Träume sind Totgeburten |
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Bloßlegung einer tief verwurzelten, überaus destruktiven Doppelmoral | ||
(Foto: Netflix) |
Von Axel Timo Purr
The world is large, said Okonkwo. I have even heard that in some tribes a man’s children belong to his wife and her family.
That cannot be, said Machi. You might as well say that the woman lies on top of the man when they are making the babies.
― Chinua Achebe, Things fall apart
Seit Chinua Achebes nigerianischem Klassiker und Meilenstein der afrikanischen Literatur Things fall apart (1958) verging eigentlich kein Jahrzehnt, in dem nicht neue Romane über den schmerzhaften Transformationsprozess traditioneller in moderne Gesellschaften erschienen sind. Mit der Dekolonialisierung, die Achebe mit seinem Roman auch versucht hat herbeizuschreiben, ist allerdings eine Globalisierung an ihre Stelle getreten, die fast ebenso starke gesellschaftliche Verwerfungen zur Folge hatte, die heute so wie damals in sogenannten traditionellen Gesellschaften am stärksten zu spüren sind. Und bis heute gibt es gerade dort immer noch literarische Perlen zu entdecken, so wie erst kürzlich The girl with the louding voice der jungen Nigerianerin Abi Daré. Doch mehr und mehr sind es Serien und Filme, die die Aufgabe der Literatur übernommen haben, diese Transformationen in immer neue »Modernen« zu begleiten. Dabei wird auch deutlich, dass nicht jede Tradition unbedingt »gut« ist, dass ein Auseinanderfallen auch bedeuten kann, etwas Neues und Besseres zu etablieren. Gerade in patriarchalisch und neo-autokratisch geprägten Gesellschaften scheint das Bedürfnis nach Neubestimmungen so groß zu sein, dass die Wucht des sie orchestrierenden, kreativen Outputs immer wieder überrascht. Ich denke dabei an die panafrikanische Serie Queen Sono (2020) oder an das so poetische wie politische türkische Serienmeisterwerk Bir Başkadır – Acht Menschen in Istanbul (2020). Oder an die vor einem Monat erschienene indische Serie Bombay Begums.
So wie Berkun Oya in Bir Başkadır – Acht Menschen in Istanbul seziert auch Showrunnerin Alankrita Shrivastava die indische Gesellschaft über Familien und im Besonderen Frauen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten. In verkürzter Form hat Shrivastava das bereits in ihrem sehr erfolgreichen und in Indien erst nach Eingriffen der Zensurbehörde erschienenen Lipstick Under My Burkha (2017) getan, in Bombay Begums (»Begum« ist ein in Indien und Pakistan gebräuchlicher Ausdruck für gesellschaftlich erfolgreiche muslimische Frauen) nimmt sie sich nicht nur mehr Zeit, sondern sie hat auch mehr Wut im kreativen Gepäck. Eine Wut, die sich nicht nur aus den landes- und weltweit diskutierten Vergewaltigungsskandalen in Indien der letzten Jahre speist, und einer #MeToo-Bewegung, die zwar verspätet gestartet, seitdem aber bis in die heiligen Hallen Bollywoods vorgedrungen ist. Sondern auch einer politischen Neubesinnung begegnet, die, ähnlich wie in der Türkei unter Erdogan, linksliberale Ideen über den Haufen wirft, nicht mehr die Modernisierung nach säkularem, westlichem Vorbild anstrebt, sondern einen post-kolonialen, modernen Hybrid unter hindu-nationalistischer Flagge .
Shrivastava beginnt ihre Serie in höchsten Kreisen, bei Rani Irani (Pooja Bhatt), der CEO der Royal Bank of Bombay, deren Stiefsohn den Sohn der Prostituierten und »Unberührbaren« Lily (Amruta Subhash) anfährt und verletzt – ein zuletzt auch in The White Tiger und Bombay Rose genutzter Deus ex machina-Moment, der allerdings tief in der indischen Realität verwurzelt ist. Rani handelt mit Lily eine Art Kleingewerbeförderungs-Deal zur Kompensierung aus, in den die aus der neuen indischen Mittelschicht stammende und bei der Royal Bank of Bombay arbeitende Ayesha (Plabita Borthakur) ebenso involviert wird wie die aus der etablierten Mittelschicht stammende Fatima (Shahana Goswami), die gerade überlegt, ob sie ihre Beziehung und ein mögliches Kind ihren Aufstiegsambitionen in der Bank opfern soll. Einen nicht immer gelungenen, etwas aufgesetzten Subtext zu diesem mit wilden Auswüchsen angereicherten Beziehungs- und Berufsgeflecht trägt die altkluge Stieftochter Ranis (Aadhya Anand) bei, die ihre prekäre pubertäre Verzweiflung in überkritischen und überpoetischen Beobachtungen ihres Umfelds ausdrückt.
Doch mit der vierten der sechs um die 50 Minuten langen Folgen wird die Serie nicht nur erzählerisch sichtlich gestrafft, sondern darf sich auch die junge Shia aus ihrem familiären und gesellschaftlichen Korsett befreien und an der Seite ihrer Mitstreiterinnen ein so impulsives wie überraschend direktes feministisches Manifest erstreiten. Überraschend vor allem deshalb, weil Shrivastava im ersten Teil der Serie noch Frauen zeigt, die sich so wie Männer verhalten, die ihre GegnerInnen aus Kalkül erniedrigen und kein Problem damit haben, sexuellen, politischen und wirtschaftlichen Missbrauch der Männer aus ihrem Umfeld nicht nur zu verdrängen, sondern möglichen Widerstand gegen diese Männer sogar zu unterbinden. Vor allem in diesen Passagen ist Bombay Begums psychologisch akkurat und schonungslos, um die kaum zu sprengenden Verwicklungen zwischen politischen, wirtschaftlichen und Gender-Hierarchien zu erklären. So schonungslos und pessimistisch, dass Lily, einer düsteren Wiedergängerin von Gitanjali Raos so viel lichterer Kamala in Bombay Rose, nur noch zu sagen bleibt: »Unsere Träume sind immer Totgeburten.«
Fast nebenbei erzählt Bombay Begums aber auch von Frauen, die sich schon vor ihrem #MeToo-Erwachen und trotz aller Hierarchien den Spaß an Sex nicht nehmen lassen und sich dafür nicht nur Seitensprünge, kreative, offene Beziehungen und dysfunktionale Beziehungssysteme leisten, sondern auch lernen, öffentlich zu ihrer eigenen Bisexualität und ihrem Begehren zu stehen.
Kaum überraschend also, dass Alankrita Shrivastava wegen dieser expliziten Darstellungen und Forderungen von der sehr geteilten indischen Kritik nicht nur die Anhäufung von »PC Garbage« (also politisch korrektem Müll) vorgeworfen wurde, sondern bei Netflix von mehreren hinduistischen Verbänden auch ein Verbot der Serie gefordert wurde. Das erinnert an das »Slut-Shaming« von Swara Bhaskar nach ihrer Masturbationsszene in Veere Di Wedding (2018) oder an die Prostitutions-Vorwürfe gegenüber der Vorsitzenden der Jawaharlal Nehru University Studenten-Vereinigung, Shehla Rashid, nachdem sie mehrere Politiker der Regierungspartei BJP für ihre Beteiligung an Sex-Orgien kritisiert hatte, macht aber vor allem deutlich, wie wichtig Bombay Begums nicht nur für die Bloßlegung der Doppelmoral der indischen Gesellschaft ist.
Denn ein Blick auf das vor einer Woche in der New York Times publizierte Statement über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz der Programmiererin Emi Nietfeld beim Welt-Konzern Google und das bestätigende Echo ähnlich betroffener Frauen lässt ahnen, dass es noch viel mehr Bücher wie das von China Achebe und Abi Daré und Serien wie Bombay Begums braucht, um die Welt, wie sie war und immer noch ist, aus den Angeln zu heben.
Bombay Begums ist seit dem 8. März 2021 auf Netflix abrufbar.