13.02.2016
66. Berlinale 2016

Man will sein Image in der Gesell­schaft schützen

Auf Einmal
Szene aus Auf Einmal
(Foto: MFA+ FilmDistribution GmbH / Die FilmAgentinnen GmbH i.G.)

Asli Özge über den Konformismus der Mittelschicht, einen modernen Hamlet und ihren großartigen Panorama-Film – Berlinale-Tagebuch, 7. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Man kann nicht wirklich verstehen, warum Auf Einmal, der deutsche Film der seit 16 Jahren in Berlin lebenden türki­schen Regis­seurin Asli Özge nicht im Wett­be­werb der Berlinale läuft: Ein sehr facet­ten­rei­cher Psycho­thriller aus der Provinz mit über­ra­schenden Wendungen. Die Haupt­rollen spielen Sebastian Hülk, Julia Jentsch als junges Paar und Louise Heyer als beste Freundin des Paares.
Auf der Berlinale gab uns die Regis­seurin das aller­erste Interview zu diesem Film, der an diesem Freitag seine Welt­pre­miere feierte; außerdem haben wir über sie und ihr Team auch einen Beitrag auf unserem Berlinale YouTube-Channel.

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Auf Einmal ist ein Psycho­thriller. Sie erzählen die Geschichte eines jungen Mannes, aber Sie zeigen auch die Gesell­schaft; viele andere Menschen, den ganzen Freun­des­kreis, und die Familie. Aber aus seiner persön­li­chen Perspek­tive...

Özge: Ja, wir haben keine Szene ohne die Haupt­figur gedreht. Ich wollte den Zuschauern nichts verraten, was Karsten nicht weiß. Ich mag auch keine Rück­blicke.

Am Anfang begegnen wir einer Frau, die bald darauf tot sein wird. Ein sehr starker Beginn. Man will mehr von ihr wissen...

Özge: Mein Gedanke war, dass es ein paar kurze, aber ganz intensive Momente sind, die wir Zuschauer mit ihr verbringen. So intensiv, dass diese Momente dann über den ganzen Film nach­wirken. Der Film öffnet sich mit der Geschichte dieser Frau. Ohne alles zu verraten. Ich habe alle möglichen Varianten angelegt. Ich denke wie im Leben müssen wir auch im Kino nicht alles zu Ende erzählen.

Vor dem ersten Bild sehen wir ein Shake­speare-Zitat: »An sich ist nichts weder gut noch böse; das Denken macht es erst dazu.« Es stammt aus »Hamlet«. Warum?

Özge: Auf Einmal ist die Geschichte eines modernen Hamlets. Ich wollte zeigen, dass diese Geschichte universal ist. Es gibt auch eine Szene, die direkt auf das Stück verweist: Die Szene, in der Karsten auf dem Friedhof am Toten­gräber vorbei­geht. Und generell ist Karsten ein Prinz, der Sohn eines Provinz-Königs.

Auf Einmal spielt in einer Klein­stadt. Was waren Ihre Über­le­gungen?

Özge: Ich wollte auf jedem Fall einen Ort mit Bergen, einen von vier Seiten visuell geschlos­senen Ort, der etwas Klaus­tro­pho­bi­sches hat, und den Eindruck des einge­sperrt-seins hervor­ruft. Trotzdem wollte ich auch viele Möglich­keiten mit der Kamera haben. Es sollte ein univer­saler Ort sein. Wir haben dafür lange gesucht. Altena ist ein Stadt mit 17.000 Einwoh­nern. Sie haben uns sehr unter­s­tützt, die halbe Stadt spielt jetzt auch mit – ein idealer Filmset, mit seinen verwin­kelten Gassen. Bis zum Rand des Bildes sieht man Wald und Berge.

Fast ein roman­ti­sches Deutsch­land­bild. Sie haben im Herbst gedreht...

Özge: Ich wollte unbedingt im Herbst drehen, wir haben alles dafür getan, Es war schwierig, genau den Moment abzu­passen, an dem die Blätter sich färben. Es gab eine eindeu­tige Farb­dra­ma­turgie: Herbst­farben wie Braun, Grün, Rostrot auch in der Kleidung. Blau war streng verboten. Von der Stimmung her passte das sehr gut. Es hatte visuelle, aber auch seelische Gründe. Ich wollte Melan­cholie, aber keine Depres­sion, Das ist ja auch kein depres­siver Film. Es war eine sehr bewusste Entschei­dung, die Provinz nicht als etwas Schlechtes zu zeigen. Das sind Menschen, die sich ein bisschen nach der Stadt sehnen, aber sie sind dage­blieben.

Wie haben Sie mit den Schau­spie­lern gear­beitet?

Özge: Ich bin jemand, der sehr stark auf den Moment am Set vertraut. In den Augen der Schau­spieler sehe ich deren Reak­tionen, ich wollte die authen­ti­schen Reak­tionen.
Die Schau­spieler bekommen von mir kein komplettes Drehbuch. Sie müssen ihren eigenen Text lernen, und wissen das, was ihre Figuren wissen, aber nicht mehr. Sie wussten daher gar nicht, was die anderen Figuren tun, wenn sie nicht dabei sind. Ihnen fehlt das Gesamt­bild, aber sie kennen ihre eigene Rolle sehr gut. Ich versuche eine Geschichte zwischen Figuren zu bauen. Zum Beispiel das Paar Karsten und Laura. Die wohnen zwei Jahre zusammen. Zu dem Bild, das an der Wand hängt, habe ich Julia Jentsch erzählt: »Das hat Karsten für Dich gekauft.«
Zur Vorbe­rei­tung üben wir mindes­tens eine ganze Woche. Das ist ein Muss bei mir. In »Lifelong« habe ich das auch schon gemacht. Wenn ein Schau­spieler dazu nicht bereit ist, habe ich keine Lust, mit ihm zusam­men­zu­ar­beiten. Dazu gehören körper­liche Übungen, damit die Schau­spieler sich in schwie­rigem Zustand sehen, sich berühren. Für mich selbst sind diese Übungen auch Arbeiten am Drehbuch. Ich nehme das dann auf Video auf, und alles wird tran­skri­biert, um noch weiter am Text zu arbeiten.

Ist da noch Raum für Impro­vi­sa­tion?

Özge: Ja. Es ist zwar alles geschrieben, aber manche Dialogsätze auch zwischen stehen nicht in jedem Buch, um am Set spontane Reak­tionen herzu­stellen. Die Schau­spieler müssen immer weiter­spielen, bis ich »Cut« rufe. Die aller­erste Filmszene kennt keiner der Darsteller, außer der Haupt­figur.
Ich mache kleine Korrek­turen, bitte die Schau­spieler, die Sätze in ihren eigenen Worten zu sagen – das ist besonders wichtig für mich, weil Deutsch ja nicht meine eigene Mutter­sprache ist. Die Schau­spieler sollen von sich selbst viel mitbringen.
Zum Beispiel ist die zweite Szene zwischen Karsten und Judith am Set entstanden. Das war nicht geschrieben

Ein Thema des Films ist Betrug, Loyalität und Treue. Die Figuren nehmen das sehr ernst...

Özge: Eigent­lich nicht. Ich glaube für meine Figuren ist das Image, ihr öffent­li­ches Bild das Zentrale. Was denken die anderen von mir? Ihr Bild vor den anderen ist wichtiger, als was wirklich passiert. Darum wäre ein heim­li­cher tatsäch­li­cher Betrug das viel geringere Problem, als der Anschein eines Betrugs, an den aber alle Leute glauben.

Sie zeigen ganz nebenbei alle sozialen Insti­tu­tionen: Kran­ken­haus, Polizei, Gericht, Rechts­an­walt, Kirche, Bank, Versi­che­rung, Geschäfts­welt, die Politik über den Bürger­meister.
Die Geschichte ist also nicht nur eine private, sondern sie zeigen Mecha­nismen: Wie einer sich anpasst, in das Macht­system inte­griert wird. Darum zeigen Sie nicht nur die Jugend eines einzelnen Menschen namens Karsten, sondern die Jugend eines sozialen Typus, der nicht nur Karsten heißt.

Özge: Ja, ich wollte einen Film über die Gesell­schaft machen. Warum hat Karsten im entschei­denden Moment nicht richtig gehandelt? Das finde ich die entschei­dende Frage. Dabei wäre es leicht gewesen, sein Problem ohne Tamtam zu lösen. Die Antwort liegt in dem inneren Druck unter dem er steht.
Mir scheint: Wir kennen alle dieses Problem: Man will sein Image in der Gesell­schaft schützen, seine Position nicht verlieren, nicht zum Talk in the town werden. Man will sein Bild schützen. Erst recht an einem Ort wie diesem: Wenn man in einer kleinen Stadt als Sohn eines bekannten Bürgers lebt, ist es erst recht essen­tiell, sich »richtig« zu benehmen.
Karsten ist in den Mecha­nismen dieser Gesell­schaft aufge­wachsen. Er will alles richtig machen. Er weiß gar nicht, ob er das wirklich will, aber er hat sich daran gewöhnt.

Einmal scheint er vor dieser Gesell­schaft wegzu­laufen...

Özge: Ja, das ist eine Frage, die man sich stellen kann: Ob nicht alle diese Männer, die heute Chefs sind, irgend­wann davon träumten auszu­steigen und wegzu­laufen.

Gibt es eigent­lich Unter­schiede in dem Verhalten, das sie beschreiben? Ist Ihre Geschichte eine typische Männer­ge­schichte oder würden Frauen genauso handeln?

Özge: Doch. Der Charakter der Laura ist ganz ähnlich. Sie würde genauso handeln. Das Image, dass hier alle schützen wollen, steht zwischen ihnen. Es steht zwischen Karsten und Laura, zwischen Karsten und seiner Familie.
Ich finde den Charakter von Karstens Mutter wichtig. Denn sie ist die einzige, die einmal die offen­kun­dige Wahrheit ausspricht: »Warum hast Du so gehandelt?« In dem Moment versteht Karsten: Es ist zu spät für ihn. Er ist schon längst Teil dieser Welt. Er kann ihr nicht mehr entfliehen. Am Anfang des Films hat er seinen Vater noch kriti­siert, der ist nicht unbedingt ein Vorbild für ihn. Aber dann begreiuft er, wie der Vater denkt und versteht, dass er genauso ist.
Es gibt kein Zurück, er ist einer von ihnen – das war seine Entschei­dung.

Glauben Sie nicht, dass es Freiheit gibt? Das Menschen auch ihren sozialen Hinter­grund völlig hinter sich lassen können?

Özge: Auf jeden Fall gibt es Freiheit. Darum habe ich eine reichere Mittel­schicht­fa­milie für meine Figuren gewählt. Denn in der Mittel­schicht dominiert das Angebot des Konfor­mismus. Anpassung ist einfach, denn sie ist nicht mit Zwang verbunden. Karsten nimmt alles mit, was ihm seine Eltern bieten, aber er leistet sich Distanz. Er hat die schöne Wohnung mit vielen Büchern, aber er ist ein bisschen Bohème. Es ist im Grunde einfach so zu leben.
Er hat sich nie wirklich von seinen Eltern gelöst.

Sie erzählen vom Erwach­sen­werden. Ist das ein Coming-of-age-Film?

Özge: Ja, aber spätes Erwach­sen­werden, zu spätes. Zum ersten Mal macht Karsten sich Gedanken. Aber sobald seine Eltern anwesend sind, wird er wieder zum Kind. Etwa in der Szene, in der sie zusammen essen. Er ist ein passiver Charakter, der am Ende alles akzep­tiert. Seine Rebellion, wenn sie denn statt­findet, ist sehr klein.

Er hat großes Selbst­mit­leid...

Özge: Ja, unbedingt. Aller­dings wollte ich schon auch zeigen, dass er sich selber stark kriti­siert, und dass es keine härtere Selbst­kritik gibt, als die durch einen selbst. Das wollte ich an der Figur zeigen. Er sucht nicht nur Ausreden, sondern langsam stellt er sich der Wahrheit.
Er hat Schuld­ge­fühle, ja, aber es ist schon mehr. Am Anfang ist er immer noch naiv, aber langsam lernt er die Wahrheit kennen – auf die harte Tour. Karsten ist nicht böse.

Sie selbst sind geborene Türkin, aber schon sehr lange in Deutsch­land. Wie beschreiben Sie Ihre Identit ät als Filme­ma­cherin?

Özge: Das frage ich mich auch immer [Lacht] Ich komme aus Istanbul und habe dort auch Film studiert. Seit dem Jahr 2000 lebe ich in Berlin, ich habe ein bisschen Philo­so­phie studiert. Berlin ist mein Zuhause. Ich fühle mich wohl hier. Ich bin eine türkische Filme­ma­cherin mit einem deutschen Film.