27.05.2007
60. Filmfestspiele Cannes 2007

Laisser tomber les filles…

MOGARI NO MORI
Persöniche Palme für Mogari no mori (the Mourning Forest) von Naomi Kawase

Schöne Frauen, schlimme Dinge: Gefallene Mädchen, weiße Schuhe und Herzen aus Stein

Von Rüdiger Suchsland

Es dauert keine fünf Minuten, da fliegt die erste Katze durch die Luft in Emir Kustu­ricas Promise Me This und auch eine Kuh wird bald folgen. Derart Jugo-magisch-realis­tisch geht es weiter: Der Film ist eine Zumutung, wie eigent­lich alle Filme dieses grandios über­schätzten Regis­seurs: Lärmend, ordinär, grell und wich­tig­tue­risch in seinem pseu­do­poe­ti­schen Unsinn, sieht man ein einziges uner­träg­li­ches Gepose, und ich bin längst nicht der erste, als ich nach 30 Minuten den Saal verlasse.

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Dann in der Jour­na­listen-Schlange zu Rebellion – The Litvi­nenko Case, einer russi­schen Doku­men­ta­tion über den im Vorjahr ermor­deten zum Westen über­ge­lau­fenen russi­schen Ex-Geheim­dienstler, die das Festival am Freitag über­ra­schend noch aus dem Hut zauberte und außer Konkur­renz zeigt – wohl auch um die Stimmung zum Ende des Festivals noch einmal hoch­zu­pu­shen und poli­ti­schen Wirbel zu machen.

Vor mir stehen drei Ameri­kaner – zwei Männer, eine Frau –, schon auf 20 Meter Entfer­nung sah man ihre weißen Badges blitzen, an der man hier – Cannes ist selbst­ver­s­tänd­lich eine Klas­sen­ge­sell­schaft – die wenigen am besten Akkre­di­tierten unter den Kritikern erkennt. Neugierig höre ich ein bisschen hin, und merke dass die drei gar nicht so elitär sind, wie ich im ersten Augen­blick gedacht hatte. Sie gucken durchaus auch neugierig auf ihre Umgebung, unter­halten die Umste­henden, und irgend­wann wendet sich die dunkel­haa­rige Frau zu mir und fragt: »Did you see the Kusturica« – »Yes« – »What Did you think?« – »I didn’t like it and went out after 30 minutes. And you?« – »I was asleep« – »Asleep?? With all that noise?« – »At my hotel, not in the Cinema.« Dann greift sie sich meinen Badge: »And who are you?« Ich stelle mich vor, dann sie sich: »Manohla Dargis, New York Times.«

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So lernt man also auch mal die berühm­testen Kriti­ker­kol­legen kennen. In der folgenden Vier­tel­stunde erzählte Dargis dann unter anderem von ihrer schlimmsten Festi­val­er­fah­rung berich­tete: »Mexico-City. Man hatte mich einge­laden. Ich kam an, die Fahrt in die Stadt dauerte so lange wie der Flug von L.A., aber es gab kein Festival. Keine Plakate, keine Kinos. Irgend­wann traf ich einen, der mir eine Festi­val­ta­sche über­reichte. Die Infos seien alle in der Tasche. Aber die Tasche war leer. Da beschloss ich wieder abzu­fliegen. Nach 27 Stunden.«

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Viel­leicht gibt es sogar ein Argument für den Film We Own the Night. Denn manchmal genügt eine einzige Szene, um einen Film gut zu finden. Und die gibt es auch hier: Ganz am Anfang die Liebe­szene zwischen Joacquim Phoenix und Eva Mendez. Auch Sarika von der Deutsch-Fran­zö­si­schen Film­aka­demie findet We Own the Night ganz passabel: »Der Held ist ein Waschlappen. Da sieht man mal, was für Typen den Weg zur Polizei finden. Aber genau das fand ich gut. Mal ein Normalo.«

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Das vorige Jahr war eigent­lich kein extrem heraus­ra­gender Cannes-Jahrgang und doch liefen 2006, wenn man sich mal kurz erinnern will, mit Flandres, Marie Antoi­nette, Pan’s Labyrinth und Summer Palace gleich vier heraus­ra­gende, fesselnde, aufwüh­lende Filme, jeder in sich perfekt und allein schon die Reise wert. Nur Flandres bekam dann übrigens auch einen Preis. In diesem Jahr gibt es keine solchen Filme, für die man ganz entflammt und bedin­gungslos kämpfen will, sich einen Abend lang mit Freunden streitet. Mag ja ein roman­ti­sches Verlangen sein, ist aber trotzdem ganz essen­tiell. »Keiner Frage, die Qualität ist hoch. Aber die Filme in diesem Jahr sind alle sehr kalku­lie­rend, nicht so zu Herzen gehend«, meint auch Dana vom „Filmkrant“. Viel­leicht kommt deshalb der rumä­ni­sche Abtrei­bungs­film so gut an. Darin haben angeblich auch Männer geweint. Nur wir hatten wieder ein Herz aus Stein.

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Das änderte sich, als es wirklich keiner mehr erwartet hätte. Dabei begann Mogari no mori (The Mourning Forest) von der jungen japa­ni­schen Regis­seurin Naomi Kawase wie das Klischee des typischen japa­ni­schen Spät­fes­ti­val­films: Ein alter Mann schnitzt stun­den­lang ein Stück Holz, die Kamera lugt ihm bedeu­tungs­voll über die Schultern. Ein Wald guckt sattgrün. Nebel­schwaden steigen auf und dampfen. Bäume rauschen im Wind. Das alles muss wohl Buddhismus sein denkt man, überlegt, auf welche Party man nachher noch gehen will, und als dann noch aus dem Mund eines Mönchs ein latent kultur­pes­si­mis­ti­scher Satz – »Einsam­keit ist ein Ergebnis des modernen Lebens« – mit Bedeu­tungs­schwere vorge­tragen wird, ist man nahe dran, hinaus­zu­gehen. Aber dann ist es doch mal kurz etwas inten­siver, man bleibt noch drin, bevor wieder buddhis­ti­sches Mambo-Jambo einsetzt, und das Festival zum zweiten Mal nach Ulrich Seidl einen Geriatrie-Besuch unter­nimmt, diesmal auf Japanisch. Man lernt einen alten Mann kennen, der vor langer Zeit seine Frau verloren hat und so senil ist, dass er den Stand eines Vorschul­kindes erreicht hat. Eine junge Pflegerin kümmert sich besonders intensiv und rührend um ihn, und mit der Zeit entwi­ckelt sich ein besonders vertrau­li­ches Verhältnis zwischen den beiden. Wir erfahren, dass die junge Frau vor kurzem ihren kleinen Sohn verloren hat. Und nach überaus schwer­fäl­ligem Anfang kommt der Film mehr und mehr in Fahrt. Und es kommt zu einigen ungemein filmi­schen Momenten, super Szenen, etwa wenn die beiden einmal Verste­cken in einem Weinberg spielen. Besonders auffal­lend dabei: Die hervor­ra­gende Kamera.

Bei einem Ausflug der zwei läuft der alte Mann weg, die junge Frau geht hinterher, kann ihn kaum einholen. Immer tiefer dringen die beiden in den Wald vor und haben sich irgend­wann verlaufen. Da setzt auch noch ein schweres Unwetter ein, Regen­wasser bildet Sturz­bäche, und die junge Frau bekommt einen hyste­ri­schen Anfall. Wir verstehen, dass sie an ihr Kind denkt, dass offenbar in einem solchen Sturzbach ertrunken ist. Dann hört der Regen auf, doch die beiden müssen im Wald über­nachten. Sie machen Feuer, als der Alte heftig friert, wärmt sie ihn mit ihrer Körper­wärme. »At least we are alive, aren’t we?« sagt sie. Am nächsten Morgen scheint die Sonne, doch längst haben die beiden über die erzwun­gene, kathar­ti­sche Rückkehr in den Natur­zu­stand auch einen anderen Zustand ihrer selbst erreicht. Die Kamera begleitet das alles nervös, unsicher, mal ganz nahe dran, dann schüch­tern zurück­blei­bend, dem Blick der beiden erst nach Sekunden folgend.
Sie laufen durch den Wald, nur scheinbar ziellos, doch dann findet der Alte dort im Wald das Grab seiner Frau. Er gräbt selbst mit den Händen ein Loch, und legt sich hinein. »I am going to sleep in the earth.« Und der Film ist aus.

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Mag sein, dass sich das keiner ansieht, trotzdem ist es großartig. Und Mogari no mori ist meine persön­liche Goldene Palme, einfach weil es der Film ist, dem es gelang, mich emotional noch mehr zu packen, als es den Coen-Brüdern oder Fincher gelungen ist, in deren Filmen man natürlich die Sinn­lich­keit der Ideen und die Schönheit des Intel­lekts entdecken kann. Oder als es Seidl gelang, obwohl der Wider­wille und die Aggres­sion, den dessen Import Export auslöst, natürlich auch ein Gefühl ist.
Viel­leicht geht es mit Mogari no mori aber auch wie 1999 mit Rosetta, der ganz am Schluss lief und den fast keiner mehr ansah. Und plötzlich gewann er – Jury­prä­si­dent David Cronen­berg sei Dank – die Palme d’Or.

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Was macht eigent­lich eine wirklich gute Kamera aus? Ange­mes­sen­heit ist der Begriff, der mir am ehesten einfällt. Natürlich ist das auch esote­risch.

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Bei Perse­polis gibt es solche Fragen nicht. Der schwarz­weiße Anima­ti­ons­film stammt von der Franco-Iranerin Marjane Satrapi, die hierin ihren eigenen bekannten Comic verfilmt, in dem sie ihre Jugend unter den Mullahs in den ersten Jahren nach der Revo­lu­tion und die Geschichte ihrer Teheraner Familie reka­pi­tu­liert – die sehr gebildet, sehr politisch, sehr bürger­lich ist, eine Art von links­li­be­ralem, repu­bli­ka­ni­schem Bürgertum, wie es das in Deutsch­land gar nicht gibt.
Eine Jugend in einem laizis­ti­schen Land, das plötzlich verrückt wird, voller Schwär­merei für Punk und Adidas, Bruce Lee und Pommes Frites,
durch­zogen von der großen Enttäu­schung, dass es vor allem das Volk war, dass vom Schah befreit wurde, sich aber dann leicht­fertig selbst neuen, ungleich schlim­meren Dikta­toren hingab. »Vertraut dem Volk« sagte Marjanes revo­lu­ti­onärer Onkel, bevor die Mullahs ihn in die Todes­zelle warfen. unter dem Schah gab es 3000 poli­ti­sche Gefangene, unter Khomeini 300.000. Ein schön gemachter Film, der viele unbe­kannte Geschichten erzählt. Und eine Moral: »Jeder hat immer eine Wahl.«
Hübsch auch der Einfall, die Rolle der Satrapi von Chiara Mastrio­anni sprechen zu lassen, und die ihrer Mutter von Mastroi­annis leib­li­cher Mutter Catherine Deneuve. Bei allem Enga­ge­ment ist Perse­polis dann doch ein ganz klein bisschen enttäu­schend, weil er zu oft auf einer privaten Ebene verharrt. Aber unbedingt ein Preis­kan­didat, auch aus poli­ti­schen Gründen.

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Irgend­wann hatten alle Jour­na­listen ein rosa­far­benes Päckchen in ihrem Fach. Es wurde zum begehr­testen Giveaway von Cannes: §s enthielt ein Kondom und ein paar Bilder von leicht­be­klei­deten jungen Menschen und warb für den „Certain-Regard“-Film Pleasure Factury aus Singapur. Der Film selbst war eine Art Softporno und ein Hybrid aus allerlei Klischees über das Berufs­feld der Prosti­tu­ierten und über Asien, dessen eigene Position völlig unklar blieb.

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Für weitaus mehr Pleasure sorgte Abel Ferrara. Sein neuer Film Go Go Tales ist zwar grenz­wertig in seiner Rück­sichts­lo­sig­keit gegenüber den Zuschauern und elemen­taren Grund­sätzen des Erzähl­hand­werks. So einen Film hat es noch nicht gegeben. Gewiß auch einfach Unsinn. Aber doch ein Film voller Leiden­schaft, den man gern und erst gegen Ende etwas erschöpft ansieht. Auch hier sehr viel nackte Haut, unter anderem von Asia Argento, hemmungslos folgt der Film den Obses­sionen dieses Regis­seurs. Mit einer furiosen ersten Szene hat der Film den Zuschauer schon am Haken: Eine Bar zeigt Sex und Geld, Drinks und Bob Hoskins, Frauen die Tanzen und Männer die reden. In dieser Bar bleiben wir fast durch­ge­hend, der Boss ist pleite, und gewinnt dann in der Lotterie, zwischen diesen beiden Polen sieht man einfach schöne Frauen schöne Dinge tun, und atmet einen Hauch von Cassa­vettes. Und ein schöner Satz fällt: »A day without culture is like a day without… – You know, what I am thinking.«

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Noch einmal schöne Frauen bei aller­dings schlimmen Dingen gab es gleich hinterher: Death Proof von Tarantino. Ein völlig verrücktes Revival des 70er-Exploita­tion-Genres. Viel zu laut, zuerst uner­träg­lich, dann grooved man sich ein, und freut sich wenn drei leicht­be­klei­dete Models coole Sprüche klopfen und Kurt Russel im Rahmen einer Auto­ver­fol­gungs­jagd zur Strecke bringen. Da Beste am Film ist die Musik – zum Beispiel der super-France-Galle-Song „Laisser tomber les fillmes“, den immerhin Serge Gains­bourg schrieb – ansonsten ist der Film, was er ist.

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»Auf der Bühne verraten sich alle«, sagt RP Kahl. Woher er das überhaupt weiß, möchte man ja schon wissen. Denn in den Fatih Akin Film ist er nicht hinein­ge­kommen – dank seiner weißen Schuhe. Statt diese dann mit einem schwarzen Edding zu übermalen, den man(n) für solche Fälle immer in seiner Herren­hand­ta­sche – wer weiße Schuhe trägt, hat auch die – haben sollte, ging RP in L’homme perdu von Danielle Arbid aus der Quinzaine – und war angenehm über­rascht. Die Regis­seurin beob­achtet zwei Männer auf der Suche nach dem Extremen. Ein Film voller Antonioni-Anleihen, bei dem man bis zum Ende nicht genau sagen kann, worum es geht. Aber die Bilder faszi­nieren, und das Gefühl mit dem man drinsitzt, gut.

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Irgendwo hat RP dann auch noch Lucy, Luisa, Simone und Christina getroffen, die für die SZ-Online berichten. Lucy wurde die Geldbörse mit 300 Euro und dem Ausweis geklaut, weshalb sie jetzt auch ihr e-ticket nicht benutzen kann. RP spen­dierte den Vieren immerhin das Taxi. „Laisser tomber les filles“ eben – aber nur, um sie danach wieder aufzu­fangen.

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Gut aufge­nommen wurde Fatih Akins Wett­be­werbs­film Auf der anderen Seite, über den ich gestern schon geschrieben hatte. Über­ra­schend war das für mich, weil ich unmit­telbar nach der Pres­se­vor­füh­rung eigent­lich nur Leute getroffen hatte, die vom Film im Gegensatz zu mir mehr oder weniger enttäuscht waren – aller­dings fast alle Deutsche. Und wer Gegen die Wand fürs Kino-Nonplus­ultra hält, muss auch von diesem Film enttäuscht sein, der eher Jazz statt Rock bietet, Offenheit zulässt und nicht auf jede Frage eine Antwort geben will.

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Schon allein ein Grund, die Türkei möglichst schnell in die EU aufzu­nehmen, ist die türkische Musik. Ohne Frage eine kultu­relle Berei­che­rung. Das bewies die Party zu Akins Film am Mittwoch. Plötzlich präsen­tierte sich der deutsche Film heiter und gelassen. Am nächsten Tag war Akin dann schon zu Beginn der Inter­views so heiser, wie andere viel­leicht an deren Ende. Er hatte selbst aufgelegt, und wenig geschlafen.
»Ich bin Deutscher und bin froh im sicheren Deutsch­land zu leben. In der Türkei würde ich sofort in den Knast kommen.« erzählte Akin viel­leicht ein bisschen über­trieben.
Aber es hat schon seine ironische Seite, dass das derzei­tige inter­na­tio­nale Aushän­ge­schild des deutschen Kinos ein deutsch-türki­scher Regisseur ist, dessen Werke zu immer größeren Teilen in der Türkei spielen, in türki­scher Sprache und fast ausschließ­lich mit türki­schen Darstel­lern – so wie übrigens auch Volker Schlön­dorffs außer Konkur­renz gezeigter Ulzhan ausschließ­lich in Kasach­stan. Das ist kein Sonder­fall, sondern reprä­sen­tiert den Trend des Weltkinos zur Auflösung strenger Zugehö­rig­keiten im Global­film: Chinesen drehen in den USA, Öster­rei­cher in Frank­reich und der Ukraine, Inder in der Schweiz. Und es zeigt auch, wie überholt das Denken in natio­nalen Kate­go­rien eigent­lich ist. So wie Film immer das Produkt eines ganzen Teams ist, ist er auch die Verschmel­zung unter­schied­lichster kultu­reller Einflüsse.

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Und dem Kollegen einer süddeut­schen Tages­zei­tung blieb es wieder mal vorbe­halten, statt über Filme zu schreiben, leichte Mädchen zu erwähnen, die er angeblich nachts an der Bar des Carlton kennen­ge­lernt hat. Tja, eigent­lich würden wir auch gerne einmal des Nachts eines jener gefal­lenen Mädchen kennen­lernen und selbst­ver­s­tänd­lich beim Absturz auffangen – die hier vom Festival angezogen werden, wie Motten vom Licht. Bevor wir morgen über die Preise berichten.