27.08.2020

Hollywoods Uhrenmacher

Christopher Nolan 2018 in Cannes
Christopher Nolan selbst ist vor allem eines: aus der Zeit gefallen. Hier bei den Filmfestspielen in Cannes im Mai 2018
(Foto: CC BY-SA 4.0 / Georges Biard)

Der Name Christopher Nolan zaubert den geneigten Autorentheoretikern ein Lächeln ins Gesicht. Denn so unterschiedlich die Stoffe des britisch-amerikanischen Regisseurs auch sein mögen, ob psychoanalytischer Traum-Thriller (Inception), verstörender Kriegs- bzw. Antikriegsfilm (Dunkirk), Weltraumoper (Interstellar) oder Rachedrama (Memento), so gibt es doch ein großes Thema, das ihn seit jeher umtreibt: die Zeit.

Von Jens Balkenborg

Keiner dreht, dehnt, staucht, zerstü­ckelt die Zeit derart, wie der große filmische Uhren­ma­cher. Was bedeutet Zeit als lineares Orga­ni­sa­ti­ons­prinzip des mensch­li­chen Daseins, welche Rolle spielt sie in Narra­tionen als Erzähl­zeit und erzählte Zeit? Nolans Filme sind zeit­phi­lo­so­phi­sche Diskurse und zugleich selbst­re­fle­xive Ausein­an­der­set­zungen mit dem Film als zeit­ba­sierter Kunst. Und das, seit er Filme macht.

Montierte Wahr­neh­mung
Schon Following, sein Debüt aus dem Jahr 1998, ist ein kleines Bravour­stück zeit­li­cher Verschach­te­lung. Nolan erzählt die Geschichte eines Schrift­stel­lers auf exis­ten­zi­ellem Schlin­ger­kurs. Der stellt Menschen auf der Straße nach und gerät an einen Einbre­cher, dem es weniger ums Stehlen geht als darum, die Menschen auszu­spio­nieren und durch gelegte Spuren zu verun­si­chern. In dem Noir­thriller nutzt Nolan das Verwirr­spiel zwischen verschie­denen Zeit- und Erzäh­le­benen, um die zuneh­mende Paranoia der Haupt­figur auf uns zu über­tragen.

Das Spiel mit der Zeit betreibt der Regisseur zunächst vor allem monta­ge­seitig. So auch in Memento, seinem Inde­pen­den­thit und Durch­bruch von 2001 und in The Prestige (2006). Ersterer erzählt die Rache­ge­schichte eines Mannes ohne Kurz­zeit­ge­dächtnis, der den Mörder seiner Frau sucht, szenen­weise rückwärts – ein kluges Spiel mit Ursache und Wirkung, das unsere Wahr­neh­mung mit der des Gedächt­nis­ge­schä­digten zusam­men­schaltet. In The Prestige, einem verspielten Histo­ri­en­thriller um zwei konkur­rie­rende Zauberer, ist die zeitliche Verschach­te­lung Teil des filmi­schen Zauber­tricks, der genüss­lich über die zwei Stunden Spielzeit vorbe­reitet wird. Nolan ist ein Magier auf dem Gebiet der Doppel­bö­dig­keit, der den erzäh­le­ri­schen Twist für sich gepachtet hat: das Kino als Wunder­tüte voller Über­ra­schungen.

Innere und äußere Reise
Zeit ist Bewegung. Was aber passiert mit ihr, wenn es um Bewe­gungen in innere, unter­be­wusste Räume und Raumü­ber­brü­ckungen geht? Der psycho­ana­ly­ti­sche Traum­thriller Inception (2010) handelt von einem Team, das Träu­menden durch Eingriffe in das Unter­be­wusst­sein Erin­ne­rungen einpflanzt. Jede Traum­ebene, die es tiefer hinabgeht, bedeutet eine neue Zeitebene.
In Inception wird Nolans Lieb­lings­topos erstmals auch zum tragenden inhalt­li­chen Gegen­stand, ist die Orga­ni­sa­tion der Zeit nicht mehr nur Aufgabe der Montage. Nolans Ästhetik der Zeit, vor allem jene traumhaft-pitto­resken Zeit­lu­pen­ein­stel­lungen, haben Film­ge­schichte geschrieben. Ebenso die Bedeutung eines Kreisels. Fällt er um?

Zeit ist Bewegung, das wird schmerz­lich bewusst in der Welt­raum­oper Inter­stellar (2014). Die Erde steht vor dem Kollaps und lässt einen Expe­di­ti­ons­trupp auf der Suche nach einem neuen Heimat­pla­neten an inter­ga­lak­ti­sche Orte reisen, an denen die soge­nannte Zeit­di­la­ta­tion dafür sorgt, dass Stunden auf einem Planeten Jahre auf der Erde bedeuten. Inter­stellar ist filmische Rela­ti­vi­täts­theorie und erforscht die raum­zeit­liche Entgren­zung, im exis­ten­zi­ellen Sinne ebenso wie im philo­so­phi­schen. Zugleich verbeugt sich Nolan vor seinem großen Vorbild Stanley Kubrick.

Verstö­rende Dehnung und Hybris
War der Faktor Zeit bisher Span­nungs­motor, Teil eines gewieften Verwirr­spiels oder Kern eines exis­ten­zia­lis­ti­schen Diskurses, wird er in Dunkirk (2017) zum Apparat der Verstö­rung. Nolan erzählt von der Evaku­ie­rung des briti­schen Expe­di­ti­ons­korps im Zweiten Weltkrieg auf drei Zeit­ebenen an Land, zu Wasser und in der Luft: eine Woche dauert die Handlung um die Soldaten am Strand der bela­gerten fran­zö­si­schen Küsten­stadt, ein Tag die Ereig­nisse um einen Fischer, der die Evaku­ie­rung mit seinem Boot unter­stützt, und eine Stunde jene um einen Kampf­flieger, der die Rettungs­boote beschützen soll.

Mit dieser erzäh­le­ri­schen Trias zele­briert der Regisseur die zeitliche Paral­le­lität, die, rhyth­mi­siert durch die todbrin­gende Kriegs­ma­schi­nerie und vor allem durch Hans Zimmers nerven­auf­rei­bende Dauer­be­schal­lung samt Uhrticken, für ein Gefühl der Dehnung sorgt. Die für Nolan sport­li­chen 107 Minuten Spielzeit von Dunkirk fühlen sich länger an, sie sollen zermürben. Endet der Horror jemals? Verstärkt wird dieses Unbehagen durch den soge­nannten »Shepard Tone«, eine von Zimmer einge­setzte akus­ti­sche Täuschung, bei der die Tonhöhe unendlich auf- oder abzu­steigen scheint: die zeitlich-akus­ti­sche Unend­lich­keit.

Und nun Tenet, mit dem Nolan – und das recht­fer­tigt zugleich die Chro­no­logie dieser Werkschau – seinen zeit­phi­lo­so­phi­schen Diskurs auf die Spitze treibt. Tenet ist, was der Titel bereits andeutet: ein filmi­sches Palindrom. Nolan spielt mit dem Gedanken der zeit­li­chen Inversion und spinnt daraus einen Thriller, in dem James Bond’scher Agen­ten­bom­bast auf Science Fiction trifft und einem gehörig die Synapsen durch­ein­an­der­wir­belt. Und in dem es tatsäch­lich gelingt, die Paral­le­lität verschie­dener zeit­li­cher Bewe­gungen, das Vor und Zurück, auf die Leinwand zu bringen. Da bewegen sich Menschen unter erschwerten Bedin­gungen vorwärts durch eine sich rückwärts bewegende Welt. Niemals haben Nolans Zeit-Expe­ri­mente Ästhetik und Inhalt glei­cher­maßen derart beein­flusst.

In 22 Karrie­re­jahren hat Nolan unsere Vorstel­lungen von Zeit auf den Kopf gestellt (und ganz nebenbei in einer Trilogie die Figur des Batman neu erfunden). Following wurde damals scherz­haft als »Feier­abend­film« bezeichnet, weil er, gedreht für 6000 £, an Samstagen mit als Schau­spieler ange­heu­erten Kumpels entstand, die werktags arbeiten mussten. Heute ist der Fünf­zig­jäh­rige ein Unikum in Hollywood. Wer sonst kann von sich behaupten, dass er in der Traum­fa­brik als Autoren­filmer intel­li­gente und zugleich bombas­ti­sche 200-Million-Dollar-Produk­tionen reali­siert (Tenet soll 225 Millionen gekostet haben)? Nolan selbst ist vor allem eines: aus der Zeit gefallen.