Milestone

Meel Patthar

Indien 2020 · 98 min.
Regie: Ivan Ayr
Drehbuch: ,
Kamera: Angello Faccini
Darsteller: Suvinder Vicky, Lakshvir Saran u.a.
Verlust von Identität und Hoffnung
(Foto: Netflix)

Ist es das wert?

Ivan Ayrs subtiles, untergründiges und universelles Sozialdrama um einen LKW-Fahrer vor dem Abgrund seines Lebens und der Gesellschaft ist erzählerisch starkes und formal beeindruckendes Kino

»Wenn du mich fragst, ich mache diese Arbeit, weil sie Teil meiner Identität ist. Mein Elend ist nur die Tatsache, dass ›das‹ alles ist, was ich bin.« – Suvinder Vicky als Ghalib in Milestone

Dass der indische Film weit mehr als Bollywood ist, ist nichts Neues, aber die wenigsten erinnern sich daran. An die großen Erfolge von Satyajit Ray etwa, auch in Europa, nachdem er 1956 mit seinem denk­wür­digen Debüt Pather Panchali, der Adaption von Bibhu­tib­hushan Bandy­o­pad­hyays düsterer, sozi­al­rea­lis­ti­scher Geschichte, nicht nur in Cannes Erfolge feierte.

Seitdem hat sich daran eigent­lich kaum etwas geändert, doch nur selten sind die Filme, die abseits Bolly­woods entstanden und klas­si­sches Autoren­kino sind, auch in die euro­päi­schen Kinos gekommen – bis auf wenige Ausnahmen wie Lunchbox oder die Die Schnei­derin der Träume, die es wegen inter­na­tio­naler Preise in den letzten Jahren dann doch geschafft haben. Für alle anderen Filme bleibt immerhin Netflix, das in erra­ti­schen Abständen und mit lawi­nen­ar­tiger Wucht eine Auswahl an indischen Filmen in den Katalog hievt, dass einem Hören und Sehen vergeht. Allein in diesem Jahr waren es so unter­schied­liche, aber allesamt sehens­werte Perlen wie The White Tiger, Bombay Rose, Bombay Begums oder The Disciple. Und jetzt ist auch noch Milestone (Meel Patthar) von Ivan Ayr dazu­ge­kommen, der die Viel­sei­tig­keit des dies­jäh­rigen indischen Film­auf­ge­bots komplett macht.

Denn Milestone ist fast so etwas wie eine Rück­be­sin­nung auf die großen, frühen Erfolge des indischen Autoren­kinos, etwa auf den am Anfang genannten Satyajit Ray. Wie Ray ist auch Ivan Ayr kein Unbe­kannter in Europa. 2018 hat sein Debüt Soni, ein packendes, poli­ti­sches Drama um eine junge Poli­zistin in Delhi in Venedig in der Sektion Orizzonti unter »standing ovations« Premiere gefeiert und auch Milestone, Ayrs zweiter Film, wurde 2020 nach Venedig einge­laden. Völlig zu Recht. Denn Ayrs Film besinnt sich wie sein Debüt nicht nur auf die sozi­al­rea­lis­ti­schen Stärken von Rays frühen Filmen, sondern schafft eine völlig neue, intensive Film­sprache, stellt Personen in den Mittel­punkt, die spüren, dass sie in ihrem Wunsch nach einer gerech­teren Welt nicht nur auf einsamen Posten, sondern sogar in Gefahr stehen, »entsorgt« zu werden.

War das in Soni die von der großar­tigen Geetika Vidya Ohlyan verkör­perte junge Poli­zistin, die sich gegen männliche Willkür ebenso auflehnt wie gegen system­im­ma­nente Korrup­tion, so ist es in Milestone der Last­wa­gen­fahrer Ghalib, der von Suvinder Vicky so atem­be­rau­bend und komplex verkör­pert wird, dass über sein Gesicht und seinen Körper nicht nur ein Leben erzählt wird, sondern die Misere einer ganzen Gesell­schaft, so wie das vor zwei Jahren auch Rainer Bock in David Nawraths Atlas gelang.

So wie Nawraths zentrale Gestalt bewegt sich auch Ghalib am Rande der Gesell­schaft, ja eigent­lich am Rande seines eigenen Lebens, hat er trotz einer halben Million gefah­rener Kilometer mehr verloren als gewonnen. Seine Frau hat sich wegen der geschei­terten Beziehung zu Ghalib das Leben genommen, weshalb die Khap Panchayat, die Ältes­ten­ver­tre­tung seines Heimat­ortes, ihn zu Ausgleichs­zah­lungen an die Schwester und den Vater seiner verstor­benen Frau verpflichtet. Aber auch auf der Arbeit läuft es nicht. Er hat Rücken­schmerzen, und der neue Azubi Pash (Lakshvir Saran) soll offen­sicht­lich sein Nach­folger werden, ein gutes Geschäft auch für die Besitzer der Spedition, Vater und Sohn, die dem jungen Fahrer deutlich weniger bezahlen müssen.

Diese beruf­liche Austausch­bar­keit und damit die Gefahr eines gravie­renden Verlustes von über die Jahre aufge­bauter Identität geht einher mit dem Verlust von Heimat, die nicht nur durch die verschie­densten, fern ihrer Herkunft gespro­chenen Sprachen (Panjabi, Kashmiri) offen­sicht­lich ist. Eine Heimat­lo­sig­keit, die immer wieder auch von den Schatten der eigenen Heimat verfolgt wird. Ghalibs Straf­ex­or­zismen in der Heimat, um die Gelder an die Verwandten seiner Frau auszu­richten, sind ein Beispiel dafür, ein anderes ist die Kashmiri-Familie im Mietshaus von Ghalib, die auf den betrun­kenen, eben entlas­senen Freund von Ghalib, der aus Versehen an ihre Tür hämmert, mit para­no­ider Panik reagiert, die Teil ihrer Erfah­rungen sein muss, die sie in ihrer von der indischen Armee immer wieder brutal kontrol­lierten Heimat gesammelt haben. Das Wohnhaus von Ghalib und die Außen­be­zirke von Delhi, die Ayr und sein Kame­ra­mann Angello Faccini in ernüch­ternd kompo­nierten Nacht­auf­nahmen zu düsterem Leben erweckt haben, verstärken den Eindruck von Nicht-Orten im Sinne Marc Augés, Orte ohne Geschichte, Relation und Identität und damit Tradition und einer damit einher­ge­henden kommu­ni­ka­tiven Verwahr­lo­sung, die den indischen Kritiker Aswin Bharadwaj zurecht an Chloé Zhaos Oscar-Gewinner Nomadland erinnert hat.

Aller­dings findet Ghalib nicht wirklich die Unab­hän­gig­keit, die er sich wünscht, verzichtet Ayr bis zum Ende auf jegliche Musik in seinem Film und damit auch den letzten Iden­ti­täts- und Hoff­nungs­schimmer, bleibt eigent­lich nur die Frage, in diesem so stillen wie wuchtigen, so poli­ti­schen wie poeti­schen, sehr univer­sellen und unbedingt sehens­werten Film: Ist es das wert, überhaupt noch Leben genannt zu werden?

Milestone ist seit dem 7. Mai 2021 auf Netflix abrufbar. Ivan Ayrs Debütfilm Soni ist ebenfalls auf Netflix zu sehen.