Deutschland 2020 · 93 min. · FSK: ab 12 Regie: Bjarne Mädel Drehbuch: Sven Stricker Kamera: Kristian Leschner Darsteller: Bjarne Mädel, Katrin Wichmann, Leo Meier, Anne Ratte-Polle, Matthias Brandt u.a. |
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Versehrte Menschen in versehrten Landschaften | ||
(Foto: NDR / Michael Ihle) |
Er hat sich eigentlich immer irgendwie ausgezahlt, wenn Schauspielern ihr Job irgendwann nicht mehr reichte und sie in die Regie wechselten – sei es Dennis Hopper, Sofia Coppola, Robert Redford, Barbara Streisand, Clint Eastwood oder Jodie Foster, um einfach mal wahllos herumzustochern. Bei der Bandbreite an Rollen, mit der Bjarne Mädel sich zum Ausnahmeschauspieler entwickelt hat – über Stromberg, Mord mit Aussicht, Tatortreiniger, 1000 Arten Regen zu beschreiben oder Gundermann – lag auch bei Mädel nahe, die eigenen Grenzen zu erweitern.
Mädel hat sich dabei für die filmische Umsetzung eines Hörspiels entschieden, das Sven Stricker 2018 Mädel auf den Leib geschrieben und für den NDR inszeniert hatte. Auch der vom NDR produzierte Film ist von Stricker geschrieben, aber von Mädel inszeniert. Und das trotz des ja schon arg strapazierten Genres des Heimat- und Dorfkrimis überraschend unkonventionell, nicht nur im Vergleich zu so erfolgreichen Formaten wie der Eberhofer-Krimireihe (zuletzt Leberkäsjunkie), die es ja sogar ins Kino geschafft haben.
Das liegt natürlich zum einen an der guten Vorlage, einem Drehbuch, das gesellschaftliche Reizthemen wie industrielle Fleischverarbeitung, politische Korruption, sexuellen Missbrauch von Kindern und psychische Labilität gut ausbalanciert in ein dörfliches Umfeld abwirft und mit genügend Leerstellen und präzisen, messerscharfen, immer wieder die Lakonie streifenden Dialogen dabei zusieht, was daraus entsteht.
Überraschenderweise fühlt sich das Ergebnis trotz der hier skizzierten thematischen Vielfalt nicht überfrachtet an, denn Mädel nimmt sich viel Zeit, seinen von Angststörungen geplagten Hauptkommissar Sörensen – von Mädel selbst gespielt und mit eigenen Angsterfahrungen angereichert – bei seinem Umzug aus Hamburg in das friesische Katenbüll vorzustellen, deutet über wenige, verstörende Momente die inneren Verletzungen an, denen Sörensen unterworfen ist, und die er eigentlich durch diesen Umzug heilen will. Aber die Provinz mutiert mit seinem Eintreffen zu eben dem, was Sörensen eigentlich verlassen wollte, zu einem Ort im Kleinen, der menschliches Versagen im Großen darstellt und an dem Sörensen zu zerbrechen droht.
Es ist aber nicht nur Mädels subtiles Schauspiel und die formale Stärke mit einer immer wieder überraschenden Kamera (Kristian Leschner), die Sörensen hat Angst so sehenswert machen, sondern es sind auch die Schauspieler an Mädels Seite, die aus dem Dorfkrimi einen Krimi von Welt machen. Denn Katrin Wichmann, Leo Meier und die großartigen Anne Ratte-Polle und Matthias Brandt bespielen ihre zerrissenen Charaktere mit soviel Glaubwürdigkeit und latentem, »heimatverbundenem« Humor, dass man glaubt, sich so ganz und gar nicht mehr im deutschen Fernsehfilmalltag zu befinden.
Denn aus »Katenbüll«, das eh aus Varel, Bremerhaven, Rastede, Butjadingen und Jade zusammengefilmt wurde, ist plötzlich mehr als nur peinlich platte Provinz. Ganz wie Aki Kaurismäki in seiner »Proletarischen Trilogie« (Schatten im Paradiess, Ariel und Das Mädchen aus der Streichholzfabrik) überführt auch Mädel »Heimat« zu etwas völlig Neuem, zu einem Ort, an dem schwer versehrte Menschen versuchen, trotz kaputter Strukturen und nicht vermeidbarer Todesfälle ein klein wenig Glück und Verständnis zu finden, und sei es in der simplen Erkenntnis, dass Fisch nun mal auch Fleisch ist.
Sörensen hat Angst wird am 20. Januar 2021 um 20.15 Uhr in der ARD ausgestrahlt und ist bis zum 20. April 2021 in der ARD-Mediathek abrufbar.