Frankreich/E 2025 · 115 min. Regie: Óliver Laxe Drehbuch: Óliver Laxe Kamera: Mauro Herce Darsteller: Sergi López, Bruno Núñez, Stefania Gadda, Joshua Liam Henderson, Jade Oukid u.a. |
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Gestrandet in der Wüste | ||
(Foto: Filmfestspiele Cannes | Oliver Laxe) |
»Sirât« das ist die »Brücke, dünn wie ein Haar und scharf wie ein Messer«. Diesen schmalen Grat nehmen die Protagonisten im Wüsten-Roadmovie des Spaniers Oliver Laxe mit ihren schweren Trucks. Den immer leicht unter Droge stehenden Aussteigern hat sich ein Vater mit seinem Sohn im silberfarbenen Mittelklasse-Van angeschlossen. Die Fahrt ist eine überstürzte Fluchtbewegung vor einem anschwellenden, nicht näher definierten Krieg – sie gelangen dabei immer tiefer hinein in die marokkanische Wüste. Der furiose Film wurde in Cannes mit dem Grand Prix der Jury ausgezeichnet.
Zunächst beginnt alles mit einem überwältigenden Rave vor einer gigantischen Felswand. Eine Aussteigercommunity hält ihn wie einen Priesterdienst ab. Mit den rituellen Vorbereitungen fängt der Film an. Im großen Close-up schieben sich dicke Stecker in die Verstärker, plug, plug, bevor die Schalter umgelegt werden und es losgeht, wumm, wumm, wumm. Getanzt wird im gelben Staub, wumm, wumm, wumm, geschlafen im Schatten der Trucks, wumm, wumm, wumm. Man muss an die Kurzfilmserie Trypps denken des Amerikaners Ben Russell, der die Tanzenden als rituelles Rudel begreifbar machte, als eine Zusammenkunft im Dienste des heidnischen Gottes »Elektronische Musik«.
Ein zugleich großartiger wie kleiner, fast dokumentarischer Auftakt, der Sirat von Beginn an in seiner Narrativität von der anderen Cannes-Jury-Gewinnerin In die Sonne schauen unterscheidet. Die Aufmerksamkeit für Oliver Laxe begann 2016 mit Mimósas, der viel von Sirât vorwegnimmt – eine Wüstenlandschaft, die Durchquerung von unwegsamem Gelände im Maultier-Tross. Dann kam O que arde (Fire Will Come), wo die grüne Landschaft Galiciens Feuer fängt. Ben Rivers hat Oliver Laxe für seinen Film mit dem überlangen Titel The Sky Trembles and the Earth is Afraid and the Two Eyes are not Brothers besetzt. Er spielt darin einen rituellen Schamanen, der sich in der marokkanischen Wüste auf einen halluzinogenen Trip begibt. Das ist seitdem das Bild, das ihn begleitet; mit dem Argentinier Santiago Fillol, seinem Drehbuchautor, hat er sich die narrative Suggestion des Dokumentarischen erhalten.
Die Raver, die den ungewöhnlichen Konvoi durch die Wüste anführen, hat Laxe mit Laien besetzt, wie der Film selbst viel existentielles Sein erzählt und wenig vom Schein: Da sind Steff (Stefania Gadda), Josh mit einem Holzbein (Joshua Liam Herderson), Bigui mit Armstumpf (Richard Bellamy), Jade mit Gesichtstattoo (Jade Oukid). Sie sind die Freaks der Schaustellerei, Josh trägt einmal ein T-Shirt mit dem Titel von Tod Browning. Und dann kommt doch noch eine Spielfilmhandlung hinein, in Gestalt von Sergi López, der allein durch seinen gut genährten Mittelklasse-Körper, der in einem Jeanshemd steckt, das Szenario der ausgemergelten Hippies und trancenden Ausgeflippten aufmischt. Er ist Luis, der mit seinem achtjährigen Sohn Esteban nach der halbwüchsigen Tochter sucht, wie ein Familienvater, der sein Kind aus einer Sekte herausholen will – auch er wird vom Zugriff des tragisch Kontingenten nicht verschont bleiben.
Laxe baut weitere Assoziationsbrücken. Die gigantische Lautsprecherwand, die sich in der Wüste vor den zuckenden Körper der Raver aufbaut, evoziert Chantal Akermans Leinwand-Installation »Une voix dans le désert«. Wenn die Trucks im Eiltempo im Konvoi die Ebene durchqueren, Sand und Staub aufwirbeln, denkt man natürlich an George Millers Mad Max mit seinen furiosen Wüstendurchquerungen. Und schließlich an Henri-Georges Clouzots Le salaire de la peur (Lohn der Angst), wenn es mit großer Vorsicht und Fahrpräzision die Serpentinen entlanggeht, sich der Abgrund unter den Rädern auftut, die Steine vom Weg losgeschlagen werden. Und sogar an Kelly Reichardts Meek’s Cutoff. Denn die Abzweigung, die der Konvoi nimmt, ist ein Irrweg, ein way of no return. Unerbittlich geht es ins Nirwana der gewaltvollen Existenz.
Die Realität kann nur über das Imaginäre, über die Assoziationsbrücken verlassen werden, bisweilen auch in der Radikalität der Ereignisse. Die Figuren werden unerbittlich von den existenziellen Fängen der kriegsgeplagten Gegenwart eingeholt. Laxe’ Sirât hält eine bittere Moral über die dystopische Existenz bereit, die die Menschen an den archaischen Abgrund ihrer Seele bringt. Am Schluss des Films rast ein übervoller Güterzug mit nordafrikanischen Flüchtlingen durch die leergefegte Wüstenlandschaft, darunter die Raver und Sergi López. Sie sind die einzigen Weißen, die die Gewalt und die Folgen des Kriegs erlitten haben. Sie fahren in eine Zukunft hinein, deren Gleise sich im Sand verlieren.
Eine Raveparty, irgendwo in einem namenlosen Wüstengebiet in Marokko. Zuerst sieht man, wie riesige Lautsprecher sehr ruhig und bestimmt mitten in einer weiten Ebene aufgestellt werden. Die Kamera zeigt dabei zunächst nur die kräftigen, vom Leben gezeichneten Arme und Hände, die das tun. Handwerk und Handarbeit und die Zeit, die beides braucht, sind in diesem schnellen, intensiven Roadmovie mit Elementen eines Psychothrillers überhaupt sehr wichtig. Dann beginnt der elektronische Beat zu hämmern, während die Titel-Credits über die Körper der selbstvergessen Tanzenden hinwegziehen.
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Der knapp 60-jährige Luis (Sergi Lopez, das einzige bekannte unter lauter neuen Darsteller-Gesichtern, die meist Laien gehören) sucht an diesem Ort gemeinsam mit seinem kleinen Sohn Esteban seine vor Monaten verschwundene Tochter. Am nächsten Morgen schließt er sich einer Gruppe der Raver an, die mit zwei geländegängigen Trucks durch ein Wüstengebiet fahren wollen, irgendwohin zur nächsten Raveparty und jedenfalls weg von der Zivilisation mit ihren Zwängen, Regeln und Normierungen.
Eine »terra incognita«, Wüste im eigentlichen Sinn, das Nichts – für Oliver Laxe, den Regisseur dieses Films besteht die Widerstandskraft des Kinos in der Fähigkeit, Erlebnisse spürbar zu machen.
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So wird dieser Film zu einem Roadmovie sehr sehr eigener Art, zu einer Fahrt ins Ungewisse. Seine Erzählprämisse – die Tochtersuche und der Wüstentrip – entpuppt sich rasch als loses und durchaus fragiles Gerüst, das eine Reise ins Symbolische und Abstrakte tragen soll. Durch die Bildgewalt der Inszenierung mit ihrem starken sinnlichen, dramatischen wie auch metaphorischen Potenzial, wird dies aber zunehmend unwichtig. Denn die Protagonisten und mit ihnen das Publikum erleben Grenzerfahrungen: Sie liegen in der Musik und ihrem Rhythmus, im Trance, die sie erzeugen; in der Geschwindigkeit der Fahrzeuge und schließlich in Grausamkeiten, die sich im Laufe dieses Trips ereignen – und die hier explizit zu machen, tatsächlich das Erlebnis einer Erstsichtung verderben müsste: Dies ist ein Film, der all unsere Sinne und Gefühle anspricht, den man mit jeder Faser leiblich spürt und erlebt, und der trotzdem den Verstand nicht ausschaltet, sondern ihn aufweckt, anregt und für vielfältige Deutungen öffnet.
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Was zu erleben ist, ist unter anderem das Aufeinandertreffen zweier Familienmodelle: Die klassische Kernfamilie (Vater-Mutter-Kind) ist – mutterlos, tochterlos – zerbrochen, so sehr, dass über die Ursachen dafür in diesem Film schon gar keine Worte mehr verloren werden, und zerbricht weiter.
Sie trifft in den Ravern auf ein neues, fluideres Familienbild, das mit »Patchwork« nur unzureichend beschrieben ist. Diese selbsternannten Außenseiter, Nonkonformisten und drogen- wie musikberauschten Diener der Ekstase stellen eine neue Stammesform dar, einen Ausdruck der mysteriösen Kraft von Mythos und Trance, der eher an schamanische Rituale von Naturvölkern erinnert als an New-Age-Hippies. Es sind Versehrte, Freaks und Außenseiter, mit amputierten Gliedern, Gesichtstattoo, einfacher Sprache, arkanen Ritualen, großer Herzenswärme und Selbstlosigkeit.
Der Titel Sirât stammt aus dem arabischen Islam: Es bezeichnet die Brücke, die alle Menschen überqueren müssen, um das Paradies zu erreichen. Unter dieser Brücke liegt die Hölle. Manche Menschen überqueren sie sicher, andere stürzen in die ewige Dunkelheit. Die Brücke, heißt es zu Beginn, sei »so dünn wie ein Haar und so scharf wie ein Messer«.
Laxe filmt diesen Weg über die Brücke, diese Reise seiner Figuren aus einer esoterischen, aber zugleich dezidiert materialistischen Haltung. Das heißt aus der Gewissheit heraus, dass es nach dem Tod nichts gibt – so wie seine Geschöpfe auch nichts anderes haben als ihren Körper.
Laxe bemüht sich, jede Spur zu tilgen, die den individuellen Lebensweg der Figuren an die Oberfläche des Films befördern könnte. Man könnte sagen, die dichte Weite der Wüste löse die Masken auf, die Luis, Esteban und die anderen in ihrem bisherigen Leben getragen haben, ein Leben, das ins Off jenseits des Films verbannt ist – aber diese Behauptung wäre falsch, denn es gibt in der Erzählung keinerlei Spur ihrer Vergangenheit, keine Anhaltspunkte zu ihren persönlichen Geschichten, ihrer Psyche oder deren mögliche Auswirkungen auf das öffentliche Leben. Es gibt auch keinen Widerhall von Sehnsüchten, Wünschen oder Ängsten, die ihren Alltag vor der Reise bestimmt haben. Sie sind in gewissem Sinn bereits über die Brücke hinweg.
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Dies ist ein allegorischer Trip, der vom ekstatischen Rauschzustand in die Angst und dann in das Glück einer Befreiung führt. Womöglich finden die Figuren auf diesen Umwegen Erlösung. Sich auf diese filmische Reise überhaupt erst einzulassen, zur der der spanisch-französische Regisseur Oliver Laxe – der in Galicien, dem rauen Nordwesten Spaniens aufwuchs – in seinem vierten Langfilm seine Zuschauer einlädt, erfordert allerdings die Bereitschaft, die heute fast schon dogmatisch gewordenen Regeln des gewöhnlichen, pragmatisch verengten Erzählkinos zu verlassen. Über seinen bloßen narrativen Rahmen hinaus lässt uns dieser Film in eine Erfahrung eintauchen, die von der Art ist, die man zur Zeit gern »immersiv« nennt: Sogartig, hineinziehend, unwiderstehlich.
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Diese Erfahrung ist eine doppelte Bewegung und gleicht ebenso sehr einem Abstieg in die Hölle, wie der Suche nach einem Paradies. Ein Trip ins Spirituelle, Psychedelische, aber auch in Kontingenz und Willkür.
Sirât ist darum ein eigentlich unbeschreiblicher Film. William Friedkins The Sorcerer trifft Zabriskie Point von Antonioni; die apokalyptische Verbrenner-Action aus Mad Max trifft das meditative Traumwandlerkino des Thailänders Apichatpong Weerasethakul. Nicht zuletzt ist es ein Wüstenfilm. Und mehr als an alle anderen dieses Subgenres, selbst an Henri-Georges Clouzots Le salaire de la peur (Lohn der Angst – bekanntlich das Vorbild für The Sorcerer – muss man auch an Werner Herzogs Fata Morgana denken, in dem Wüste und Bewegung, moderne Technik und ewige Mythen ähnlich flirrend verschmelzen, wie hier.)
In der sehr freien Kombination solch widerstreitender Einflüsse und Anregungen zeigt der galicische Filmemacher Originalität, Eigensinn und das beeindruckende Gespür für Bilder voll expressiver Kraft und formaler Wucht – Kamera: Mauro Herce, der auch selbst Regisseur ist, und hier auf 16mm analog gedreht hat –, für Figuren und Themen, denen sich sonst kaum jemand im Gegenwartskino widmet.
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Gelegentlich gerät Laxe’ Drang zur symbolischen Wucht und zum mystischen Diskurs zwar allzu offensichtlich. Aber immer wieder schlägt die gegenwärtige Wirklichkeit unmissverständlich in den Film ein: Nie aufdringlich oder didaktisch, aber unübersehbar kreuzt sich diese psychedelische Karawane mit dem Hier und Jetzt, mit Autoritarismus, mit der Willkür von Militärs und Partisanen, aber auch mit Fluchtbewegungen und Pilgerreisen die kreuz und quer durch Afrika ihre Spuren ziehen. Laxe’ Film ist das Gegenteil von Eskapismus. Er ist getränkt im Bewusstsein für das Katastrophische unserer Gegenwart.
Sirât ist ein Konvolut aus Weltuntergangsaugenblicken und -symbolismen, immer auf der Suche nach der letzten Bilder- und Kino-Party, bevor »alles zum Teufel geht«. In biblischen Tönen, vom alttestamentarischen Opfer bis zum Fallenlassen in die Leere, sind die göttlichen Kräfte längst in den unerträglichen Nihilismus unserer Existenz eingeschrieben. Laxe spiegelt diese Menschheit hier in ihrer besten und in ihrer erbärmlichsten Verzweiflung, erfüllt von ihren Hirngespinsten und ihrer Selbstzerstörung.
Im Spiegel der alltäglichen Weltuntergänge der Hollywood-Spektakel – bewahrt Sirât die Zeichen wahrhaftigerer Apokalypse: Mangel, Verlust, Verleugnung, Verzweiflung, Entblößung bis hin zur Reduktion auf das Tierische, passiv gegenüber dem eigenen Schicksal. Und Sand, immer mehr Sand, in unwirtlicher Landschaft mit endlosen Horizonten.
In Mimosas (2016), seinem ersten Langfilm, wanderte Laxe bereits durch das Atlasgebirge – der Film war ein Film, aber auch eine Feldstudie. Danach in O Que Arde (2019), das Feuer und wieder die Mischung aus Reduktion auf das Nichts und wilder zerstörerischer Wut, und am Ende die Asche. In Sirât ist Asche, Sand, Staub das, wozu die Körper werden. Von der Komplexität zur Einfachheit, wird Laxe hier zum neuen Meister der filmischen Abstraktion.
Sirât ist konsequent, sinnlich, leidenschaftlich, kompromisslos, ohne Zugeständnisse an Mainstreamstile oder ans Publikum zu machen – im Gegenteil voller Vertrauen darauf, dass es Menschen gibt, die sich mitreißen lassen von Atmosphären und Stimmungen, von erkennbarer Leidenschaft, und eben von der erwähnten Kompromisslosigkeit. Dies ist zwar kein perfekter, aber ein wahnsinnig guter, starker Film; Kino, wie es sein sollte; Kino, in dem immer alles möglich ist: Auch der größte Unsinn, auch die schlimmste Überraschung, auch die prächtigste Schönheit.
Das Ende der Welt wird einfach sein.