24.02.2011
61. Berlinale 2011

Chronik eines unauf­halt­samen Siegs

Submarine
Wettbewerbstauglich: Die Coming-of-Age-Geschichte Submarine
(Foto: Kool Filmdistribution Ludwig Ammann & Michael Isele / Die FilmAgentinnen GmbH i.G.)

Gewinner und Verlierer der 61. Berlinale 2011

Von Thomas Willmann

Uups, das habe ich nicht gewollt! Das tut mir jetzt leid. Wenn Sie vor der Apoka­lypse noch etwas zu erledigen haben – es wäre wohl an der Zeit.
Jetzt habe ich doch tatsäch­lich auf der Berlinale einmal den Film gesehen, der nachher den Goldenen Bären bekommen hat. Und dann war Jodaeiye Nader az Simin ja auch noch der eindeu­tige Kritik­er­fa­vorit. (Ein mathe­ma­tisch beleg­barer noch dazu: Nicht nur führte er alle natio­nalen wie inter­na­tio­nalen Stern­chen­wer­tungen an – bei einem inof­fi­zi­ellen Online-Wettpool hätte man bei diesem Sieg nur seinen Einsatz wieder zurück­be­kommen, während die Quote schon für den Zweit­pla­zierten, Béla Tarrs A Torinói ló bei 5:2 lag, und für das Schluss­licht, Yelling to the Sky, bei 200:1.)
Dass nun aber ein von mir gesehener Kriti­ker­lieb­ling den aurischen Ursus abräumt, beweist, dass sämtliche Natur­ge­setze außer Kraft gesetzt sind und das Ende der Welt, wie wir sie kennen, nur noch Formsache.

Und ich kann noch nicht mal sagen, ich hätte das ja nicht ahnen können. Denn es war ein Sieg mit Ansage. (Von jeder Schuld müssen jedoch die Berliner Verkehrs­be­triebe frei­ge­spro­chen werden, die durch Busaus­fälle noch helden­haft versucht hatten, mein recht­zei­tiges Eintreffen bei der Pres­se­vor­füh­rung des Films zu verhin­dern.)
»I told you so«, grinste Dieter Kosslick den pflicht­gemäß begeis­terten Regisseur Asghar Farhadi an, als der zum Statuen­emp­fang die Bühne erklomm – er habe es ihm ja vorher­ge­sagt. Und da liegt letztlich das Problem dieses Festi­val­aus­gangs: Mit Über­ra­schungen war kaum zu rechnen.
Jodaeiye Nader az Simin (oder inter­na­tional: Nader and Simin – A Sepa­ra­tion) zählte schon unbesehen zu den heißen Kandi­daten: Als einziger irani­scher Wett­be­werbs­bei­trag, ange­sichts des leeren Stuhls in der Jury, auf dem eigent­lich Jafar Panahi hätte sitzen sollen (statt in seiner Heimat im Gefängnis). Als er sich dann auch noch davon unab­hängig quali­tativ als einer der ersten und einzigen Filme erwies, dem man aus der dies­jäh­rigen Auswahl überhaupt plausibel die höchste Auszeich­nung zukommen lassen konnte, war eigent­lich alles gelaufen.

Ums klar zu sagen: Ja, Jodaeiye Nader az Simin ist ein verdienter, wohl auch der verdiente Sieger. Der Film ist klug und viel­schichtig, funk­tio­niert auf drama­ti­scher wie poli­ti­scher Ebene. Seine Konstel­la­tion mag schon ziemlich gesucht und konstru­iert sein – ein Mittel­stands-Paar will sich trennen, weil die Frau auswan­dern will, der Mann aber seinen dementen Vater nicht zurück­lassen kann; er engagiert eine weibliche Pfle­ge­kraft aus einer Unter­schicht-Familie, die ihre eigenen Probleme mitbringt, es kommt zu einem Unglück und der Film wird quasi zum Gerichts­drama. Aber Farhadi macht die Figuren glaub­würdig genug, gibt einer psycho­lo­gi­schen und emotio­nalen Wahr­haf­tig­keit Vorzug vor irgend­wel­chen vorfor­mu­lierten »Botschaften«. In sich war das tatsäch­lich stimmiger als zumindest alles, was ich vom Wett­be­werb sonst gesehen habe (und es fehlen Stimmen, die für eine echte über­se­hene Perle sprächen).
Insofern war der Preis tatsäch­lich ziemlich »alter­na­tivlos« (A. Merkel). Aber auch ein bisschen enttäu­schend, weil hier alles so gut und reibungslos gepasst hat.
Und das kann man nicht Jodaeiye Nader az Simin vorwerfen, sondern der darum drapierten Konkur­renz. Fast jeder andere Ausgang des Festivals wäre eine Über­ra­schung gewesen, weil Filme mit dem Zeug zum wahren Über­ra­schungs­sieger gefehlt haben.

Der Tonfall nicht nur des gesamten Wett­be­werbs­pro­gramms, sondern großer Teile des Berlinale-Angebots überhaupt, übte sich in seltener Einhel­lig­keit. Der typische Berlinale-Film 2011 war vorwie­gend ruhiges, nicht gerade leicht­gän­giges Weltkino mit poli­ti­schem Bewusst­sein, aber ohne allzu eindeu­tige Agenda, von einem Hauch Betrof­fen­heit durch­zogen, ästhe­tisch bewusst ungelackt, aber wagnislos. Und gewonnen hat der Film, der diese Klaviatur wenigs­tens am virtuo­sesten zu bedienen verstand.
Gefehlt hat weit­ge­hend eine Ahnung dafür, was Kino ansonsten noch alles kann; gefehlt haben ganz andere Ansätze.
Wobei die wenigen Ausnahmen bewiesen, dass das Festival dafür auch nicht immer das glück­lichste Händchen hat. Siehe den fran­zö­si­schen Anima­tions-Märchen­film Les contes de la nuit, dem mit seinem Vorschul-Kunst­un­ter­richst-Gestus arg anhaftete, dass er aus einer Kinder-TV-Serie der ‘90er entwi­ckelt wurde. Und der vermut­lich ins Programm gerutscht war, um den Tag der 3D-Vorfüh­rungen zu komplet­tieren. Mit einem neuen Rekord an Sinn­lo­sig­keit beim Einsatz dieser Technik – denn es handelt sich um einen Film in Sche­ren­schnitt-Ästhetik. Hallo Hinter­grund, darf ich vorstellen: Vorder­grund.
Oder siehe Unknown, ein unfassbar alberner (und dadurch schon wieder ziemlich lustiger) Action-Thriller mit Liam Neeson, bei dem man mit dem Aufzählen sämt­li­cher grober Unge­reih­mt­heiten und Pein­lich­keiten gemütlich die nächsten zwei Seiten verbringen könnte. Der aber – sich als inter­na­tio­nale Produk­tion mit Hollywood-Anspruch und zugleich Film in und über Berlin verste­hend – im Grunde hinrei­chend charak­te­ri­siert ist dadurch, dass eine Kran­ken­schwester hier einen so tollen, »typisch deutschen« Rollen­namen trägt wie »Gretchen Erfurt«.

Freilich ist es schon ein bisschen modisches Ritual geworden, jeden Berlinale-Jahrgang zum nun aber definitiv schwächsten auszu­rufen. Und auf die Festi­val­lei­tung einzu­ha­cken, weil sie drumherum zuviel Glamour-Brim­bo­rium veran­staltet (2009), oder zu wenig (dieses Jahr). Und da steckt schon auch ein Körnchen Wahrheit drin. Aber es über­schätzt vermut­lich, wieviel Gestal­tungs­spiel­raum das Festival tatsäch­lich hat.
Es gibt zunächst schlicht auch schwache Film­jahr­gänge. Und wenn man sich heuer mit Leuten unter­hielt, die auf dem von keiner Vorjury selek­tierten Europäi­schen Filmmarkt als Einkäufer unterwegs waren (dem für die Öffent­lich­keit fast unsicht­baren, aber in Wahrheit entschei­den­deren Teil der Berlinale), dann war da über die gebotene Qualität auch nichts Eupho­ri­sches zu hören.

Dann aber sind Film­fes­ti­vals generell auch nur Teil­nehmer eines Markts. Und der verändert sich. Wie überall in unserer Kultur wird auch beim Film die Kluft zwischen Main­stream und Nische größer, isoliert sich der wenige verblei­bende, echte Main­stream von dem kriti­schen Diskurs, diffe­ren­zieren sich die Nischen immer spezi­eller aus. Soll heißen: Die wenigen großen Filme, die echte öffent­liche Aufmerk­sam­keit schon mitbringen, insze­nieren ihre Auftritte meist lieber selber, nutzen Film­fes­ti­vals nur nach reif­li­cher Über­le­gung als Werbe­po­dium. (Festivals haben ihre Eigen­dy­namik, und welche Groß­pro­duk­tion geht schon gerne unnötig das Risiko negativer Mund­pro­pa­ganda ein?) Und ande­rer­seits entwi­ckelt sich immer mehr eine Paral­lel­welt von reinen »Festi­val­filmen«, die immer perfekter auf genau die spezi­ellen Anfor­de­rungen der Festivals nach Weltkino-Futter fürs Programm zuge­schnitten sind. Cine­as­ti­sches Schmieröl für den fort­wäh­renden Betrieb, das nur selten jemand richtig begeis­tert, aber hinrei­chend konsens­fähig ist, um Vorauswahl­jurys zu passieren.

Die weiter oben beschrie­bene Form des Weltkinos ist nicht nur eine ästhe­ti­sche Schule geworden, die globusum­span­nend oft mehr prägt als nationale Tradi­tionen. Sie ist ein Geschäfts­mo­dell.
Man unter­schätzt als Laie ja gerne, wie sehr die eigent­liche Kunst bei vielen Filmen nicht in Regie, Schau­spie­lerei, Kamera oder derglei­chen steckt, sondern in der Finan­zie­rung. Es gab Produk­tionen auf der Berlinale, da erntete die schier nicht enden wollende Parade von betei­ligten Firmen und Insti­tu­tionen im Vorspann schon Gelächter. Aber nur noch wenige Film­un­ter­nehmen weltweit können und wollen heut­zu­tage eine Produk­tion alleine stemmen. Und das führt eben unter anderem auch zu einer Art von Kino, die ideal geeignet ist, möglichst viele Förder­töpfe anzu­zapfen und Co-Finan­zie­rungs­partner zu finden. Wobei es eben zum Beispiel auch hilft, mit jener gewissen Sorte Filme­ma­chern und Filmen aufzu­warten, die das eigene Land auf vielen Festivals reprä­sen­tieren. Und wobei der soziale Realismus nicht nur den Vorteil offenbart, dass mit ihm am leich­testen künst­le­ri­sche Bedeut­sam­keit zu heischen ist, sondern auch, dass er keine teuren Stars, Ausstat­tungen und Appa­ra­turen braucht.

Dass sich die Berlinale 2011 explizit die poli­ti­sche Relevanz als Kern­kom­pe­tenz auf die Fahnen geschrieben hat, lässt sich also viel­leicht anhand der aktuellen Berlinale-Tasche erklären: Wie die meisten Festivals, gibt auch die Berlinale an Akkre­di­tierte alljähr­lich eine eigene Umhän­ge­ta­sche heraus, die den Beschenkten zur Aufbe­wah­rung des sich ansam­melnden Papier­wustes sowie solch über­le­bens­not­wen­diger Requi­siten wie Terminü­ber­sicht, Wasser­fläsch­chen, Müsli­riegel, Schreib­gerät und Reise­apo­theke dienen soll. Die zugleich aber auch als werbendes Aushän­ge­schild (respek­tive -tasche) für das Festival fungiert. Es wäre eine eigene Studie wert, wie die unter­schied­li­chen Festivals dabei eigene Taschen-Tradi­tionen entwi­ckeln. Die Berlinale jeden­falls wartet jedesmal mit einem in Material, Form, Farbe komplett neuen Design auf. Und dieser Jahrgang war ein Modell aus ziemlich schlabb­rigem Stoff, ohne Fächer oder Klappe, in schlichtem Dunkel­blau und leicht gilbigem Weiß gehalten.

Man kann sie als Statement für den ökolo­gisch korrekten »Berlinale Goes Green«-Leit­spruch sehen, von wegen Jute statt Plastik etc. Sie wirkt wie ein Beutel, den entweder eine Prenz­lauer-Berg-Mutter bei ihrem bevor­zugten Bioladen als Stamm­kun­dInnen-Einkaufs­ta­sche geschenkt bekommen könnte – oder aber das bewusst stillos gehaltene, in Wahrheit €300,- teure Werk eines aufstre­benden Berliner Jung­de­si­gners.
Und was – um zum Punkt zu kommen (doch, es gibt einen!) – diese Tasche symbo­li­siert, das ist die Fähigkeit, aus der Not den Versuch einer Tugend zu machen: Wenn’s zu Glamour, Oppulenz, Eleganz nicht reicht, erklärt man das Gegenteil einfach zum Prinzip. Wenn das Programm nicht sexy ist, dann ist es halt politisch relevant.

Das ist insofern durchaus okay, als die Berlinale ja wie gesagt nur bedingt ein Angebot herbei­zau­bern kann, das ihr einfach nicht zur Verfügung steht. Wo man ihr jedoch eher einen Vorwurf machen kann ist, dass sie zu oft dem Kurz­schluss zu verfallen scheint, dass Zerknir­schung gleich­be­deu­tend mit Relevanz wäre.
Das ist ein alter, aber eben auch veral­teter, Irrtum, nach dessen Wurzeln man bis zur Barock-Oper und weiter graben könnte: Damals gab es noch den Zwang, jedem Stück ein »lieto fine« (oder: Happy End) aufzu­setzen, egal wie unwahr­schein­lich oder unpassend es war. Was sich bekannt­lich bis in den Holly­wood­film gerettet hat. Aber die vers­tänd­liche Gegen­re­ak­tion, die irgend­wann mal gegen verlo­genes Friede, Freude, Eier­ku­chen die Erkenntnis gesetzt hat, dass manchmal halt auch alles einfach Scheiße sein kann, ist mitt­ler­weile selbst zum Klischee geworden. Und kann für sich höchstens noch insofern eine prin­zi­piell größere Wahr­haf­tig­keit rekla­mieren, als halt jede reale Geschichte, wenn man sie nur lange genug weiter­erzählte, mit einem »Und dann waren sie alle tot« endet.
Aber als Abbildung des mensch­li­chen Daseins ist das »Alles ist ja so schlimm« keinen Deut »richtiger« als das »Alles ist ja so super«. Beide Pole gehören zum Leben, das sich meist irgendwo dazwi­schen abspielt, und das in Wirk­lich­keit kaum je einen so konse­quent durch­ge­hal­tenen Tonfall kennt, wie ihn die meiste (Film-)Kunst verlangt.

Und da kann man schon fragen: Warum läuft im Wett­be­werb fast nie eine Komödie? Ein Film wie Submarine von Richard Ayoade (BritCom-Fans bekannt als Moss aus »The IT Crowd« und Dean Learner aus dem groß­ge­nialen »Garth Marenghis Darkplace«). Warum taugt der nur dem Forum zur Zierde? Ja, gut, er bedient ein nicht mehr sonder­lich origi­nelles Genre, ist eine Komödie über einen verschro­benen Nerd und seine Alltags­aben­teuer mit Eltern, Schule und der Liebe. Ein Verwandter also von Napoleon Dynamite, Scott Pilgrim et al. Aber Submarine ist nicht nur raffi­niert semi-zeitlos insofern, als er sehr bewusst lange offen lässt, ob sein Look einen »Kostüm­film« verrät oder nur einen Faible für Retro. (Erst als er erwähnt, dass im Kino Crocodile Dundee ange­laufen ist, lässt er sich nach 1986 verorten – bleibt aber einer der wenigen Filme, die sich erinnern, wie lange die ‘80er noch ausge­sehen haben wie die späten ‘70er...) Submarine ist auch insofern zeitlos, als ihm das Teenager-Alter nur als Zuspit­zung dient für die allgemein mensch­liche Suche nach dem Selbst, nach dem Platz in der Welt und unter den Menschen.

Einer der zugleich schmerz­haf­testen und wahr­haf­tigsten Momente des Festivals war zu finden in Submarine – als der Prot­ago­nist ein emotional grau­en­voll entglei­sendes, vorge­zo­genes Weih­nachts­essen mit der krebs­kranken Mutter seiner Freundin besucht. Nur dass Submarine selbst in diesem Moment die Distanz des Humors bewahrt, der einen oft klarer als jedes tränen­ver­schlei­erte Drama auf die eigent­lich nicht erträg­li­chen Wahr­heiten schauen lässt. Und dass Ayoades Film generell das jugend­liche Alter seines Helden Oliver für quasi das latente Bewusst­sein nutzt: »Später wird man über all das lachen können.« Die Kunst­film­posen, in die sich Oliver manchmal hineinfan­ta­siert, hätten als gelungene Parodie getaugt für vieles, was sich auf der Berlinale bedeut­samer gerierte als Submarine, es aber nicht war.

Denn letztlich ist die Komödie – jeden­falls eine so schöne und wahre wie Submarine – viel weiter und weiser als all das Geheule und Geschreie des Betrof­fen­heits­kinos. Weil sie nicht so in der Innen­per­spek­tive stecken bleibt, sondern ein Auge hat für die Lächer­lich­keit der mensch­li­chen Existenz. Man muss viel begriffen haben, um über die Dinge lachen zu können, die einem nahe gehen.
Aber ich fürchte, es wird noch dauern, bis auch ein Festival wie die Berlinale solche Erkennt­nise für Wett­be­werbs- und preis­würdig hält.