14.02.2011
61. Berlinale 2011

Die Anarchie der Phantasie

A pas de loup
A pas de loup: Eigensinn und der Mut zum Anarchismus

Heraus aus der Kinderecke – das Programm der Sektion »Generation« zeigt Filme für Leute ab vier

Von Rüdiger Suchsland

Sie sind schon ganz schön doof, diese Eltern. Immer wollen sie am Wochen­ende mit Cathy raus aufs Land fahren. Auf die lang­wei­lige Autofahrt folgt ein lang­wei­liger Land­auf­ent­halt mit ausge­dehnten lang­wei­ligen Mahl­zeiten. Irgend­wann beschließt Cathy das magische Saatgut, das sie geschenkt bekam, zu verwenden, und dann versteckt sie sich im Wald vor ihren Eltern, die ihr Verschwinden auch zunächst gar nicht bemerken...

A pas de loup vom Franzosen Olivier Ringer ist ein überaus origi­nelles Stück Kino. Ganz auf Augenhöhe mit seiner sechs­jäh­rigen Erzäh­lerin, bleibt er völlig in ihrer Welt, der die Erwach­senen auch eher egal sind: Man sieht sie eigent­lich nur von fern, von hinten, verschwommen, man erlebt sie am ehesten an ihren Reak­tionen, direkte Kommu­ni­ka­tion findet gar nicht statt. Dagegen setzt Cathy Eigensinn und den Mut zum Anar­chismus, und der Wald ist wieder mal ein sehr belebter: Mit Wölfen, Geistern, Aben­teuern.

A pas de loup, der für Kino­gänger ab sieben Jahren in der Berlinale-»Gene­ra­tion« im Wett­be­werb »Kplus« (mit Filmen zum Teil schon ab vier Jahren) läuft, ist nur einer von einer ganzen Reihe überaus origi­neller, und unbedingt lohnens­werter Filme dieser Berlinale-Sektion. Ihn im laufen gleich mehrere thema­ti­sche und stilis­ti­sche Fäden zusammen, die diese Filme auszeichnen: Kinder­per­spek­tive, der Mut zu auch manchmal splee­nigen, verspielten Phan­tastik, und der zu ange­mes­senem – man scheut sich zu sagen: kindi­schem – Anar­chismus. Gerade bei der Berlinale begegnet man alljähr­lich dem gleichen Problem, dass das Profil der einzelnen Sektionen zunehmend aufweicht. Vor einem Jahrzehnt war alles noch klar: Forum, Panorama, Wett­be­werb, Kinder­film­fest, jede Sektion hatte ihr Profil. Heute steht der Besucher vor einem Haufen, vor dem er sich nicht mehr orien­tieren kann. Warum muss das eigent­lich so sein? »Weil es die Natur der Sache ist« antwortet Maryanne Redpath, Leiterin der »Gene­ra­tion«, die in zwei Wett­be­werben 26 Spiel­filme und über 30 Kurzfilme zeigt. »Die alten Schub­laden funk­tio­nieren nicht mehr. Man kann heute nicht mehr sagen: Ein Kinder­film kann kein Kunstfilm sein.«

Manche sehen in der zuneh­menden Austausch­bar­keit der Sektionen zwar den Verzicht auf die kura­to­ri­sche Aufgabe, die ein Festival auch hat, und zwar gerade da, wo sich die Filme nicht mehr von selbst program­mieren. Ande­rer­seits stimmt es ja: Bei 80 Prozent des »Gene­ra­tion«-Programms hat der Regisseur sich nicht vorher vorge­nommen, einen Kinder­film zu machen, noch nicht mal einen Film für Kinder. Und blickt man auf Bal den türki­schen Berlinale-Gewinner des Vorjahres, dann ist dieser aus großen Kinder­augen eines Sechs­jäh­rigen auf den bewun­derten Vater blickende Film eigent­lich ein klas­si­scher Fall fürs Kinder­film­fest. Aber so heißt ja die Reihe auch nicht mehr – und mit gutem Grund: Kinder­film ist eine Genre­bezeich­nung, ein Label, das, wie Redpath über­zeu­gend darlegt, mit vielen Vorur­teilen verbunden ist: »Ein Kinder­film soll so sein, wie man die Kinder gern hätte: Kinder sollen gut erzogen werden, sollen struk­tu­riert sein, sollen ab und zu ein bisschen frech sein, aber nicht zu frech, denn das verkraftet man nicht.« Kinder­filme sind Konstruk­tionen von Erwach­senen, vor allem von Medi­en­pä­d­agogen, die das Ende der 70er Jahre gegrün­dete »Kinder­film­fest« der Berlinale lang Jahre fest im Griff hatten. Vor allem für sie war die Sektion ein Fest: Im Kinosaal wurden die Reak­tionen der Kinder mit Infra­rot­ka­meras überwacht, anschließend mussten die lieben Kleinen seiten­lange Auswer­tungs­bögen ausfüllen. Diese Zeiten sind schon eine Weile vorbei, und unter Redpath, die 2008 von Thomas Hailer die Leitung der »Gene­ra­tion« übernahm, hat die »Gene­ra­tion« noch einmal an Profil gewonnen, und ist zu einer völlig eigen­s­tän­digen Farbe im bunten Strauß des Berlinale-Programms heran­ge­wachsen – im Hinblick auf Qualität und Vielfalt steht sie dem, was Panorama und Forum bieten, nicht mehr nach. »Wir haben kein Minder­wer­tig­keits­kom­plex«, sagt Redpath, »Wir wissen, was wir haben. Und große Firmen wie Fortis­simo und Celluloid Dreams erkennen das an, und geben uns ihre Filme.«

Das eigen­s­tän­dige Profil liegt vor allem im Ziel­pu­blikum. Aus Erfahrung weiß man aber, dass dies einiges verkraftet. So lief im Vorjahr ein wunderbar durch­ge­knallter japa­ni­scher Anime neben einem kolum­bia­ni­schen Film, der von einer Jugend­li­chen erzählte, deren Eltern von den Militärs ermordet worden waren, und das einen Passi­onsweg zwischen Drogen­mafia und sexueller Bedroh­nung zurück­legen muss. So tough geht es auch diesmal zu: Im groß­ar­tigen iranschen Drama Eind und Nebel hat ein Sechs­jäh­riger den Tod seiner Mutter zu verkraften, und Tode­s­phan­ta­sien. Mit der künst­le­ri­schen Konse­quenz gelingen der Sektion auch echte Coups: So läuft im Programm Under the Hawthorn Tree, der neueste Film des großen Chinesen Zhang Yimou, der vor 23 Jahren mit Rotes Kornfeld als erster Chinese den Goldenen Bär gewann – und dessen Filme seitdem immer im Wett­be­werb liefen. Under the Hawthorn Tree ist nach einigen opulenten Block­bus­tern wie Hero für Zhang eine Rückkehr zu den neorea­lis­ti­schen Ursprüngen, wie auch zu seiner eigenen Geschichte: Er erzählt von einem Mädchen in der Umer­zie­hungs­ma­schi­nerie der Kultur­re­vo­lu­tion – ihr Vater sitzt als »Konter­re­vo­lu­ti­onär« hinter Gittern. Zhangs Vater, ein Kuomo­in­tang-General, kam einst aus dem gleichen Grund ins Lager.

Schwer nach­voll­ziehbar, warum der Film nicht, wie andere von Zhang, im Wett­be­werb zumindest außer Konkur­renz läuft – wie man hören konnte, hatten manche in der Berlinale Probleme mit der (vermeint­li­chen? tatsäch­li­chen? angeblich zu regime­freund­li­chen) poli­ti­schen Botschaft des Films –, der »Gene­ra­tion« tut ein solcher Coup jeden­falls gut.

Ein weiterer, ebenfalls sehr gelun­gener, und ganz und gar »erwach­sener« Film ist Apflick­orna von der Schwedin Lisa Aschan: Die Geschichte der Freund­schaft zweier Mädchen. Beide haben aber Geheim­nisse vorein­ander und uns Zuschauern, und als die enthüllt werden ist das eine schmerz­hafte Erfahrung – Apflick­orna ist ein Drama über das Heran­wachsen und über den ganz alltäg­li­chen Autismus. Dieser bildet eines der Leit­mo­tive in vielen Filmen, genauso wie die Phan­ta­sie­welten, in die sich die Haupt­fi­guren oft zurück­ziehen. Diese finden auch stilis­ti­schen Ausdruck, etwa in Jess + Moss, einem der besten Filme im Programm, vom Ameri­kaner Clay Jeter, der seine Story zweier Cousins mit verschie­denstem Film­ma­te­rial, von Super 8 bis Breitwand, überaus originell erzählt.