17.02.2011
61. Berlinale 2011

Im Zeichen des Nilpferds

The Future
The Future
wenn’s nach Miranda July ginge
(Foto: Alamode Film – Fabien Arséguel e.K. / Die FilmAgentinnen GmbH i.G.)

Fünf Fundstellen der Berlinale 2011

Von Thomas Willmann

Es soll ja noch immer Leute geben die glauben, bei der Berlinale ginge es um Bären.
Zugegeben, das Festival tut sein Möglichstes, diesen Schein aufrecht­zu­er­halten – von wegen Verlei­hung von Bären in diversen Edel­me­tall-Ausfüh­rungen, Meister Petz-Logo, Ursus-Wappen der zugehö­rigen Stadt und so. Aber das ist alles nur Tarnung. Von der sich nicht blenden lässt, wer hinter die Ober­flächen auf die verbor­genen, wahren Zeichen zu schauen vermag. Denn der eigent­liche, geheime anima­li­sche Schutz­geist der Berlinale – jeden­falls dieses Jahr – ist: das Nilpferd.

Dieser vermeint­lich behäbige, putzig-gemüt­liche Paarhufer, in Wahrheit mit das gefähr­lichste Großwild, durch­streift tagtäg­lich das Festi­val­pro­gramm und hebt sein knub­bel­be­ohrtes Haupt in den uner­war­tetsten Momenten, den uner­war­tetsten Filmen.
Inzwi­schen ist klar: Bei der Berlinale 2011 geht es schlicht darum, alle versteckten Fluss­pferde zu finden. Und wer das schafft, wird der wahre Film­fest­spiele-Sieger sein.
Was jetzt nach einer bloßen, vom Zufall nahe­ge­legten absurden Pointe klingen mag. Aber glauben Sie mir: Es ist bisher bei weitem nicht die unplau­si­belste Erklärung dafür, warum dieses Inter­na­tio­nale Festival des Undring­li­chen Films abge­halten wird.
Und so lassen Sie uns die Zeit des Wartens und Hoffens auf einen echten Höhepunkt verbringen mit einer kleinen Parade der gefun­denen Fluss­pferde – und ihrer Filme.

Schlaf­krank­heit

Das erste Unhappy Hippo stapfte ganz am Ende von Ulrich Köhlers Entwick­lungs­helfer-Non-Drama ins Bild. Und bezog sich auf eine zuvor erzählte Legende von einem Apotheker, den ein Liebes-Rivale in ein Tier verhexen ließ.
Schlaf­krank­heit ist der konse­quente Export der Berliner Schule auf den »Schwarzen Kontinent«, also sprich: Jetzt neu! Deutscher Befind­lich­keits­kram auch in Afrika! Ein Entwick­lungs­helfer (Pierre Bokma) – tätig als Arzt – schickt Frau und Tochter heim nach Deutsch­land, will bald folgen. Bleibt aber dann doch irgendwie in Afrika hängen, verliert sich dort, ein Kollege aus Frank­reich – Hautfarbe schwarz, aber Europäer durch und durch – begegnet ihm Jahre später in Kamerun, kurz bevor ihn der Dschungel vollends zu verschlu­cken scheint. So weit, so »Heart of Darkness«.
Aber das Nilpferd-Ende ist ziemlich sympto­ma­tisch für den gesamten Film: Endlos inter­pre­tierbar, wie viele Details geradezu für ein eigenes Doktor­ar­beits-Kapitel gemacht, und hallo, post­ko­lo­nialer Diskurs, Inter­tex­tua­lität, Erzähl­stra­te­gien und so weiter. Aber da, wo’s zählt, letztlich kraftlos und unent­schlossen. So dass die Ebene fehlt, die einen überhaupt inspi­rieren würde, besagtes Doktor­ar­beits­un­ter­fangen anzu­pa­cken.

Köhler selbst sagt auf der Pres­se­kon­fe­renz, dass er nicht recht wusste, wie er die Geschichte, die Figuren erzäh­le­risch zu packen bekommt. Er scheint nach etlichen Dreh­buch­fas­sungen eher aufge­geben denn wirklich die Lösung gefunden zu haben. Und da hilft es erstaun­lich wenig, dass sehr viel Auto­bio­gra­phi­sches in dem Film steckt.
Schlaf­krank­heit teilt ein Problem, das viele Filme dieses Berlinale-Jahrgangs offenbar haben: Der Antrieb zu seiner Entste­hung ist ein Thema, keine Geschichte. Und das gibt selten befrie­di­gende Resultate.

Pina

Im afri­ka­ni­schen Setting des Köhler-Films war der Nilpferd-Auftritt noch nicht über­trieben über­ra­schend. Dass einem einen Tag darauf ein weiteres ausge­rechnet in Wuppertal begegnen würde, war aber nicht zu ahnen. Das zweite Hippo war aus Kunst­stoff, stammte aus einem Pina Bausch-Tanz­thea­ter­s­tück, und absol­vierte an einem Flusslauf (vermut­lich der Wupper) ein Pas de deux mit einer Tänzerin aus Bauschs Ensemble.
In 3D.
Und man wird bei vielen dieser Außendreh-Sequenzen – u.a. in der Schwe­be­bahn, einem Bergwerk, auf einer Straßen­kreu­zung, einer Tagebau-Gruben­klippe – nie ganz das Gefühl los, dass dabei die Eigen­wer­bung für die Film­technik so entschei­dend war wie die Hommage an Bauschs Werk. Wim Wenders betont bei der Pres­se­kon­fe­renz wieder und wieder, wie sehr er sich allein im Dienste der uner­wartet verstor­benen Tanz­meis­terin sieht. Aber so sehr Wenders gewiss Bauschs Persön­lich­keit und Arbeit liebt: Wenders liebt vor allem auch immer Wenders, begeis­tert sich schnell auch für und über seine eigene Begeis­te­rung.

Pina hat viele höchst eindrucks­volle Stellen. Was wohl kaum ausbleiben kann, wenn man die großen Bühnen­werke von Pina Bausch doku­men­tiert: Selbst einem Tanz­theater-Laien wie mir hat sich da eine ungeheure emotio­nale Kraft vermit­telt, eine künst­le­ri­sche Dring­lich­keit, wie sie die meisten Filme dieser Woche eben vermissen ließen. Und man spürt, kapiert schon schnell, worum es im Kern immer wieder geht: Sehnsucht. Und das ständige Wech­sel­spiel von Anziehung und Abstoßung auf der Suche nach mensch­li­cher, körper­li­cher Nähe. Aber einer­seits finde ich das 3D mindes­tens so oft distan­zie­rend, mit seiner ausge­stellten Künst­lich­keit grade aus der gezeigten Welt raus­hal­tend, wie es mich in den darge­stellten Raum zu versetzen schafft. Und ande­rer­seits bleiben es immer eben nur Stellen: Auszüge aus den Stücken, die den drama­tur­gisch-erzäh­le­ri­schen Bogen nicht wider­geben. Als wäre der unwichtig, beliebig, als gehöre der nicht zu Bauschs Kunst. (Oder, bei klas­si­schen Baletten, zu der der Kompo­nisten: Schmerz­haft brutal wird grade beim »Sacre du printemps« stets kurz vor den Höhe­punkten abgehackt.)
Und so bleibt’s eine in der Gesamt­heit unbe­frie­di­gende Nummern­revue – eine bloße (und etwas selbst­ver­liebte) Huldigung, die die wahre Größe ihres Gegen­stands weder richtig erfassen, noch ihr entspre­chende eigene Größe entge­gen­setzen kann.

Khodor­kovsky

Und dann wurde es absurd: Komisch genug, dass aus der scherz­haft zum Trend ausge­ru­fenen Koin­zi­denz von zwei Leinwand-Fluss­pferden dann tatsäch­lich eine Reihe wurde. Aber nirgends hätte man das dritte Hippo wohl weniger vermutet als ausge­rechnet in einer Doku­men­ta­tion über den russi­schen Öl-Olig­ar­chen, den Wladimir Putin sich offenbar als Intim­feind erkoren hat und dessen Gefäng­nis­strafe unlängst erst wieder unter höchst frag­wür­digen Umständen um ein paar Jahre verlän­gert wurde.

Ein ehema­liger Mitstreiter des Ex-Yukos-Chefs füttert während des Inter­views ein (sein?) Baby-Nilpferd mit Gelberüben – und nutzt es sogleich für eine poli­ti­sche Allegorie. Er lobt durchaus Medwedews Antritts­rede – äußerst aber Zweifel an dem realen Gewicht der Wort. Der Unter­schied zwischen west­li­chen und russi­schen Poli­ti­kern, erklärt er, sei der, dass die west­li­chen Kollegen spätes­tens bei den nächsten Wahlen dann doch auch an ihren Verspre­chen und deren (mangelnder) Umsetzung gemessen würden. Bei den russi­schen Poli­ti­kern sei es, als würde er seinem Nilpferd verspre­chen, dass es morgen Avocados bekäme: Was will das Tier tun, wenn es sie dann nicht bekommt?

Khodor­kovsky – der für einiges Aufsehen sorgte, weil kurz vor dem Festival im Büro des Filme­ma­chers Cyril Tuschi einge­bro­chen und Fest­platten mit dem Film entwendet wurden; Speku­la­tionen über Täter und Motive erlaubt – lebt weniger davon, dass er einem ganz Neues über den Fall zu erzählen hätte. Höchstens die Vorge­schichte und die Biografie des jungen Michail Chodor­kowski ist da eine bisher noch kaum geläufige Facette. Nein, die Stärke des Films ist es vielmehr, die Ange­le­gen­heit schön, spannend und mit einigen gut gesetzten Schlag­lich­tern zu erzählen.

Da ist das kolpor­tierte (und vom Büro des Ex-Kanzlers wenig glaubhaft demen­tierte) Schröder-Zitat, es handle sich halt um eine »Ange­le­gen­heit zwischen Männern«. Da sind die Fern­seh­aus­schnitte mit Putin, die alles Nötige zu sagen scheinen: Das Gesicht und das kaum zusam­men­hän­gende, latent drohende Stammeln eines zutiefst belei­digten (und leider enorm mächtigen) Kindes, das Wider­worte nur mit gnaden­loser Rache beant­worten kann.

Und da ist Joschka Fischer, der ehemalige Idealist, der selbst­zu­frieden dem Filme­ma­cher naiven Idea­lismus vorwirft, weil der Menschen­rechte offenbar für ein absolutes Gut hält und nicht für einen (eher gering zu achtenden) Faktor im Wech­sel­spiel poli­ti­scher und wirt­schaft­li­cher Inter­essen. Aus vielen Gründen einer der grus­ligsten Momente dieser Doku – auch, weil der Fall Chodo­rowski sich da eben als keines­wegs allein russi­sches Problem entblößt.

The Future

Drei Tage, drei Hippos: Da war das Suchspiel nun bewusst eröffnet – und die Auftritte der Großsäuger wurden folglich subtiler, um es nicht allzu leicht zu machen. In Miranda Julys neuem Film waren sie zwar immerhin gleich zu dritt und in Groß­auf­nahme zu sehen – aber nurmehr in Schrumpf­form als Porzel­lan­nippes auf einem Beistell­tisch­chen, fast als wären’s Erin­ne­rungen an ihre gleich­zah­ligen Vorgänger. »Zufall!«, wird jetzt der vernunft­be­gabte Mensch rufen. Aber mit Vernunft und ratio­nalem Tagbe­wusst­sein kommt man bei The Future nicht weit.

Wer dachte, Julys wunder­barer Kino-Erstling Me and You and Everyone We Know sei schon verspult und eigen­artig gewesen, wird hier erleben, dass das damals noch gar nichts war. The Future hat als (von der Regis­seurin selbst hauchend gekrächzte) Erzäh­ler­stimme die einer Tierheim-Katze; ein gelbes T-Shirt mit »C'est la nuit«-Aufdruck macht sich selb­ständig und robbt heimwärts, wo die (von der Regis­seurin selbst gespielte) Prot­ago­nistin dann wie in eine Art Ganz­kör­per­sack hinein­schlüpft und einen Ausdrucks­tanz aufführt; die Zeit wird ange­halten und der Mond bittet um Hilfe beim Gezei­ten­schieben; ein kleines Mädchen buddelt im Garten ein tiefes Loch. Und es gibt wenig Chancen heraus­zu­finden, was davon nun »Realität«, was Traum sein soll, weil der Tonfall selbst in Passagen vermeint­lich eindeu­tigen Wachs­zu­stands komplett somnambul ist.

Was man davon zu halten hat? Ist’s hinreißend verspon­nene Kunst oder uner­träg­lich possier­liche Feenpose und cine­as­ti­scher Nippes? Ehrlich gesagt: Ich weiß es für mich (noch) nicht/

Bizim Büyük Care­si­zi­lig­imiz (Our Grand Despair)

Das fünfte Hippo hatte sich dann ein wirklich raffi­niertes Versteck gesucht: Zusammen mit dem Rhino­zeros lugte es aus einem Songtext hervor auf dem Sound­track zu dem türki­schen Wett­be­werbs­bei­trag. »Animal Kingdom« hieß die ziemlich Shaggy-inspi­rierte Nummer, und sie dröhnte im Film vorgeb­lich aus den Laut­spre­chern einer Disco, in der die Prot­ago­nisten tanzten. Nur dass man den starken Eindruck hatte, dass beim Dreh andere Musik gelaufen sein muss. Und somit reckte das Hipho­pa­po­tamus (Grüße an alle »Flight of the Conchords«-Fans...) sein Haupt erneut just an einer sympto­ma­ti­schen Stelle: Denn auch sonst blieb das Anima­li­sche in diesem Film sehr oft Behaup­tung, groovte es da nicht, wo es zwischen den Haupt­fi­guren funken sollte.

Kann aber sein, dass das raffi­nierte Absicht war. Die Geschichte handelte nämlich von zwei Schul­freunden und lang­jäh­rigen WG-Genossen um die 40, welche die von einem Auto­un­fall trau­ma­ti­sierte, blutjunge Schwester eines Kumpels bei sich aufnehmen. (Der Kumpel verlässt Ankara, um nach Berlin zu gehen – denn dort gibt es Film­för­der­gelder vom Land Berlin-Bran­den­burg, und mit diesen auto­ma­tisch beacht­lich erhöhte Chancen auf eine Teilnahme am Berlinale-Wett­be­werb, ähem...) Prompt verlieben sich Jules & Jim... äh, sorry, Cetin & Ender beide in das Mädel. Was aber letztlich kein großes Drama ist. Und nun ist Günes Sayin, die selbiges Mädel spielt, zwar schon ziemlich süß. Aber es knistert erstaun­lich wenig zwischen ihr und den beiden Männern – der freund­schaft­liche Spaß, den sie zu dritt haben, ist glaubhaft, aber im Eins-gegen-Eins spürt man selten den in den Dialogen konsta­tierten anima­li­schen Magne­tismus. Wohin­gegen die Chemie zwischen den beiden Freunden mehr als stimmt. Und viel­leicht ist das genau der beab­sich­tigte Punkt: Dass sich die wahre Liebes­ge­schichte zwischen den Männern abspielt und sie das nur nicht recht checken.

Wie symbo­lisch ist’s, dass Cetin & Ender am Ende mitein­ander Kicker spielen? Heißt das, sie wollen/sollen sich eigent­lich gegen­seitig einen rein­ma­chen?
Ach ja, apropos Kicker: Das war nach dem irani­schen Wett­be­werbs­film Jodaeye Nader Az Simin nun auch schon der zweite Film, in dem ein Kicker­tisch Zentral­möbel einer promi­nenten Szene darstellte. Da zeichnet sich doch nicht etwa ein Trend ab...?