowelle aus Russland, die bisherige Größen des russi­schen Kinos wie Andreij Zvyag­intsev oder auch Sergeij Loznitsa oder Andreij Koncha­lowski über Nacht sehr alt aussehen lässt.

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Wenn Russen gut sind, sind sie richtig gut. Ich könnte noch vieles über diesen Film erzählen, der sofort zum Liebling der Cannes-Besucher geworden ist, und das auch bis zum Ende bleiben dürfte. Das einzige Problem des Films ist die Nostalgie, die Tatsache, dass die Geschichte in der Vergan­gen­heit ange­sie­delt ist.
Die im Kino der Gegenwart gras­sie­rende anti-utopische post­so­wje­ti­sche Ideologie eines notwen­digen Schei­terns im Privaten wie Öffent­li­chen mit ihrem misan­thro­pi­schen, lieblosen und ästhe­tisch häss­li­chen Menschen­bild wird durch »Leto« demen­tiert: Kirill Sere­bre­n­ikov zeigt schöne Menschen, die schöne Dinge machen, er zeigt Freiheit, Musik und Liebe als Quelle von Glück und einen groß­zü­gigen Umgang der Menschen unter­ein­ander.

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Auch der erste fran­zö­si­sche Wett­be­werbs­bei­trag ist eine Zeitreise: Chris­tophe Honoré erzählt in »Plaire, Aimer et Courir Vite« vom schnellen Leben im Schatten von AIDS Anfang der 90er. Auch hier ist die Musik von Anfang an eine der großen Stärken des Films. Die schwule Liebes­ge­schichte ist insofern auto­bio­gra­fisch gefärbt, als auch der offen schwule Honoré wie die Haupt­figur Arthur (Vincent Lacoste) aus der Bretagne stammt, in Rennes studierte, Anfang der 90er mit Anfang 20 als ange­hender Filme­ma­cher nach Paris ging, und viele seiner Freunde an AIDS starben. »I wanted to use fiction to bring back to life the student I was at the time and revive the figure of the writer that I would have dreamed of meeting, which never happened.« (Honoré im Pres­se­heft) – diese Hommage an die Lebenden und an die Toten der 80er (man sieht die Gräber von Koltès, Truffaut und anderen Größen) lebt besonders von ausge­zeich­neten Darstel­ler­leis­tungen. Offen und mäandernd erzählt, viel­leicht zu lang, mit manchmal für meinen Geschmack zu wenig beiläufig einge­setzten Refe­renzen (ein »Querelle«-Poster im Wohn­zimmer), ist dies vor allem eine berüh­rende und mehr­di­men­sio­nale Geschichte über Freund­schaften, über Facetten der Liebe und der Lebens­formen, über das Leben selbst.

(to be continued)