Tenet

GB/USA 2020 · 150 min. · FSK: ab 12
Regie: Christopher Nolan
Drehbuch:
Kamera: Hoyte van Hoytema
Darsteller: John David Washington, Elizabeth Debicki, Robert Pattinson, Aaron Johnson, Kenneth Branagh u.a.
Nicht mehr als Schachfiguren in einem Gedankenspiel?
(Foto: Warner Bros.)

Der Mann, der mit sich selber kämpft

Die Krümmung der Zeit, der Biegung des Raums und die Ordnung der Dinge: Killing Time mit Christopher Nolans Tenet

»All I have for you is a word: ›Tenet‹. It'll open the right doors. Some of the wrong ones too. Use it carefully.«
Aus dem Drehbuch

»tenet – noun
one of the princi­ples on which a belief or theory is based: 'It is a tenet of contem­porary psycho­logy that an indi­vi­dual’s mental health is supported by having good social networks.'
'The model is built on the basic tenet of binomial dichotomy.'
'The safety of survivors of domestic violence is the central tenet of this research project.'
'It is argued that as a core tenet of the practice expe­ri­ence it is timely and appro­priate to review percep­tions of risk and uncer­tainty.'«

Cambridge Dictionary

Man kommt aus diesem Film heraus und wundert sich, dass die Züge vorwärts fahren, dass die Vögel am Himmel nicht rückwärts fliegen und der Qualm der ziga­ret­ten­rau­chenden Kollegen nicht in die Zigarette hinein­ge­sogen wird...

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»Versuch nicht es zu verstehen. Fühle es!« – schon relativ zu Beginn legt Chris­to­pher Nolan dies einer Wissen­schaft­lerin in den Mund, die der Haupt­figur das Welt­prinzip dieses Films erklärt. Damit legt der Regisseur auch seine eigenen Karten auf den Tisch. Denn keines­wegs ist Nolan ein Irra­tio­na­list des Kinos. Im Gegenteil wirft man ihm immer wieder gern »Kälte« und allzu »geschmei­dige« »Konstruk­tionen« vor – im Deutsch­land des Rumpel­kinos ist so etwas alles ein Vorwurf.

Manche wollen es aber nicht kapieren, manche kramen dann doch wieder die alten Stereo­typen hervor, nicht nur die, die man gegen Nolan schon immer einge­wandt hat, sondern die, die das Kino des psycho­lo­gi­schen Realismus immer schon gegen jede andere Form von Kino vorge­bracht hat, sei es nun abstraktes Expe­ri­men­tal­kino, oder sei es das nicht weniger abstrakte, nicht weniger expe­ri­men­telle Block­buster-Kino.
Ja, und dann genügt es natürlich nicht, dass die NZZ-Kriti­kerin den Plot nicht versteht, sondern oh weh, noch schlimmer: Keine Haupt­dar­stel­lerin, wo man doch »im 21. Jahr­hun­dert Geschichten aus neuen Perspek­tiven erzählt und Haupt­rollen mit Frauen besetzt, sogar in Super­helden- und Action­filmen«. Mensch, sowas aber auch. Reicht denn da nicht ausnahms­weise mal ein schwarzer Haupt­dar­steller?

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Nolans Kino trennt die Spreu vom Weizen. Es trennt nicht nur das Publikum in mindes­tens zwei Teile, nicht nur die Film­kritik, in die, die bereit sind, sich auf das einzu­lassen, was der Film sein will, und ihm nicht das vorhalten, was es ihrer Ansicht nach sein soll. Sondern innerhalb des Bewusst­seins eines jeden Zuschauers die Seite, die ihn skeptisch macht, und die Seite, die ihn eupho­risch werden lässt.

Man muss Nolans Filmen gewachsen sein, und ich habe es am eigenen Leib erfahren, dass ich seinen Filmen nicht immer gewachsen war. Man lernt dazu. Auch Tenet ist ein Film, dem ich nach dem ersten Mal sehen nicht gewachsen bin. Aber ich habe dazu­ge­lernt, dies auch genauso hinzu­schreiben und darauf aufmerksam zu machen, dass alles Folgende nur ein Vorläu­figes sein kann. Ich will den Film noch mal sehen und gewis­ser­maßen seiner Struktur folgen, in der Zeit zurück­reisen und ihn vor und zurück­spulen im Kopf, ihn ausein­an­der­nehmen, und dann neu zusam­men­setzen, und dann...

Mitt­ler­weile kennt man die Erfahrung eines Nolan-Films: Denkt man über die Geschichten und bestimmte Szenen retro­spektiv nach, mögen sie nicht völlig wider­spruchs­frei sein. Aber das macht nichts. Denn Nolan ist ein Kino-Zauber­künstler, der den Blick des Zuschauers derart sicher zu steuern und seine Reak­tionen perfekt zu beherr­schen versteht, dass es jederzeit den Eindruck hat, es verstehe, was passiert. Nolan-Filme »funk­tio­nieren« im Gefühl des Publikums.
So auch in Tenet.

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Der erste Schriftzug ist in Rot, der zweite in Blau. Da Chris­to­pher Nolan ein Regisseur ist, der nichts dem Zufall überlässt, kann man davon ausgehen, dass bereits die Wahl dieser Farben ein Statement ist , eine Bedeutung hat. Tatsäch­lich werden wir sie später verstehen.

Aber es stimmt: Tenet besitzt – auf den ersten Blick zumindest – nicht so viel Tiefe, wie Inter­stellar oder auch Inception. Ande­rer­seits hat sich die Größe von Inception auch erst mit der Zeit entfaltet.

Es gibt großar­tige, wunder­schöne Bilder in diesem erstaun­li­chen Film. Zum Beispiel, wenn ein Mann hier gegen sich selber kämpft. Das hat neben der visuellen eine symbo­li­sche Kraft, wie eine Helden­epi­sode aus der antiken Mytho­logie. Das Staunen der Figur über diesen Moment trifft sich mit dem Staunen von uns Zuschauern. Wir können nicht wirklich verstehen, was hier geschieht, dafür ist alles zu kompli­ziert, zu schnell geschnitten, zu rasant erzählt, aber auch zu gewagt in seinen Voraus­set­zungen. Wir müssen es fühlen, hinnehmen, was hier passiert. Wir müssen akzep­tieren, dass Chris­to­pher Nolan wie der Gott seiner Welt die Gesetze der Physik, der Natur, und selbst die Gesetze der anderen Götter außer Kraft setzt. Das ist so schön wie beängs­ti­gend.

Alles beginnt mit einem Terror­an­schlag in einem Konzert­saal. Es soll, so ist später zu erfahren, die Oper von Kiew sein. Sie ist es aber nicht, ein Blick ins Netz genügt – zu wenig Zucker­bä­cker­stil, zu viel Beton. Sondern die Linnahall in Tallinn, ein moder­nis­ti­scher, flacher bunkerähn­li­cher Archi­tek­ten­traum. Ausver­kauftes Haus, viel Geld sitzt im Saal, das Orchester spielt sich ein, die Türen werden fest verschlossen und sicher abge­rie­gelt. Gleich sehen wir, dass der Ort beob­achtet wird, mindes­tens dreimal. Einmal von uns. Dann von einer Loge aus, hinter einer Glas­scheibe; zwei Leute sitzen da und ein Bodyguard. Und dann nochmal von außen: In einem parkenden Fahrzeug sitzen weitere Männer, die erwar­tungs­voll auf das kommende Geschehen blicken. Einer sagt: »We live in a twisted world.« Er weiß nicht, wie recht er hat.

Dann plötzlich dringen die Maskierten ein. Brutal schlagen sie Mitglieder des Orches­ters nieder, gewinnen Kontrolle über den Raum – so glauben sie zumindest. Das alles entpuppt sich aber als eine getarnte Operation, um einen Mann, offenbar einen ameri­ka­ni­schen Spion, der enttarnt wurde, im Chaos in Sicher­heit zu bringen. Doch auch das ist nur der Schein von etwas anderem. Denn die Befreier selber werden gestört und enttarnt...

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Das Chaos nimmt zu. Nun lernen wir die Haupt­figur kennen: Ein schwarzer Ameri­kaner, etwa Mitte 30, (gespielt von John David Washington, dem Sohn von Denzel). Wir wissen noch nicht, was er eigent­lich tut, falls er selber das noch weiß, aber wir lernen ihn in seinem Huma­nismus kennen, mit dem er versucht, Menschen zu retten, obwohl es die Operation gefährdet, und in seiner Opfer­be­reit­schaft: Der Mann wird gefangen genommen, gefoltert, ihm werden die Zähne ohne Narkose mit einer Zange einzeln heraus­ge­bro­chen – in einem unbe­ob­ach­teten Moment kann er eine Gift­kapsel schlucken und sich töten.

»Welcome to the afterlife!« – er wacht auf, lag im künst­li­chen Koma, sein Gebiss ist wieder­her­ge­stellt. Ein anderer Mann ist da und begrüßt ihn. Nicht jeder bestehe den Test, den er bestanden habe.

Er, dessen Namen wir auch am Ende des Films nicht erfahren haben werden, übernimmt den eigent­li­chen Auftrag: »You are not working for us, you are dead.« Eine Mission Impos­sible, die ihm seine Auftrag­geber auch nicht wirklich erklären können. Es ist nur klar: No Nonsense! Das ist alles verdammt bedeutend. Erst allmäh­lich, von Station zu Station, kris­tal­li­sieren sich einige Konturen heraus. Als er jemanden fragt, was er denn bekämpfen solle, raunt es nur auf seine Frage nach »World War III., nuclear holocaust?« – »Something worse.« Die wich­tigste Infor­ma­tion erhält er irgendwo im Norden, in irgend­einem gut versteckten Archiv. Dort lagern »Die Trümmer eines kommenden Krieges.«

Eine Wissen­schaft­lerin erklärt ihm die Prin­zi­pien des »Inver­tie­rens« oder der »Inversion«. Das Ganze wird beschrieben als rückwärts laufende Entropie. Man schießt auf ein Ziel, und die Patrone schnellt von dort ins Pisto­len­ma­gazin. Den Rat, den die kluge Dame ihm noch erteilt, kann man nur den Zuschauern weiter­rei­chen: »Don’t try to under­stand it – feel it.«

Dann ist er in Bombay. Dort trifft er Neil (Robert Pattinson), der so ein bisschen aus dem Nichts auftaucht – ein Beispiel, wo dieser Film viel­leicht nicht perfekt erzählt ist – und der offenbar viel weiß, wenn nicht alles. Er soll ihm helfen, einen Mann zu kontak­tieren, der beschrieben wird als »ein Broker zwischen unserer Zeit und der Zukunft.« Weil man solche Männer nicht treffen kann, brechen sie mit Draht­seilen und einer Art umge­drehtes Bungee Jumping in der perfekt gesi­cherten Hoch­haus­woh­nung ein. Ziemlich schnell wird klar, dass eigent­lich nicht der Mann, sondern seine Frau das Brain vor Ort ist.

Und so weiter, und so weiter, Aufgaben werden gelöst, eine Station führt zur nächsten, die Drama­turgie scheint hier der eines Compu­ter­spiels mit seinen Levels zu ähneln. Auch Michael Caine, Nolans Stamm­schau­spieler, ist dabei. Da gibt es ein paar Gespräche, wie man aussieht als Milli­ardär, darüber dass die Briten kein Monopol auf Snobismus haben, und Michael Caine antwortet: »Nein, aber sie haben eine Mehr­heits­be­tei­li­gung.«
Schließ­lich hat sich heraus­kris­tal­li­siert, dass da ein verrückter russi­scher Milli­ardär, gespielt von Kenneth Brannagh, offenbar die Welt vernichten will und »aus der Zukunft« angreift. Dieser Milli­ardär hatte Zugang zu den geheimen »geschlos­senen« Städten der Sowjet­union, und dort zu radio­ak­tivem Material. Jetzt will er, was ihm fehlt. So könnte man das detail­liert weiter­er­zählen...
Aber noch immer ist nicht mal das erste Drittel vorbei. Und wesent­lich, das hat man gemerkt, ist an Chris­to­pher Nolans neuem Film Tenet nicht die eigent­liche Geschichte.

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Aber wesent­li­cher als die Story sind an Nolans neuem Film die Bilder, und der Welt­ent­wurf, der ihnen zugrun­de­liegt: Fort­wäh­rend erlebt man großes, pracht­volles Spektakel: Ein Jumbojet, der in ein Haus hinein­rollt; Verfol­gungs­jagden über Zeit­mauern; eine Mine, die rückwärts nach innen explo­diert; ein Haus, das aus seinen Trümmern wieder zusam­men­ge­setzt wird; Schiffe, die rückwärts fahren; Vögel, die rückwärts fliegen; immer wieder diese wider­na­tür­li­chen, unmö­g­li­chen Rück­wärts­be­we­gungen – zugleich kann man, wenn man ganz genau hinschaut bemerken, dass nur bestimmte Figuren und Objekte sich rückwärts bewegen, alles Mögliche sich aber gleich­zeitig vorwärts bewegt.
Es gibt also eine Gleich­zei­tig­keit gegen­sätz­li­cher Bewe­gungen.

Das exakt ist die Struktur von Tenet. Wenn man auf diesen Titel achtet und zugleich vergisst, dass es sich um das englische Wort für »Grundsatz« und »Theorem« und »Glau­bens­satz« handelt, kann einem auffallen, dass dies ein Palindrom ist, also ein Wort, das sich von hinten nach vorne genauso wie von vorne nach hinten lesen lässt.
So kann man auch die Gegenwart vor- und zurück­spulen. Es handelt sich also um einen Zeit­rei­se­film, bei der die Zeitreise aller­dings in der Gegenwart statt­findet – innerhalb paral­leler Welten.

Im Kino ist das möglich, und es ist das besondere Können des Regis­seurs Nolan, dass er immer wieder, auch in diesem Thriller über Rela­ti­vi­täts­theorie und Quan­ten­physik, die Fähigkeit des Kinos ausreizt, unmö­g­liche Bilder zu präsen­tieren, die innerhalb der filmi­schen Logik trotzdem funk­tio­nieren.

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Zugleich ist alles sehr klassisch-elegant. Mindes­tens drei Genres über­la­gern sich hier: Tenet ist ein Spionage-Film, eine sehr avan­cierte, auch sehr zeit­ge­mäße Neu-Version eines James Bond-Films, eines klas­si­schen Agen­ten­thril­lers mit schönen und geheim­nis­vollen Frauen, spek­ta­ku­lären Jet-Set-Schau­plätzen und ganz vielen Action­se­quenzen. Nicht unter­schätzen sollte man, wie hier alles ausge­stellt wird, wie Nolan die Lust an Bewegung insze­niert – dies ist insgesamt ein schöner Film, der mit Schau­werten und mit Spektakel arbeitet – auch immer ein Grund, warum man ins Kino geht.

Zweitens ist dies ein »Heist-Film«, ein Safe­kna­cker-Film. Gleich zwei spek­ta­ku­läre und wunder­schön anzu­se­hende Dieb­stahls­ak­tionen gibt es hier: Der Einbruch in ein dem Pentagon ähnliches Hoch­si­cher­heits­depot in Norwegen, bei dem ein Jumbo mit hoher Geschwin­dig­keit hinein­ge­steuert wird, ist schön, der Überfall in Tallin, mit vier Lastwagen, die einen Trans­porter einklemmen, um dann von oben mit der Feuer­wehr­leiter eines Feuer­wehr­wa­gens in ihn einzu­steigen, ist noch schöner. Wie schon in Inception muss etwas gestohlen werden, diesmal aber nicht aus dem Unter­be­wusst­sein, sondern aus einer Paral­lel­welt.

Das dritte Genre, dem dieser Film zuzu­rechnen ist, ist der Paranoia-Thriller. Denn es geht schon auch darum, unsere reale Welt darzu­stellen – Nolan zeigt sie aber als eine Welt, über die der Einzelne nicht verfügt, nicht mehr verfügt. Eine Welt, der er fast ohnmächtig ausge­lie­fert ist. Wir bekommen hier zwar Menschen gezeigt, die als Einzelne eine Differenz machen können. Auf der anderen Seite bekommen wir die gleichen Menschen gezeigt als welche, die hilflos dem Gang der Dinge ausge­setzt sind, und die vor etwas beschützt werden, was sie noch nicht mal als Gefahr wahr­ge­nommen haben. Es gibt also die Differenz aus den wenigen Wissenden und den vielen Unwis­senden.

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Diese Differenz entspricht hier mehr denn je der prin­zi­pi­ellen Drama­turgie des Films: Was hier mit den Zuschauern passiert, ist, dass man eine Handlung zweimal erlebt: Einmal von links nach rechts, ein anderes Mal von rechts nach links. Was hier rückwärts, was vorwärts ist, wird zunehmend unklarer. Diese umge­kehrte Hand­lungs­rich­tung ist nicht dasselbe, als würde die Handlung rückwärts laufen – denn was hier tatsäch­lich passiert, ist, dass ein Teil der Handlung in den ersten zwei Dritteln rückwärts gelaufen ist – oder inver­tiert –, und genau dieser Teil läuft im letzten Drittel dann vorwärts. Natürlich schon etwas beschleu­nigt, weil wir »wissen«, was passieren wird – und auch wieder nicht.

Dies alles ist in mancher Hinsicht auch der Wunsch­traum unserer Zeit. Der Wunsch­traum, dass man Dinge unge­schehen machen könnte, der Wunsch­traum der univer­salen Mani­pu­la­tion: Der Mani­pu­la­tion nicht nur der Welt, wie sie ist, sondern auch der Welt, wie sie war, und der Welt, wie sie sein wird. Es ist der Wunsch­traum, dass auch Geschichte und auch die Zeit ein verfüg­barer Raum wäre. Es ist der Wunsch­traum, den man nicht als Gottes­kom­plex patho­lo­gi­sieren muss, dass jeder von uns Gott ist, der am Joystick Welten baut und Welten eins­türzen lässt. Wenige Regis­seure leben diesen Traum so sehr in ihren Filmen aus, wie Chris­to­pher Nolan.

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Ob Tenet das Kino retten wird? Mal abwarten, ob es überhaupt zu retten ist. Aber wenn, dann ist es nur zu retten, indem wir Zuschauer wieder lernen, uns hinzu­geben, unsere Macht abzugeben, zu staunen, zu fühlen. Indem wir beginnen, mit uns selbst zu kämpfen.

Blockbuster als längeres Gedankenspiel

Christopher Nolan rettet mit Tenet vielleicht wirklich das Kino, aber nicht seinen Film, der leblos wie eine Dissertation zum Thema Zeitparadoxien, nicht linearem Denken und verkehrten Entropien zu einem monolithischen Nolan-Denkmal erstarrt

»Wo viel Licht ist, ist starker Schatten.« – Johann Wolfgang von Goethe, Götz von Berli­chingen mit der eisernen Hand.

Die Hoff­nungen und der Hype, die seit Monaten in Chris­to­pher Nolans Tenet als Retter des Kinos proji­ziert wurden, scheinen sich tatsäch­lich zu mate­ria­li­sieren. Die erste Hollywood-Groß­pro­duk­tion, die es nach langem Zögern in die immer noch durch Corona-Regelwerk ange­schla­genen inter­na­tio­nalen Kinos geschafft hat, hat es nach dem ersten Woche­n­ende auf immerhin 53 Millionen Dollar Einnahmen geschafft; mit 7,1 Millionen Dollar liegt Tenet im Heimat­land Nolans, Groß­bri­tan­nien, sogar recht nah an den Einspiel­ergeb­nissen von Nolan-Erfolgen wie Inception und Inter­stellar. Der heutige nach­ge­zo­gene Start in den USA und einen Tag später, am 4. September in China, könnte also tatsäch­lich zu dem »bedeu­tenden Sieg« für das Kino­er­lebnis in der COVID-19-Ära werden, von dem der Hollywood Reporter bereits am Woche­n­ende geprochen hatte.

Dieser Erfolg dürfte zu einem großen Teil einem block­buster-ausge­hun­gerten Kino­pu­blikum zu verdanken sein, das alles frisst, was ihm vorge­worfen wird, denn Tenet ist mit Abstand der schwächste Film in Nolans Werk­ver­zeichnis und hätte unter »normalen« Verhält­nissen wohl kaum die singuläre Aufmerk­sam­keit erhalten, die ihm jetzt zuteil wird.

Dabei reiht sich Tenet fast schon muster­gültig in den Kanon von Nolans großen, die »Zeit« thema­ti­sie­renden Filmen wie Memento, Inception und Inter­stellar ein. Doch in den fünf Jahren, die Nolan Tenet vorbe­reitet hat, schien es ihm zunehmend ein Anliegen gewesen sein, seine eigenen Ideen noch einmal zu vertiefen, und gewis­ser­maßen das zu schaffen, was in der Literatur James Joyce mit »Finnegans Wake« und Arno Schmidt mit »Zettels Traum« versucht haben.

Dadurch zerbricht Nolans Film mehr noch als seine letzten Filme in einen komplexen theo­re­ti­schen Teil, ein, um Arno Schmidt noch einmal ins Spiel zu bringen, »Längeres Gedan­ken­spiel«, und in einen prak­ti­schen, die »objektive Realität«. Arno Schmidt hat diesen dicho­tomen »Zustand« lite­ra­risch abge­bildet, indem er – wie etwa in KAFF auch Mare Crisium – die Buchseite zwei­ge­teilt hat, um beiden Seiten glei­cher­maßen gerecht zu werden.

Nolan geht kompli­zierter vor. Die objektive Welt seiner west­li­chen Geheim­dienst- und russi­schen Olig­ar­chen-Welt skizziert Nolan in gewal­tigen, großartig insze­nierten stro­bo­sko­pi­schen Bild­welten, die von dem präzis-peit­schenden Score von Ludwig Göransson uner­bitt­lich voran­ge­trieben werden. Bild­welten, in denen Flugzeuge wie Möwen ihren ursprüng­li­chen entro­pi­schen Zustand verändern und unter einer tempo­ralen Zangen­be­we­gung sogar mit dem entge­gen­ge­setzten Zustand ko-exis­tieren können und in denen es auch schon mal vorkommen kann, dass sich Ich und Ich in der Hitze des Gefechts über den Weg laufen. Das sind große, schwin­del­erre­gende Nolan-Momente, wie wir sie auch schon aus seinen anderen Filmen kennen. Aber Nolan will mehr. Denn es geht, und das darf man viel­leicht nicht vergessen, bei Nolan wohl auch schon darum, so etwas wie ein Alters­werk zu schaffen.

Deshalb ist Nolans theo­re­ti­scher Teil in Tenet, sein »längeres Gedan­ken­spiel«, an dem er ja schon seit seinem Debüt Following immer Interesse hatte, noch weitaus umfang­rei­cher als jemals zuvor. Denn mehr als jemals zuvor sind Nolans Prot­ago­nisten keine Prot­ago­nisten im eigent­li­chen Sinn mehr, also Charak­tere, die eine Entwick­lung durch­laufen, sondern schlichte Platz­halter für Ideen, die Nolan wichtig sind. Nolan markiert diese Vorge­hens­weise auch dadurch, dass er seiner CIA-Haupt­person tatsäch­lich keinen Namen gibt.

Die Dialoge in Tenet bewegen sich dementspre­chend auf dem Niveau von Klas­sen­raum-Erklär­dia­logen einer Physik-Klasse der deutschen gymna­sialen Oberstufe. Zwar gelingen über die wie immer bei Nolan stereotyp-blasse Frau­en­rolle, in diesem Fall Kat (Elizabeth Debicki), ein paar gender-groteske Momente, weil Kat den Haupt­prot­ago­nisten (John David Washington) um einiges überragt, aber kaum beginnt sie davon zu reden, dass ihr Sohn ihr ein und alles ist, für den sie (fast) alles bereit ist zu tun, ist auch das schon wieder Makulatur, war auch das nur ein theo­re­ti­scher Jux ohne prak­ti­sche Folgen und wie alle Bewe­gungen der Figuren in Tenet nicht mehr als die Bewegung einer Schach­figur statt einer charak­ter­li­chen Entwick­lung – mehr noch, als auch Nolans Personal wie Schach­fi­guren dann und wann ihren entro­pi­schen Zustand verändern, also rückwärts gezogen werden können, es eine uns bekannte mensch­liche Entwick­lung und einen Bezie­hungs­aufbau im klas­si­schen Sinn nicht geben kann, nicht geben darf.

Dieses von Nolan dezi­dierte Ziehen der Figuren, manchmal zu schnell, dann wieder viel zu lang, und ihre dabei vermit­telten theo­re­ti­schen Worthülsen verhin­dern dann auch, dass einem das Personal auch nur in Ansätzen »ans Herz wächst« und damit die eigent­liche Block­buster-Katharsis, die Rettung der objek­tiven Realität vor einer globalen, tempo­ralen Implosion, einem schon sehr schnell ziemlich egal ist. Und mehr noch, einem schon nach einer halben Stunde ernüch­ternd klar wird, dass Nolans einer Wissen­schaft­lerin in den Mund gelegter Satz: »Versuch nicht es zu verstehen. Fühle es!« genauso für die Katz ist und nichts weiter ist, als eine weitere als Prinzip getarnte Verball­hor­nung. Und wo nichts zu fühlen ist, da ist auch nicht nichts mehr zu verstehen, was natürlich auch umgekehrt seine Gültig­keit hat. Nolan hin oder her.