23.02.2016
66. Berlinale 2016

Un certain regard

Mia Hansen-Løves L'avenir
Mia Hansen-Løves L’avenir mit Isabelle Huppert ist ein kleiner, feiner Film – zu klein für Cannes & Co.
(Foto: Weltkino Filmverleih GmbH)

Zu wenig richtig gutes Kino: Zwischen politischem Themenpark und Wellnesscenter fehlen dem Kino-Supermarkt Berlinale die Maßstäbe und Vielfalt. Das wird auch Monika Grütters bestimmt nicht entgangen sein – Berlinale-Tagebuch, 17. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Es geht dann ja eben letztlich nicht um Botschaften, sondern um Filme.«
Katja Nicodemus

»Ein größerer kreativer Spielraum ist ein zentrales Anliegen der kultu­rellen Film­för­de­rung der BKM.«
Monika Grütters, Kultur­staats­mi­nis­tern, Neue Richt­li­nien zur kultu­rellen Film­för­de­rung

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Samstag, 20.2.2016. Gleich geht’s zur Preis­ver­lei­hung. Zu Ende ist die Berlinale erst in einem Tag, also Sonntag Abend. Aber jetzt schon, wieder rein in den Berli­nal­e­pa­last – warum heißt der eigent­lich »Palast«? –, gerade denke ich wieder an die Eröff­nungs­ver­an­stal­tung vor über einer Woche, die hippelige Kriti­kerin im Fernsehen. Überhaupt: Es gibt so Leute, die nichts Kriti­sches über das Festival und seine Perfor­mance zu sagen haben, immer alles toll oder zumindest okay finden – was keinen Insider verwun­dert, weil es sich leicht durch ihre Nähe zur Berlinale-Auswahl­kom­mis­sion erklärt. Von der wissen nur die Zuschauer und offenbar auch die Redak­teure in den Sendern nichts. Aber was Sender so alles machen...
Da gibt es auch bei einigen Redak­tionen den Hang, an den freien Autoren zu sparen, und dafür entweder verren­tete oder fest­an­ge­stellte (und bereits gut bezahlte) Redak­teurInnen zu beschäf­tigen, die sich damit ein lukra­tives Zubrot verdienen. Auf Kosten der Freien. Vor allem aber sollten die verschie­denen Medien, die hier aus nahe­lie­genden Gründen leider nicht mit Namen nennen will, mehr Selbst­ach­tung haben, und nicht mit »dem Redakteur von...« und »der Film­kri­ti­kerin von...« zu glänzen, sondern mit eigenen Leuten.
Einen will ich doch beim Namen nennen: Den »Tages­spiegel«. Da schreibt der sonst wirklich von allen »Tages­spiegel«-Autoren am meisten sehr geschätzte Peter von Becker über Das Tagebuch der Anne Frank. Er bewertet den Film positiver als die meisten anderen, die ich kenne – was er bestimmt aus ganzem Herzen tut. Nur wäre es in diesem Fall halt doch schön und ange­messen gewesen, von der Redaktion dazu zu schreiben, dass der Fischer-Verlag, bei dem Anne Franks Tagebuch auf Deutsche erscheint, und vor allem die AVE, Produk­ti­ons­firma des Films, zum Holtz­brinck-Verlag gehören – wie zufäl­li­ger­weise auch der »Tages­spiegel«.
Da möchte man doch wissen, ob auch ein Text hätte erscheinen dürfen, in dem der Film verrissen wird.

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Schade, dass sich Lobby­con­trol und Trans­pa­rency Inter­na­tional für Medien und öffent­liche Insti­tu­tionen so gar nicht zu inter­es­sieren scheinen. Dabei würden sie vieles finden.
Wie schon früher mal gesagt: Wir brauchen Whist­le­b­lower im deutschen Film wie in den deutschen Medien.

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Die Spannung vor der Preis­ver­lei­hung war nicht sonder­lich groß, denn alle Berlinale-Spatzen hatten es schon von den Dächern gepfiffen, was Meryl Streep als Präsi­dentin der inter­na­tio­nalen Jury dann am Sams­tag­abend im Berliner Berlinale-Palast verkün­dete: »The Golden Bear goes to Fuoco­ammare, Fire at Sea, Gian­franco Rosi...«

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Fuoco­ammare – Feuer auf dem Meer. Dieser Film, ein essay­is­ti­scher, also in seiner Haltung auch sehr persön­li­cher, subjek­tiver Doku­men­tar­film vom Italiener Gian­franco Rosi, ist ein Preis, so verdient wie erwartet. Denn seit seiner Premiere am zweiten Berlinale-Tag war klar, dass dieser Film künst­le­ri­schen Form­an­spruch mit jenem offen­kundig Poli­ti­schen verbindet, auf das die Berlinale so stolz ist, dass sie es zu ihrem Marketing-Allein­stel­lungs­merkmal erklärt hat. Die Vorher­seh­bar­keit des Preises kümmert nur Festi­val­profis, die sich nach zehn Tagen etwas lang­weilen; sie macht Rosis Film nicht schlechter.
Gerade dass Fuoco­ammare das Leben der Italiener auf der Insel Lampedusa und den Über­le­bens­kampf der Flücht­linge auf ihren über­la­denen Booten vor der Insel nicht verbindet, das er dem Offen­sicht­li­chen ausweicht – also nicht die Italiener danach fragt, was sie zum Beispiel über die Flücht­linge denken –, und dass er dahin geht, wo es wehtut, das wirklich Unan­ge­nehme zeigt, wie Leichen und Sterbende – was Rosi von manchen Älteren und Altba­ckenen in diesen Tagen dann den im Bild­me­dium Kino merk­wür­digen Vorwurf des Voyeu­rismus einbrachte –, macht Fuoco­ammare zu einem Para­de­bei­spiel poli­ti­scher Moral und hebt den Film über übliche Repor­tagen im Fern­seh­re­por­tagen-Infostil hinaus.

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Ästhe­tisch war Rosis Sieger­film insofern ohne Frage der radi­kalste unter den poli­ti­schen Themen­filmen. Rosi selbst wollte, wie er in Berlin erklärte, diesen Film vor allem als Betrach­tung Europas verstanden wissen, seiner Ohnmacht und Unfähig­keit, mit der Heraus­for­de­rung durch die Flücht­linge aus dem Süden ange­messen umzugehen.

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Der Preis ist verdient, zugleich bedient er die im letzten Jahrzehnt nicht nur in Berlin zunehmend gras­sie­rende Tendenz, Themen und Haltungen auszu­zeichnen, nicht deren künst­le­ri­sche Umsetzung.
Kann man wirklich einen essay­is­ti­schen Film mit einem Spielfilm verglei­chen? Oder sind solche Preis­ver­gaben nur Symptome für den Verlust der Urteils­kraft?

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Da hätten wir ihn nun also, den Sieger. Ein nicht unver­dienter Preis. Aber auch wenn man radikale Filmkunst im Wett­be­werb komplett vermisste, hätte man sich schon noch andere Sieger vorstellen können, etwa L’avenir von der Französin Mia Hansen-Løve, mit Isabelle Huppert als Philo­so­phin in einer Lebens­krise – fast eine Komödie, die immerhin den Regie­preis gewann. Oder den glän­zenden epischen Portu­giesen Cartas de Guerra, eine Antunes-Verfil­mung – aber dieser Film war komplett Schwarz­weiß und im Gegensatz zum auch schwarz­weißen Phil­ip­pinen nicht einschüch­ternde acht Stunden lang. Ebenso verdient war, dass der deutsche Beitrag, der Studen­ten­ab­schluss­film 24 Wochen ohne Auszeich­nung blieb.

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Aber hätten Hansen-Løve, Diaz oder Ferreira gewonnen, wäre die Berlinale nicht die Berlinale, das selbst­er­nannte poli­tischste aller Film­fes­ti­vals der Welt. Und wenn man unter Politik die Menge des Themen-Angebots im Film-Super­markt zählt, dann stimmt diese behag­liche Selbst­be­schrei­bung auch.
Insofern war 2016 eine passable, eini­ger­maßen gute Berlinale, mit einem Wett­be­werb, der ein höheres Durch­schnitts-Niveau hatte, als der der letzten Jahre. Es gab keine krassen Pleiten, sieht man einmal von dem geschmack­losen Alone in Berlin ab, der Fallada keinen Gefallen tut. Zugleich fehlten auch die zwei, drei cine­philen High­lights, die selbst in ganz schlechten Berlin-Jahren früher zu sehen waren. Filme wie der Iraner Nader und Simin – Eine Trennung oder der Ungar Das Turiner Pferd gab es nicht.
Auch in den Neben­reihen gab es starke Filme, man konnte viele Entde­ckungen machen – es wäre aller­dings auch schlimm, wenn das unter 435 Filmen nicht der Fall gewesen wäre.

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Die großen Probleme dieses deutschen unter den drei großen A-Festivals kann ein derart verhalten positives Resumee aber nicht über­tün­chen. Denn cinephile Kenner und jene Neugie­rigen, die nach Inno­va­tionen fragen, nach Filmen, wie man sie im Kino­alltag kaum zu sehen bekommt, die kommen auch bei dem Ausnah­me­ereignis Berlinale kaum auf ihre Kosten.
Die Berlinale zeigt zu viele Filme. 435 wie gesagt. Fast doppelt soviel wie Cannes und Venedig zusammen. Soviel kann gar nicht alles über­durch­schnitt­liche Qualität haben. Genau darum muss es aber gehen.
An der Berlinale herrscht Film-Inflation – und Inflation bedeutet ja nichts anderes als Wert­ver­lust, als dass der einzelne Film an Wert verliert. Dass Werke, die viel Aufmerk­sam­keit verdienten, unter­gehen, weil gerade ein halb­sei­dener Star über den roten Teppich flaniert. Und dass sich die Macher oft schlecht behandelt, zumindest unter Wert gewürdigt fühlen.
Vor allem aber: Weil der einzelne Film der Berlinale immer weniger wert ist, bekommt die Berlinale viele Filme gar nicht mehr.

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Schon im letzten Sommer sickerte durch, die Berlinale habe Schwie­rig­keiten, gute Filme für den Wett­be­werb zu finden. Die letzte Woche bestä­tigte den Befund.

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Seien wir ehrlich: Kaum einer der dies­jäh­rigen Berlinale-Wett­be­werbs­filme würde in Cannes, dem besten Festival der Welt, in den Wett­be­werb einge­laden werden. Außer dem Eröff­nungs­film der Coen-Brüder, allen­falls noch die Filme von Téchiné, von Ferreira und von Hansen-Løve – im letzten Fall habe ich schon meine Zweifel, so sehr ich den Film mag.
Man kann sich diese Kammer­spiele, die wichtige Themen behandeln, aber in wenig radikalem Stil insze­niert wurden, eher in der Cannes-Neben­reihe »Un Certain Regard« vorstellen.
Die Filme im Berlin-Wett­be­werb sind fast alle formal recht gleich­förmig und klein: Kammer­spiele eben, ohne echte ästhe­ti­sche Ambition. Filmisch oft auf Fern­seh­ni­veau – nur selten sieht man große weite Bilder, unge­wohnte Perspek­tiven, neue Formen der Montage, einfalls­reiche oder gar inno­va­tive Plot­kon­struk­tionen. Man sieht, kurz gesagt, zuwenig richtig gutes Kino.
Auf der Berlinale vergisst man daher schnell, das Kino in erster Linie eine Kunst ist, dass es hier um Form und Stil gehen könnte. Statt­dessen fühlt man sich in einen poli­ti­schen Themen­park versetzt oder in ein Well­ness­center. Es fehlt vor allem die Vielfalt, nicht nur im Wett­be­werb – erstaun­lich, wie gleich­förmig 435 Filme wirken können, auch wenn es natürlich in dieser Masse immer noch zwei, drei Dutzend groß­ar­tige und inno­va­tive Werke gibt – die dann leider oft unter­gehen.

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Film­künst­le­risch macht die Berlinale seit Jahren keine echten Entde­ckungen mehr. Der dies­jäh­rige Wett­be­werb bietet dafür das beste Beispiel: Da gibt es Berlinale-Stamm­gäste wie Rafi Pitts oder Denis Tanovic oder Denis Côté. Daneben gibt es Cannes Entde­ckungen wie Mia Hansen-Løve. Gian­franco Rosi gewann vor Jahren bereits in Venedig, Lav Diaz gewann bereits in Locarno. Sie in einen Wett­be­werb zu laden, ist die einfachste aller möglichen Lösungen.
Dass ausge­rechnet dem phil­ip­pi­ni­schen Regisseur Lav Diaz am Samstag der Preis für einen Film verliehen wurde, der – wie es heißt – »neue Perspek­tiven eröffnet«, ist ein schlechter Witz. Denn seit bereits 20 Jahren erzählt Diaz im immer­glei­chen, von ihm immer weiter perfek­tio­nierten Stil über­langer, ein bisschen schlaf­wand­le­ri­scher Schwarz­weiß­filme.
Die Zeiten, als das seiner­zeit neue chine­si­sche Kino der »Fünften Gene­ra­tion« im Wett­be­werb lief, die ersten Filme der Neuen Wellen aus Hongkong oder Taiwan oder Bollywood im Forum, als die ersten Rumänen entdeckt wurden, sind lange vorbei.
Weder formal noch inhalt­lich – abgesehen von Schau­plätzen poli­ti­schen Schre­ckens – war die Berlinale 2016 viel­fältig.

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Man vermisst eine kura­to­ri­sche Hand – unter der die Berlinale auch gesund­schrumpfen müsste. Dieter Kosslick redet gern von gesundem Essen und Diäten – sein Festival leidet unter Fettsucht.
Auch nach Kosslicks Abgang in drei Jahren wird das nicht über Nacht zu ändern sein.
Und politisch? Ist die Berlinale nicht politisch? Das kommt darauf an, was man darunter versteht. Im von Kosslick erfun­denen »Kuli­na­ri­schen Kino« werden Luxus-Gastro­no­mie­stars zu Auto­ren­köchen hoch­ge­jazzt und jede vegane Schaum­suppe zu einem Kunstwerk – aber wo bleibt da eigent­lich der poli­ti­sche Anspruch ange­sichts des Hungers in der Welt?

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Kultur­staats­mi­nis­terin Monika Grütters, das hat sie in den letzten Monaten bewiesen, ist nicht naiv und nicht so unin­ter­es­siert, dass sie die offen­kun­digen Schwächen und die schwin­dende Bedeutung der Berlinale übersehen würde – den Jubel­per­sern der Boule­vard­presse zum Trotz. Grütters nennt Kosslick zwar öffent­lich »Dieter«, was ich ihr nicht unbedingt geraten hätte, aber es spricht manches dafür, dass Kosslicks schmie­riger Charme an der Kultur­staats­mi­nis­terin doch eher abperlt, als an ihren Vorgän­gern.
Am Ende zählt: Gibt es hier gutes Kino?

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Berlinale-Boss Dieter Kosslick verweist bei all diesen nicht gerade neuen, aber eben wichtigen Einwänden gern darauf, dass die Berlinale ja ein »Publi­kums­fes­tival« sei. Den cine­philen Anspruch des immer noch dritt­wich­tigsten A-Festivals schränkt er mit solchen Sätzen bereits ein.
Aber was soll das überhaupt heißen: »Publi­kums­fes­tival«? Hat nicht jedes Festival ein Publikum? Wer sein Publikum wirklich achtet und schätzt, so könnte man es ja auch sagen, sieht in ihm mehr als nur eine zahlende Masse. Er zeigt ihm nicht alles aus irgend­wel­chen, sondern etwas Bestimmtes aus bestimmten Gründen. Das Publikum als Legi­ti­ma­tion für alles zu nehmen, ist aber ein Fehler. Denn bei einem Film­fes­tival kommt es darauf an, das Besondere zu pflegen. Die Filmkunst, und Entde­ckungen zu machen.
Das genau ist es, was ein Multi­plex­kino vom gut geführten Programm­kino, von einer Kine­ma­thek, oder eben einem Festival unter­scheidet, und was den Unter­schied zwischen Cannes oder Venedig mit ihren unter 150 Filmen, und der Massen­ver­an­stal­tung Berlinale ausmacht.
Bei 435 Filmen im Programm ist »Publi­kums­fes­tival« nur eine popu­lis­ti­sche Floskel, mit der Dieter Kosslick sugge­riert: »Ich mache es Euch allen recht.« Die Quote der verkauften Eintritts­karten, die in jedem Jahr magi­scher­weise aufs Neue gestei­gerten Besu­cher­zahlen, werden zum einzigen Erfolgs­kri­te­rium: »Wir haben doch viele Zuschauer – also Ende der Debatte.«

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Aber wir sollten debat­tieren: Über Maßstäbe. Denn was auf der Berlinale geschieht, welche Vorstel­lung von Kino dort gepflegt wird, und welche mit Füßen getreten, das bestimmt auch den Gesamt­zu­stand des deutschen Kinos mit.
Der deutsche Film kann nicht besser sein als das wich­tigste deutsche Film­fes­tival.

(to be continued)