24.05.2018
71. Filmfestspiele Cannes 2018

Girls out of the sun

Girls of the Sun
Einfach nur ein schlechter Film, was man sogar am Foto erkennt: Girls of the Sun
(Foto: Elle Driver / Cannes Filmfestival)

Nur drei Frauen im Wettbewerb, dafür eine weibliche Mehrheit in der Jury. Schon die Ausgangslage in Cannes war eine Steilvorlage für allerlei Positionierungen im Minenfeld zwischen Quote und Filmkunst. Was hatten eigentlich die Filme selbst dazu zu sagen? Ein Rückblick aufs Festival, seine Kritiker und seine (Symbol-)Politik

Von Till Kadritzke

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»Political Correct­ness: Cannes tappt in eine böse Falle«, so war ein Artikel der »Neuen Zürcher Zeitung« während des Festivals über­schrieben. Susanne Ostwald bemühte den beliebten Kampf­be­griff dabei zunächst gar nicht für eine Einschät­zung der bislang gesehenen Filme des dies­jäh­rigen Wett­be­werbs, ihr ging es erst einmal um die Zusam­men­set­zung der Jury um Cate Blanchett. Da diese erstmals mehr­heit­lich mit Frauen besetzt war, und diese Besetzung als Reaktion des Festivals auf eine Kritik an seiner mangelnden Diver­sität inter­pre­tiert wurde, lauerte für viele von vorn­herein eine große Gefahr: dass diese Jury womöglich nicht im Dienste der Filmkunst stehe, sondern auch bei der Preis­ver­gabe dem überall lauernden Diversity-Imperativ folge, dass sie also am Ende einen Film nicht wegen seines ästhe­ti­schen, sondern wegen seines poli­ti­schen Programms auszeichnen würde – oder eben eine der nur drei weib­li­chen Regis­seu­rinnen mit der Goldenen Palme bedenken.

Mancher­orts mag man daher viel­leicht sogar enttäuscht gewesen sein, dass die Goldene Palme schließ­lich an Hirokazu Koreedas Shop­lif­ters (den ich in meinem Zwischen­be­richt bespro­chen habe) ging und damit an einen Film, der sich diesen Preis nicht nur ganz und gar verdient hatte, sondern auch hinsicht­lich einer iden­ti­täts­po­li­ti­schen Einfluss­nahme eher unver­dächtig erschien.

Noch schöner freilich wäre es gewesen, aber dafür war diese Jury viel­leicht nicht cinephil genug, hätte Alice Rohr­wa­cher mit ihrem tollen Lazzaro Felice den Haupt­preis gewonnen. Denn der beste Film des Festivals war ja tatsäch­lich der einer Regis­seurin, und wer dann dort aus der Ferne gerufen hätte, »war ja klar, eine Frau«, hätte auch aus anderen Rich­tungen als den erwart­baren Gegenwind bekommen – und es wäre mehr über den Film geschrieben worden. Ein Preis für Rohr­wa­cher jeden­falls hätte sich niemals mit jener These in Verbin­dung bringen lassen, dass das »Quoten­denken« in Cannes Einzug hält und es in seinem »empfind­li­chen Kern«, der »Qualität«, treffe, wie es in der NZZ heißt.

Einen Film wie den von Rohr­wa­cher anzu­führen hieße aber auch schon, sich auf dieses Duell zwischen Quote und Qualität einzu­lassen, auf das derzeit vieler­orts eine komplexe poli­ti­sche Konstel­la­tion reduziert wird. Dabei tappt man oft in eine andere »böse Falle«: Wenn Ostwald schreibt, das Festival habe sich nach viel Kritik an mangelnder Diver­sität womöglich aus rein poli­ti­schen Gründen dafür entschieden, die afro­ame­ri­ka­ni­sche Regis­seurin Ava DuVernay und die burun­di­sche Musikerin Khadja Nin in die Jury zu berufen, und diese Entschei­dung sei in erster Linie gar eine »Belei­di­gung der beiden Künst­le­rinnen« und eine »Herab­set­zung ihrer Leis­tungen«, so fragt man sich, ob es diese Künst­le­rinnen als Würdigung ihrer Kunst hätten verstehen sollen, wären sie nicht in diese Jury berufen worden.

Haupt­sache quoten­be­freit: Die Paranoia vor einer um sich grei­fenden Diversity-Politik, die Angst, dass bei Entschei­dungen womöglich andere Kriterien als ein vermeint­lich neutraler Kunst- und Quali­täts­be­griff im Spiel sind, läuft im Endeffekt darauf hinaus, dass alles beim Alten bleibt. Wenn jede Frau, jede nicht-weiße oder sonstwie mit Diversity in Verbin­dung gebrachte Person erst mal unter dem Verdacht steht, eine Quoten­person zu sein, bleibt das Reich der »Qualität« jenen vorbe­halten, die jeder poli­ti­schen Einfluss­nahme unver­dächtig sind und die ohnehin seit jeher in Jurys sitzen. Eine altbe­kannte Dynamik in neuem Gewand: Nicht nur weiße Männer können große Kunst machen, aber nur sie können große Kunst machen, deren allge­meine Wert­schät­zung jeglichen Eingriffs anderer Kriterien unver­dächtig ist.

Dass eine gewisse Form des Quoten­den­kens und Filmkunst überhaupt nicht zu trennen sind, zeigte uns beim Festival etwa Spike Lees BlacKkKlansman, den die Jury mit ihrem Großen Preis bedacht hat. Lees Film ist in den 1970er Jahren ange­sie­delt und erzählt die Geschichte von einem schwarzen Poli­zisten, der eine Under­cover-Operation im Ku-Klux-Klan von Colorado leitet, schlägt aber einen großartig großen Bogen: Der Film beginnt mit einer Szene aus Vom Winde verweht und endet mit You-Tube-Clips vom rechts­ra­di­kalen Anschlag in Char­lot­tes­ville. Lee will Geschichte nicht einfach erzählen, sondern für die Gegenwart aufbe­reiten, und in dieser Hinsicht ist BlacKkKlansman ein groß­ar­tiger Thesen­film. In einer Kern­se­quenz klärt Harry Belafonte, der eine Neben­figur spielt, über den so bekannten wie noch immer bezeich­nenden Umstand auf, dass die Geburt des klas­si­schen US-ameri­ka­ni­schen Erzähl­kinos mit »Birth of a Nation« vom für die Geburt dieser Nation konsti­tu­tiven Rassismus nicht zu trennen ist. US-Präsident Woodrow Wilson beschrieb D.W. Griffiths Film, der direkt und unmit­telbar für die Wieder­auf­er­ste­hung des Ku-Klux-Klans in den 1910er Jahren verant­wort­lich war, einst begeis­tert als »writing history with lightning« und schenkte dem Kino damit eine seiner ersten großen Würdi­gungen als Filmkunst. Lees Film sollte uns also nicht zuletzt lehren, dass die Geschichte dieser Kunst nie eine neutrale, sondern immer eine des Ausschlusses war, und dass etwa die schwarzen Filme der Blax­ploita­tion-Ära, deren Plakate nicht umsonst in BlacKkKlansman geschnitten sind, keinem neuen Quoten­denken verhaftet waren, sondern eine Reaktion auf die selbst­ver­s­tänd­liche Quotie­rung der US-ameri­ka­ni­schen Kultur­pro­duk­tion durch die weiße Mehr­heits­ge­sell­schaft.

Natürlich ist die Sache heute, wo das einst notwen­dige Gegenkino im Main­stream ange­kommen ist, obwohl wir von einer geschlech­ter­ge­rechten und rassis­mus­be­freiten Gesell­schaft noch weit entfernt sind, ein bisschen kompli­zierter. Denn dass iden­ti­täts­po­li­ti­sche Verein­nah­mungen des Kinos, die sowohl der Filmkunst wie auch eman­zi­pa­to­ri­scher Politik schaden, kein völliges Hirn­ge­spinst sind, hat das dies­jäh­rige Festival auch gezeigt. Und es ist umso bemerkens- und begrüßens­werter, dass die Jury Eva Hussons doppelt und dreifach als Starke-Frauen-Film beschrif­teten Girls of the Sun bei der Preis­ver­lei­hung links liegen gelassen hat. Das Festival selbst hatte den Film um eine Brigade kurdi­scher Frauen, die gegen den IS kämpfen, als perfektes Setting für eine große symbo­li­sche Geste auser­koren: Vor der Premiere versam­melten sich 82 von Cate Blanchett und Agnès Varda ange­führte Frauen auf der berühmten roten Treppe – die Zahl aller bislang in den Wett­be­werb von Cannes einge­la­denen Filme­ma­che­rinnen, gegenüber 1.688 Filme­ma­chern –, um den Kampf gegen dieses Miss­ver­hältnis auszu­rufen.

Hussons Film scheint für diesen Kampf dann aber keine besonders geeignete Waffe, nicht nur, weil Girls of the Sun einen ästhe­tisch biederen und über­deut­li­chen Kurs fährt, sondern gerade auch, weil er das Bild der bewaff­neten Frau ausge­rechnet über das Begehren nach Heim und Familie herstellt. Antrieb beider Prot­ago­nis­tinnen, Kämpferin Bahar und die fran­zö­si­sche Jour­na­listin Mathilde, ist jeweils das eigene Kind, und der Film verwendet einen unglaub­li­chen Aufwand auf Rück­blenden mit schweren Schick­sals­schlägen, um die weibliche Mobil­ma­chung nach­voll­ziehbar zu machen, ganz als könnte er sich diese anders gar nicht erklären.

Girls of the Sun mag ein sich für symbo­li­sche Gesten anbie­tender »Frau­en­film« sein, dem Femi­nismus erweist er aber geradezu einen Bären­dienst – vor allem, wenn man auf seine radikale Variante blickt, wie sie gerade in Theorie und Praxis der kurdi­schen Befrei­ungs­be­we­gung eine promi­nente Rolle spielt. Von dieser Rolle will Hussons Film mal so gar nichts wissen, umso mehr dafür von der Opfer­be­reit­schaft der Frauen, von ihrem Leid und davon, wie sie trotz allem stark sind, wie sie Heimat- und Kriegs­front vereinen, ange­trieben von Liebe und Schmerz, ganz wie im Melodram.
Susanne Ostwald mag in diesem Fall also tatsäch­lich Recht haben, dass sich die Teilnahme dieses »Machwerks« nur mit dem »neuen Quoten­denken« erklären lässt. Wenn sie aber munter mutmaßt, dass aufgrund dieses Primats der Political Correct­ness fortan die Stars auf dem roten Teppich in Cannes rarer würden, vergisst sie die »Machwerke« von Gus Van Sant (Sea of Trees, 2015) und Sean Penn (The Last Face, 2016), deren einzige Daseins­be­rech­ti­gung im Wett­be­werb eben just die Lieferung von großen Stars für den roten Teppich war.

BlacKkKlansman und Girls of the Sun zeigen damit auf unter­schied­liche Weise, dass vermeint­lich neutrale Begriffe wie »Qualität« und »Filmkunst« niemals neutral sind, dass sich Kampf­be­griffe wie »Quoten­denken« und »Diversity-Zwang« kaum als Analyse-Werkzeuge eignen – und dass sich diese zwei Dynamiken nicht ohne gehörige blinde Flecken und Verall­ge­mei­ne­rungen einander gegen­ü­ber­stellen lassen. BlacKkKlansman, indem er das Kino ganz bewusst und offen­sicht­lich für den Kampf gegen einen neuen Rechts­ra­di­ka­lismus in den USA in den Dienst nimmt, also schamlos iden­ti­täts­po­li­tisch verein­nahmt, aber gleich­zeitig auf die Tatsache verweist, dass am Anfang der Karriere dieses Kinos als Filmkunst eine weiße Iden­ti­täts­po­litik wirkte. Und Girls of the Sun, indem er ein ästhe­tisch-poli­ti­sches Programm fährt, das sowohl aus femi­nis­ti­scher wie aus film­kri­ti­scher Sicht ausein­an­der­ge­nommen gehört – sich nicht einfach als Film verstehen lässt, in dem die Gender-Mafia die Filmkunst unter­drückt.

Anstatt den Eingriff eines Quoten­den­kens ins Reich der Qualität anzu­pran­gern, müssen wir genau hinsehen, müssen wir analy­sieren, wie der Diversity-Diskurs in unter­schied­li­chen Kontexten und mit welchen poli­ti­schen Effekten wirkt und dürfen dabei nie in die Falle gehen, die Filmkunst, in die er angeblich machtvoll eingreift, als das unschul­dige Reich des Schönen zu verstehen, das sie nie gewesen ist.