The Ordinaries

Deutschland 2022 · 124 min. · FSK: ab 12
Regie: Sophie Linnenbaum
Drehbuch: ,
Kamera: Valentin Selmke
Darsteller: Fine Sendel, Jule Böwe, Henning Peker, Noah Tinwa, Sira Faal u.a.
Rollenspiele
(Foto: Port-au-Prince/notsold/24 Bilder)

Wer bin ich und wenn ja, welche Filmfigur?

Sophie Linnenbaum gelingt in ihrem Spielfilmdebüt The Ordinaries eine originelle Liebeserklärung an das Kino

Thema­tisch schließt The Ordi­na­ries an die vielen Science-Fiction-Dystopien wie Die Tribute von Panem oder Die Bestim­mung – Divergent der 2010er Jahre an: Eine junge Frau sucht ihren Platz und ihre Aufgabe in einer dikta­to­risch gesteu­erten und streng hier­ar­chisch geglie­derten Gesell­schaft. Da hier aller­dings kein Riesen­budget mit inter­na­tio­nalen Stars und entspre­chender Vermark­tung zur Verfügung stand, ist das Filmset eher unspek­ta­kulär, die Drehorte aber sehr geschickt gewählt, und der Film erinnert im Look teilweise an die grau-trostlose Welt aus Orwells 1984. Man sieht, dass ein Science-Fiction-Film – wie der fantas­ti­sche Hell von 2011 – durch das Spiel mit Licht, Farben und Räum­lich­keiten (Kamera Valentin Selmke) keine spek­ta­ku­lären CGI-Effekte braucht, um atmo­s­phä­risch zu über­zeugen.

Beim Filmfest München gewann The Ordi­na­ries den Förder­preis Neues deutsches Kino für die beste Regie, weitere Preise folgten. Ein Film, der prall gefüllt ist mit origi­nellen Ideen und liebe­vollen Details. Die alles in allem auch sehr verspielte und leichte Liebes­er­klä­rung an das Kino macht auch mehr­ma­liges Sehen lohnens­wert, und es ist zu hoffen, dass der Film jetzt auch ein großes Publikum findet.

Die Grundidee: Wir befinden uns in einer geschlos­senen Filmwelt von Film­fi­guren, die unab­hängig von einem Publikum exis­tieren und dort ihr Eigen­leben führen.

Paula Feinmann (Fine Sendel) ist die Tochter einer Neben­figur und einer verstor­benen Haupt­figur und bereitet sich gerade auf ihre Abschluss­prü­fung an der Haupt­fi­gu­ren­schule vor. Dort will sie nach fünf Jahren harter Arbeit u. a. an Cliff­hanger-Szenen und Panik­krei­schen, enthu­si­as­tisch ange­trieben von ihrem Schau­spiel­lehrer, einen senti­men­talen Monolog über ihren verstor­benen Vater aufführen, der ihr den Eintritt in die glamouröse Welt der Haupt­fi­guren ermö­g­li­chen soll. Die passende drama­ti­sche Musik liefert ihr dabei ein soge­nannter »Herzleser«, den jede Haupt­figur an sich trägt. Doch die ohnehin schon etwas mutlose und an sich selbst zwei­felnde Paula wird irritiert von disso­nanten Tönen ihres Herz­le­sers (Musik Fabian Zeidler), die ihr signa­li­sieren, dass etwas nicht stimmt. So geht sie zunächst zu einer Ärztin, die sie routi­niert unter­sucht – »Nennens­werte Wende­punkte oder Cliff­hanger in den letzten Wochen?« – und tatsäch­lich zu einem fatalen Ergebnis kommt: »Verdacht auf Miss­brauch von Emoti­ons­po­ten­zial.« Zudem muss Paula fest­stellen, dass über ihren angeblich märty­rer­haft verstor­benen Haupt­fi­guren-Vater im Archiv keine einzige Bild­auf­zeich­nung besteht. So macht sie sich mit Hilfe der »Fehl­be­set­zung« Hilde, einem männ­li­chen Haus­mäd­chen in Kleid und Häubchen (absolut wunder­voll verkör­pert von Henning Peker), in der Zone der Outtakes und verblas­senden Charak­tere auf die Suche nach ihrem Vater.

Eindring­lich werden die Klas­sen­un­ter­schiede in Szene gesetzt: Während Paula mit ihrer Neben­fi­guren-Mutter (über­ra­gend gespielt von Jule Böwe), die nur einen äußerst begrenzten Satz­vorrat zur Verfügung hat – »Ich habe mir Sorgen gemacht« –, in einem trost­losen mono­chromen Plat­tenbau lebt, wohnt ihre Schul­freundin Hannah (Sira-Anna Faal) mit ihrer Familie in einer großen bunten Villa. Wenn dort der Vater nach Hause kommt, beginnt die ganze Familie auf Stichwort bestens gelaunt eine kleine Musical-Nummer aufzu­führen, wobei sie sich dabei selbst­kri­tisch auf kleine Fehler hinweist, denn Perfek­tion ist das erklärte Ziel. Die klare Farb­ge­bung und Licht­ge­stal­tung unter­strei­chen die unter­schied­li­chen Lebens­welten, die noch einmal kontras­tiert werden von dem stets dunkel-nächt­li­chen, umzäunt und streng bewachten Areal der Outtakes, Schwarz-Weiß-Figuren und ähnlichem im hellen Haupt­be­zirk nicht gedul­deten Rollen­per­sonal. Die Unzu­frie­den­heit der an den gesell­schaft­li­chen Rand gedrückten und in slumähn­li­chen Verhält­nissen wohnenden Outtakes schafft sich mit kleinen Explo­sionen und Störungen der Film­auf­nahmen Gehör. Aber der Poli­zei­staat unter­drückt dies mit allen Mitteln und hat sich mit dem »Großen Massaker« eine Erin­ne­rungs­ideo­logie geschaffen, die eine großan­ge­legte Verfol­gung der Oppo­si­tion verschleiern soll.

Man könnte jetzt tatsäch­lich in Versu­chung kommen, den gesamten Film nach­zu­er­zählen, weil er gespickt ist mit film­re­fe­ren­ti­ellen Details (zum Beispiel kleinen Ausset­zern und Film­feh­lern bei Simon, einem Outtake und Freund Paulas – Montage Kai Eiermann) und lustigen Einfällen (Lassie-Cameo etc.), zusam­men­ge­halten von der drama­ti­schen Selbst­fin­dung und Eman­zi­pa­tion der Prot­ago­nistin, die dann auch gesell­schaft­lich-poli­ti­sche Impli­ka­tionen entwi­ckelt und die strenge Film­fi­guren-Hier­ar­chie in Frage stellt. Das ist natürlich vor allem ein Kompli­ment an das außer­ge­wöhn­liche Drehbuch von Sophie Linnen­baum und Michael Fetter Nathansky. Aber auch der gesamte Cast (Karl Schirn­hofer) ist toll zusam­men­ge­stellt und überzeugt, wie man so schön sagt, bis in die kleinste Neben­rolle. Allen voran die Prot­ago­nistin Fine Sendel, die immer wieder im Close-up die tragi­ko­mi­sche Film­hand­lung letztlich tragen muss und dies bravourös leistet. Vor allem in den Szenen mit Mutter und Tochter erzählt der Film eine psycho­lo­gisch stimmige und berüh­rende Geschichte des Erwach­sen­wer­dens. Paula erkennt die absolute emotio­nale und sprach­liche Beschränkt­heit ihrer im Neben­fi­guren-Korsett agie­renden Mutter, reagiert darauf aber mit Mitgefühl und Achtung statt mit Abwertung und Aggres­sion und kann sie dadurch am Ende ein wenig von ihrer Beschrän­kung befreien. Das ist eine wunderbar weise und stille Botschaft. Wie sich überhaupt alle hoff­nungs­vollen Botschaften, die diese Dystopie vermit­telt, in ihrer Unauf­dring­lich­keit wohltuend abheben von den immer lauter und pene­tranter vorge­tra­genen Aussagen ameri­ka­ni­scher Block­buster wie etwa Avatar: The Way of Water, wo zum Beispiel der Fami­li­en­zu­sam­men­halt (als letzter verbin­denden Ideologie einer zersplit­terten Gesell­schaft?) in endlosen pathe­ti­schen Schleifen beschworen wird, bis einem die Ohren dröhnen.