15.04.2021

Träume sind Totgeburten

Bombay Begums
Bloßlegung einer tief verwurzelten, überaus destruktiven Doppelmoral
(Foto: Netflix)

Alankrita Shrivastavas Serie Bombay Begums ist ein wildes, wütendes und radikales feministisches Manifest, das es trotz mancher Schwächen verdient hat, umarmt zu werden. Nicht nur in Indien.

Von Axel Timo Purr

The world is large, said Okonkwo. I have even heard that in some tribes a man’s children belong to his wife and her family.
That cannot be, said Machi. You might as well say that the woman lies on top of the man when they are making the babies.

― Chinua Achebe, Things fall apart

Seit Chinua Achebes nige­ria­ni­schem Klassiker und Meilen­stein der afri­ka­ni­schen Literatur Things fall apart (1958) verging eigent­lich kein Jahrzehnt, in dem nicht neue Romane über den schmerz­haften Trans­for­ma­ti­ons­pro­zess tradi­tio­neller in moderne Gesell­schaften erschienen sind. Mit der Deko­lo­nia­li­sie­rung, die Achebe mit seinem Roman auch versucht hat herbei­zu­schreiben, ist aller­dings eine Globa­li­sie­rung an ihre Stelle getreten, die fast ebenso starke gesell­schaft­liche Verwer­fungen zur Folge hatte, die heute so wie damals in soge­nannten tradi­tio­nellen Gesell­schaften am stärksten zu spüren sind. Und bis heute gibt es gerade dort immer noch lite­ra­ri­sche Perlen zu entdecken, so wie erst kürzlich The girl with the louding voice der jungen Nige­ria­nerin Abi Daré. Doch mehr und mehr sind es Serien und Filme, die die Aufgabe der Literatur über­nommen haben, diese Trans­for­ma­tionen in immer neue »Modernen« zu begleiten. Dabei wird auch deutlich, dass nicht jede Tradition unbedingt »gut« ist, dass ein Ausein­an­der­fallen auch bedeuten kann, etwas Neues und Besseres zu etablieren. Gerade in patri­ar­cha­lisch und neo-auto­kra­tisch geprägten Gesell­schaften scheint das Bedürfnis nach Neube­stim­mungen so groß zu sein, dass die Wucht des sie orches­trie­renden, kreativen Outputs immer wieder über­rascht. Ich denke dabei an die panafri­ka­ni­sche Serie Queen Sono (2020) oder an das so poetische wie poli­ti­sche türkische Seri­en­meis­ter­werk Bir Başkadır – Acht Menschen in Istanbul (2020). Oder an die vor einem Monat erschie­nene indische Serie Bombay Begums.

So wie Berkun Oya in Bir Başkadır – Acht Menschen in Istanbul seziert auch Showrun­nerin Alankrita Shri­va­stava die indische Gesell­schaft über Familien und im Beson­deren Frauen aus unter­schied­li­chen Gesell­schafts­schichten. In verkürzter Form hat Shri­va­stava das bereits in ihrem sehr erfolg­rei­chen und in Indien erst nach Eingriffen der Zensur­behörde erschie­nenen Lipstick Under My Burkha (2017) getan, in Bombay Begums (»Begum« ist ein in Indien und Pakistan gebräuch­li­cher Ausdruck für gesell­schaft­lich erfolg­reiche musli­mi­sche Frauen) nimmt sie sich nicht nur mehr Zeit, sondern sie hat auch mehr Wut im kreativen Gepäck. Eine Wut, die sich nicht nur aus den landes- und weltweit disku­tierten Verge­wal­ti­gungs­skan­dalen in Indien der letzten Jahre speist, und einer #MeToo-Bewegung, die zwar verspätet gestartet, seitdem aber bis in die heiligen Hallen Bolly­woods vorge­drungen ist. Sondern auch einer poli­ti­schen Neube­sin­nung begegnet, die, ähnlich wie in der Türkei unter Erdogan, links­li­be­rale Ideen über den Haufen wirft, nicht mehr die Moder­ni­sie­rung nach säkularem, west­li­chem Vorbild anstrebt, sondern einen post-kolo­nialen, modernen Hybrid unter hindu-natio­na­lis­ti­scher Flagge .

Shri­va­stava beginnt ihre Serie in höchsten Kreisen, bei Rani Irani (Pooja Bhatt), der CEO der Royal Bank of Bombay, deren Stiefsohn den Sohn der Prosti­tu­ierten und »Unberühr­baren« Lily (Amruta Subhash) anfährt und verletzt – ein zuletzt auch in The White Tiger und Bombay Rose genutzter Deus ex machina-Moment, der aller­dings tief in der indischen Realität verwur­zelt ist. Rani handelt mit Lily eine Art Klein­ge­wer­be­för­de­rungs-Deal zur Kompen­sie­rung aus, in den die aus der neuen indischen Mittel­schicht stammende und bei der Royal Bank of Bombay arbei­tende Ayesha (Plabita Borthakur) ebenso invol­viert wird wie die aus der etablierten Mittel­schicht stammende Fatima (Shahana Goswami), die gerade überlegt, ob sie ihre Beziehung und ein mögliches Kind ihren Aufstiegs­am­bi­tionen in der Bank opfern soll. Einen nicht immer gelun­genen, etwas aufge­setzten Subtext zu diesem mit wilden Auswüchsen ange­rei­cherten Bezie­hungs- und Berufs­ge­flecht trägt die altkluge Stief­tochter Ranis (Aadhya Anand) bei, die ihre prekäre pubertäre Verzweif­lung in über­kri­ti­schen und über­poe­ti­schen Beob­ach­tungen ihres Umfelds ausdrückt.

Doch mit der vierten der sechs um die 50 Minuten langen Folgen wird die Serie nicht nur erzäh­le­risch sichtlich gestrafft, sondern darf sich auch die junge Shia aus ihrem fami­liären und gesell­schaft­li­chen Korsett befreien und an der Seite ihrer Mitstrei­te­rinnen ein so impul­sives wie über­ra­schend direktes femi­nis­ti­sches Manifest erstreiten. Über­ra­schend vor allem deshalb, weil Shri­va­stava im ersten Teil der Serie noch Frauen zeigt, die sich so wie Männer verhalten, die ihre GegnerInnen aus Kalkül ernied­rigen und kein Problem damit haben, sexuellen, poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Miss­brauch der Männer aus ihrem Umfeld nicht nur zu verdrängen, sondern möglichen Wider­stand gegen diese Männer sogar zu unter­binden. Vor allem in diesen Passagen ist Bombay Begums psycho­lo­gisch akkurat und scho­nungslos, um die kaum zu spren­genden Verwick­lungen zwischen poli­ti­schen, wirt­schaft­li­chen und Gender-Hier­ar­chien zu erklären. So scho­nungslos und pessi­mis­tisch, dass Lily, einer düsteren Wieder­gän­gerin von Gitanjali Raos so viel lichterer Kamala in Bombay Rose, nur noch zu sagen bleibt: »Unsere Träume sind immer Totge­burten.«

Fast nebenbei erzählt Bombay Begums aber auch von Frauen, die sich schon vor ihrem #MeToo-Erwachen und trotz aller Hier­ar­chien den Spaß an Sex nicht nehmen lassen und sich dafür nicht nur Seiten­sprünge, kreative, offene Bezie­hungen und dysfunk­tio­nale Bezie­hungs­sys­teme leisten, sondern auch lernen, öffent­lich zu ihrer eigenen Bise­xua­lität und ihrem Begehren zu stehen.

Kaum über­ra­schend also, dass Alankrita Shri­va­stava wegen dieser expli­ziten Darstel­lungen und Forde­rungen von der sehr geteilten indischen Kritik nicht nur die Anhäufung von »PC Garbage« (also politisch korrektem Müll) vorge­worfen wurde, sondern bei Netflix von mehreren hindu­is­ti­schen Verbänden auch ein Verbot der Serie gefordert wurde. Das erinnert an das »Slut-Shaming« von Swara Bhaskar nach ihrer Mastur­ba­ti­ons­szene in Veere Di Wedding (2018) oder an die Prosti­tu­tions-Vorwürfe gegenüber der Vorsit­zenden der Jawa­harlal Nehru Univer­sity Studenten-Verei­ni­gung, Shehla Rashid, nachdem sie mehrere Politiker der Regie­rungs­partei BJP für ihre Betei­li­gung an Sex-Orgien kriti­siert hatte, macht aber vor allem deutlich, wie wichtig Bombay Begums nicht nur für die Bloß­le­gung der Doppel­moral der indischen Gesell­schaft ist.

Denn ein Blick auf das vor einer Woche in der New York Times publi­zierte Statement über sexuelle Beläs­ti­gung am Arbeits­platz der Program­mie­rerin Emi Nietfeld beim Welt-Konzern Google und das bestä­ti­gende Echo ähnlich betrof­fener Frauen lässt ahnen, dass es noch viel mehr Bücher wie das von China Achebe und Abi Daré und Serien wie Bombay Begums braucht, um die Welt, wie sie war und immer noch ist, aus den Angeln zu heben.

Bombay Begums ist seit dem 8. März 2021 auf Netflix abrufbar.