Mein Sohn

Deutschland 2019 · 94 min. · FSK: ab 12
Regie: Lena Stahl
Drehbuch:
Kamera: Friede Clausz
Darsteller: Anke Engelke, Jonas Dassler, Hannah Herzsprung, Karsten Antonio Mielke, Max Hopp u.a.
Anke Engelke, nachdenklich
(Foto: Warner Bros.)

Ich brauch’ dich, ich brauch’ dich nicht!

Lena Stahls Roadmovie Mein Sohn nimmt einen mit auf eine der schwierigsten Reisen: der immer neuen Reise zum eigenen Kind

»Kinder sind die Hoffnung, dass sie das beste von uns sind.«
(Aus: Mein Sohn)

»Zwei Reisetage entfernen den Menschen – und gar den jungen, im Leben noch wenig fest wurzelnden Menschen – seiner Alltags­welt, all dem, was er seine Pflichten, Inter­essen, Sorgen, Aussichten nannte, viel mehr, als er sich … wohl träumen ließ.«
(Thomas Mann: »Der Zauber­berg«)

Der Titel gibt die Perspek­tive der Mutter vor. Anke Engelke spielt die Foto­grafin Marlene, die mit ihrem Mann Sebastian (Karsten Antonio Mielke) auf die Inten­siv­sta­tion gerufen wird, weil dort ihr Sohn Jason (Jonas Dassler, manchen bekannt aus seinen Kino­haupt­rollen in Lomo – The Language of Many Others und Der Goldene Handschuh) einge­lie­fert wurde. Dieser ringt nach einem Straßen­un­fall mit seinem Leben. Schnelle, extrem dunkle Bilder, die besorgte Mutter in Groß­auf­nahme.

Die ersten Bilder des Films gehören aller­dings Jason, dem Sohn. Man sieht ihn entspannt in seiner Skate­board-Clique beim Free­stylen und später mit Freunden und seiner Freundin Maggie (Zoë Valks) beim Abfeiern und Sich­voll­dröhnen. Auf dem Nach­hau­seweg, auf dem Board, mit Kopf­hö­rern, sich an einem Trans­porter fest­hal­tend, kommt es zum Auto­un­fall.

Nachdem sich Jasons gesund­heit­li­cher Zustand stabi­li­siert hat, überredet ihn Marlene, ihn mit dem Auto zu einer Spezial-Reha-Klinik in der Schweiz zu fahren. So beginnt das Roadmovie, leider meist ein sehr vorher­seh­bares Genre mit bekannten Bauteilen: Es gibt lustige und spannende Stationen, Krisen, kurze Tren­nungen, man erreicht das Ziel – zwei sehr unter­schied­liche Menschen sind sich schließ­lich näher­ge­kommen: alles gut, alles bekannt.

Natürlich gibt es diese Stationen auch in Lena Stahls Film, der eher einem ruhigen Fluss gleicht als einem Wild­was­ser­aben­teuer. Dank der guten Schau­spieler (Casting Karimah El-Gaimal), der abwechs­lungs­rei­chen Kame­rafüh­rung von Friede Clausz, dem insgesamt sehr harmo­ni­schen Timing, ist der Film aber alles andere als lang­weilig, weil er auf die kleinen Dinge achtet und nicht auf die spek­ta­ku­lären. Weil die wech­selnden Stim­mungen sensibel einge­fangen werden. So ist die Atmo­s­phäre zwischen Mutter und Sohn im Auto zunächst sehr ange­spannt, was durch Außen­kon­takte zumeist besser wird. Ihre Beziehung entfaltet sich aus Alltä­g­lich­keiten wie den Essens­ge­wohn­heiten, der Dauer einer Pinkel­pause oder der Frage, ob man notge­drungen auch gemeinsam in einem Doppel­bett über­nachten will oder kann. Jason entscheidet sich zunächst für den unbe­quemen Autositz anstelle des Hotel­dop­pel­bettes.

Es wird wohl das Schicksal Anke Engelkes bleiben, dass Zuschauer, die sie aus der Comedy kennen und lieben, ihre Perfor­mance in Spiel­filmen mit einem besonders kritisch-aufmerk­samen Blick verfolgen. Zumal sie gerade sehr präsent ist in den zwei Staffeln von »LOL: Last One Laughing«, wo es ja gerade darum geht, nicht zu lachen. Kann sie ernste Rollen? Wird sie lustig sein dürfen? Ja, sie kann es. Statt lustig ist sie besorgt, nach­denk­lich, verun­si­chert, wütend. Eine Mutter, die ihrem Sohn ihre Karriere geopfert hat und die sich nun fragt, wer dieser Mensch eigent­lich geworden ist, ob sie ihn überhaupt sympa­thisch findet – letztlich: ob sich das Opfer gelohnt hat. Immer wieder schaut sie ihren Sohn an, foto­gra­fiert ihn beim Schlafen, versucht, sich ein aktuelles und ehrliches Bild von ihm zu machen. Einmal, als er einen Zauber­trick vorführt, muss sie sogar über ihn lachen, wird die ganze Schwere in Leich­tig­keit verwan­delt. Ein anderes Mal, in einer etwas künstlich wirkenden Situation, in der Jason in der Badewanne sitzt und von ihr gewaschen wird, berührt sie zaghaft seinen Rücken mit ihren Fingern. Und man kann erahnen, wie lange die letzte unschuldig vertraute Berührung dieser Art her ist. Wer ist mein Sohn geworden? Kleine, sensible Szenen, die eine innere Spannung haben.

Grund­sätz­liche Unter­schiede in ihrer Haltung dem Leben gegenüber zeigen sich beim Besuch von Jasons ehema­liger Kinder­frau Sarah (Hannah Herz­sprung), die mit ihrem Partner Hubi (Golo Euler) in einer Selbst­ver­sorger-Kommune auf dem Land lebt. Während Jason vom Landleben naiv begeis­tert ist, unter­stellt Marlene den Leuten, nicht in der wahren Welt zu leben, und versucht, ihrem Sohn zu verbieten, Mutter­ku­chen­reste auf sein Brot zu streuen. Doch die Zeit des Verbie­tens ist vorbei und Jason entzieht sich ihr ein ums andere Mal. Hier erfährt er aber auch von Sarah, dass seine Mutter für ihn ein Angebot aus New York ausge­schlagen hat. Dass sie ihre Karriere als Foto­grafin für ihn riskiert hat. So muss also auch Jason sein Bild von seiner Mutter aktua­li­sieren, vervoll­s­tän­digen. Auch in einem Gespräch mit seinem Sponsor, in dem er erfährt, dass sie das scheinbar Unmö­g­liche wahr­ge­macht und ihm einen Platz in der besten Klinik erkämpft hat, um ihm die besten Heilungs­chancen zu ermö­g­li­chen.

Die beiden Haupt­per­sonen tasten sich während der Reise an die andere Person heran, feste Gewiss­heiten bröckeln. Die Natur, durch die sie fahren und die sie erleben, eröffnet den beiden Berlinern neue (Denk-)Räume. Das alte Leben bekommt eine Pause. Marlene fragt – wirklich verun­si­chert von einer Aussage Jasons – bei einem Spon­tan­be­such bei seiner ehema­ligen Freundin Linn (Muriel Wimmer) deren Vater Mathis (Max Hopp), ob sie unglück­lich wirke. Aus der Verun­si­che­rung entsteht Nähe, ein Kuss.

Die größte Verun­si­che­rung erfährt aller­dings Jason, als er, endlich in der Klinik ange­kommen, reali­sieren muss, was er bisher verdrängen konnte: Dass seine Bein­ver­let­zung ihm seine Skate­board­kar­riere für immer unmöglich macht. Sein Lebenstraum explo­diert. Jonas Dassler spielt den Zwan­zig­jäh­rigen absolut über­zeu­gend in seiner arro­ganten Naivität, seinem nur am Anfang uner­schüt­ter­li­chen Selbst­be­wusst­sein und seinem Balan­cieren auf dem schmalen Grat zwischen Nähe und Abgren­zung, Liebe und Ablehnung seiner Mutter gegenüber. So könnte der Titel des Films deswegen auch »Meine Mutter und ich« heißen, auch wenn der Zuschauer insgesamt mehr in die Perspek­tive Marlenes geführt wird.

Am Ende ist nicht alles gut, schon gar nicht für Jason, der neue Ziele finden muss. Auch hat Marlene es sich bis zum Schluss verkniffen, die heikle Schuld­frage beim Unfall auszu­dis­ku­tieren. Ein zu hartes Thema. Die Beziehung der Eltern zu den eigenen Kindern muss immer wieder neu bestimmt werden, ist immer im Fluss, wenn sie lebendig bleiben will. Aber Mutter und Sohn haben hier ein neues Plateau erreicht, wissen genauer, mit wem sie es zu tun haben, was sie einander bedeuten.