Memoria

Thailand/Kolumbien/GB/MEX 2021 · 136 min. · FSK: ab 12
Regie: Apichatpong Weerasethakul
Drehbuch:
Kamera: Sayombhu Mukdeeprom
Darsteller: Tilda Swinton, Agnes Brekke, Daniel Giménez Cacho, Jerónimo Barón, Juan Pablo Urrego u.a.
Die Hörende: Tilda Swinton
(Foto: Mubi/ Port au Prince)

Urknall des Kinos

Memoria des Thailänders Apichatpong Weerasethakul ist in vieler Hinsicht ein nomadischer Film – und visionäres Kino der Zukunft

»Wumm!…« Oder: »Bang!…« Oder: »Popp!…« Oder: »Wie ein Geräusch einer Beton­kugel, die durch einen Metall­schacht fällt, der von Meeres­wasser umgeben wird.« Genau das ist der Sound, den Jessica in ihrem Kopf hört und den sie jetzt exter­na­li­sieren und damit verort- und erkundbar machen will. Was ist der Ursprung von ihrem Kopf­geräusch, das sie aus dem Schlaf hoch­schre­cken lässt, das sie plötzlich, zum Beispiel beim Abend­essen mit ihrer Schwester, zusam­men­zu­cken lässt? Nur eine Hallu­zi­na­tion, wie die Ärztin vermutet, die ihr kein Xanax verschreiben will, weil es die Empathie ausschaltet und mit ihr die Trau­rig­keit, aber auch das Empfinden von Schönheit in Anbe­tracht der Welt?

Tilda Swinton spielt diese Jessica in Memoria, dem neuen Film von Apichat­pong Weeras­ethakul. Der Thailänder hat erstmals außerhalb seines Heimat­landes gedreht und erstmals mit einem inter­na­tio­nalen Cast. Der Film spielt in Kolumbien, außer Tilda Swinton spielt noch Jeanne Balibar mit, die fran­zö­si­sche Sängerin und Schau­spie­lerin. Englisch und Spanisch sind die »Verkehrs­spra­chen« des Films, was Memoria aus dem Werk-Universum des Thailän­ders erst einmal heraus­zu­lösen scheint. Alles scheint trans­pa­renter, leichter verständ­lich, vertrauter. Tilda Swinton, die Weeras­ethakul weniger als Spielfilm- denn als Kunst­figur einsetzt, tut ihr übriges dazu. Die Oscar-Preis­trä­gerin ist im Kino allge­gen­wärtig, jeder kennt sie aus Hollywood-Block­bus­tern wie Die Chroniken von Narnia und von den großen Titeln des Arthouse-Kinos wie Only Lovers Left Alive, Suspiria oder zuletzt The French Dispatch. Das ergibt allein durch die Besetzung einen Regis­ter­wechsel im Werk von Weeras­ethakul, der sonst über­wie­gend mit Laien­dar­stel­lern arbeitet, die seinen Filmen Nahbar­keit und Natür­lich­keit verleihen.

Tilda Swinton verortet sich selbst aber auch noch woanders als im Kino. Sie verkör­pere wie keine andere Schau­spie­lerin derzeit den Übergang vom Kino zur Kunst, unter­strich der künst­le­ri­sche Leiter des Münchner Festivals »Kino der Kunst« Heinz Peter Schwerfel bei der München-Premiere des Films. Swinton tritt in Musik- und Künst­ler­vi­deos auf (darunter US-Künstler Doug Aitken) oder als Perfor­mance-Künst­lerin in eigener Regie wie 2013 im MoMA, wo sie sich in einen Schnee­witt­chen­sarg zum Schlafen legte. Die Gren­zü­ber­schrei­tungen zu anderen Künsten verbindet sie mit dem Regisseur Weeras­ethakul, ursprüng­lich Architekt und bildender Künstler, der 2009 mit der Ausstel­lung »Primitive« im Münchner Haus der Kunst einem breiten Publikum bekannt wurde, ein Jahr bevor er mit seinem Seelen­wan­der­film Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben in Cannes die goldene Palme gewann.

Weeras­ethakul und Swinton reprä­sen­tieren ein Kino im Aufbruch, eines, das sich als »nomadisch wandernder Ort« beschreiben ließe, den Georg Seeßlen bereits 2013 als Idee aufbrachte. Für die Zukunft des Kinos (und der Film­kritik) müsse man das Kino als Ort und Filme als Kunst umfas­sender auffassen als es im üblichen Marketing- und Förder­denken der Fall sei: hier die Kunst, dort das Kino. Auf doppelte Weise erfüllt Memoria seinen visi­onären Kommentar jetzt zusätz­lich dadurch, dass der Film von Mubi, der in Deutsch­land bislang nur als Strea­ming­dienst tätig war, auf die Leinwände der Kinos gebracht wird. Die Hybri­di­sie­rung der Rezep­ti­ons­formen vom Grundsatz her – anders als die Ausnah­me­vor­stel­lungen von einzelnen Netflix-Filmen – feiert mit Memoria also ihre deutsche Premiere. Der Kinofilm soll von nun an an beiden Orten statt­finden können, auf der großen Leinwand und im Stream. »Für die inter­na­tio­nalen Bild­er­fa­briken ist längst klar, dass es den Film als Ware in einer endgül­tigen Form nicht mehr gibt«, schrieb Seeßlen. Ein Jahrzehnt später scheint sich seine Utopie zu erfüllen.

Aber nicht nur auf diesen Para- und Meta-Ebenen ist Weeras­etha­kuls Memoria ein »wandernder« Film. Jessica macht sich zu einem Sound­studio auf, um ihr Kopf­geräusch synthe­tisch nachbauen zu lassen. Der junge Tonin­ge­nieur Hernán (Juan Pablo Urrego) konstru­iert sorg­fältig den Sound, nimmt Höhen weg, macht den Ton runder, gibt weniger Hall. Hier verlässt der Film das visuelle Primat und wendet sich ganz jener Ebene zu, die im Film meist sekundär rezipiert und bisweilen auch ebenso gestaltet wird: dem Sound. Memoria ist ein Film für die Ohren. Oft herrscht völlige Stille im Bild, oder aber der filmische Raum übergibt sich ganz den Origi­nal­geräu­schen des doku­men­ta­ri­schen Bogotá. »Der rasche Wechsel des Wetters war für mich in Kolumbien über­ra­schend«, erzählt Weeras­ethakul in einer Video­bot­schaft für den Premieren-Kinosaal. Der Stark­regen und der Sonnen­schein hätten seine Aufmerk­sam­keit mehr als sonst auf die Natur und die Umgebung gelegt; der Film soll so auch als »envi­ron­mental art« alle Sinne öffnen.

Tilda Swinton ist in diesem Sound-Setting weniger eine fiktio­nale Figur denn epis­te­mi­sches Vehikel, das sich in Bogotá und im kolum­bia­ni­schen Dschungel auf die Suche nach Erkenntnis macht. Als Bota­ni­kerin Jessica führt sie uns in eine Biblio­thek mit Lehr­büchern von Orchi­deen­krank­heiten und an Orten, an dem riesige Kühl­schränke zur Konser­vie­rung von Pflanzen verkauft werden. Der Zufall bringt sie ins Labor einer foren­si­schen Archäo­login (Jeanne Balibar), die myste­riöse Skelett­funde aus dem Dschungel unter­sucht. Ein Mädchen­ske­lett liegt vor ihr, es ist mehrere hundert Jahre alt, in ihrem Schädel klafft ein kreis­rundes Loch. Ein Ritu­al­mord, vermutet sie. Jessica fährt mit ihr in den Dschungel.

Dort wird sie in der Hütte des Einsied­lers Hernán (gespielt vom kolum­bia­ni­schen Seri­en­schau­spieler Elkin Díaz), einem Wieder­gänger des Sound­künst­lers, auf die Ursache ihres rätsel­haften Kopf­geräu­sches stoßen. Weeras­ethakul imagi­niert einen Erin­ne­rungs­raum, den Menschen mitein­ander teilen können, sie leben dann in den Erin­ne­rungen des jeweils anderen. Das rätsel­hafte Geräusch kann so auch als Syndrom gedeutet werden, das viele in Kolumbien teilen, als Nachhall der Gewal­ter­schüt­te­rung des Landes. Diese univer­sa­lis­ti­sche Anthro­po­logie Weeras­etha­kuls wirkt ebenso nomadisch wie der Glaube an die Seelen­wan­de­rung: Nichts bleibt in dieser Vorstel­lung an seinem Platz, alles ist mitein­ander verbunden, und alles in Bewegung.

Bisweilen zweifelt man, ob Weeras­ethakul das wirklich allzu buchs­täb­lich meint, auch hier beginnt Memoria zu oszil­lieren. Denn ebenso wie der Hand­lungs­ver­lauf sehr unver­mit­telt durch den dumpfen Knall – »Wumm!…« – durch­bro­chen wird, lockert Weeras­ethakul seine Film-Medi­ta­tion auch immer sehr plötzlich durch uner­war­teten Witz auf. Trotz der inneren Einkehr, die der Film über den Sound verbreitet, ist also kein allzu heiliger, gar esote­ri­scher Ernst zu erwarten – sondern eine teils absurde und humor­volle Vision auf eine Welt, wie sie viel­leicht sein könnte. Man muss nur die Schall­mauer der Offen­sicht­lich­keit durch­dringen.

Symptome des Ungefähren

Naturalismus, Norm und Nebel: Der Thailänder Apichatpong Weerasethakul schickt in »Memoria« Tilda Switon in den Dschungel

Was war das? Ein Hörsturz? Eine Explosion? Pure Einbil­dung? Jeden­falls wacht die nicht mehr ganz junge Frau mitten in der Nacht auf. Sie hat in der ansonsten total ruhigen nächt­li­chen Umgebung etwas gehört, bezie­hungs­weise glaubt, etwas gehört zu haben, bezie­hungs­weise fürchtet, dass sie nicht das gehört hat, was sie glaubt gehört zu haben, bezie­hungs­weise weiß, was sie gehört hat, ohne zu wissen, ob sie was gehört hat...

Was ist gerade passiert? Ist überhaupt etwas passiert? Diese Frage liegt nahe, weil die von Tilda Swinton gespielte Haupt­figur eine hyper­ner­vöse, narziss­ti­sche Frau ist, die am nächsten Morgen erstmal ein Tonstudio aufsucht, um das Geräusch, dessen sie sich gar nicht sicher ist, zu rekon­stru­ieren.

Was ist passiert? Ist überhaupt etwas passiert? Mit solchen Fragen beginnt also ein Film, den man am ehesten als einen esote­ri­schen Thriller beschreiben kann.

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Alfred Hitchcock hat einmal das Wort vom MacGuffin gepägt. »Sehen Sie«, sagte der Meis­ter­re­gis­seur im Gespräch mit Truffaut, »ein MacGuffin ist gar nichts.« Also eigent­lich ein Begriff für irgend­etwas, das eine Handlung auslöst, ohne für diese Handlung eine Rolle zu spielen. Der Auslöser der Bewegung der bewegten Bilder, der Movies.

So ein MacGuffin ist jenes angeb­liche Geräusch, das diesen esote­ri­schen Thriller voran­treibt. Wobei »treiben« hier ein gewagtes Wort ist.
Getrieben wird hier nämlich gar nichts, sondern alles vollzieht sich langsam, bedächtig, geradezu in gefühlter Zeitlupe. Memoria ist entschieden langsames Kino.

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Der Titel bedeutet Gedächtnis, Erin­ne­rung, aber auch Speicher. Regisseur Apichat­pong Weeras­ethakul lotet in seinem neuen Film, seinem aller­ersten außerhalb Thailands, dieses Bedeu­tungs-Feld aus. Zugleich aber auch das Feld des Rauschs, des Traums, des Unge­fähren. Immer wieder geht es bei diesem Regisseur um Trance-Zustände, um den Übergang vom Schlaf zum Traum, um ein Aufwachen, bei dem man den Schlaf mitnimmt.

Hier nun spielt alles in einem Ort, der seine ganz eigene Geschichte mit dem Rausch hat: Im kolum­bia­ni­schen Medellín.
Tilda Swinton spielt eine Orchi­deen­ex­pertin namens Jessica, die gerade aller­dings Pilze und Bakterien erforscht.

Nachdem der Tontech­niker ihr nicht helfen kann, wendet sich Jessica an einen Arzt. Sie besucht ihre Schwester. Sie kommt auch an einem archäo­lo­gi­schen Zentrum vorbei, in dem gerade gefundene Knochen wieder zusam­men­ge­setzt werden. Schließ­lich hat sie eine lange Begegnung mit einem Fischer, der angeblich die Sprache der Affen versteht und behauptet, jedes Mal zu sterben, wenn er schläft...

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Nun ja. Zugegeben: In einem Zeitalter, in dem man sich für trau­ma­ti­sierte Jünglinge mit Super­kräften begeis­tert, oder für Killer­wesen aus dem Weltraum, da kann einen auch so etwas nicht erschüt­tern.

Aber nicht nur die Grenze zur Esoterik, auch die zum Exotismus und schierem Kitsch wird hier mehr als einmal über­schritten.

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Seine Titel waren oft poetisch: Blissfully Yours, Tropical Malady, Syndromes of a Century, Cemetery of Splendour. In seinen besten Momenten gelingen dem thailän­di­schen Regisseur Apichat­pong Weeras­ethakul eindring­liche Bild­mo­mente von sugges­tiver Kraft. 2010 hatte er sogar das Glück, eine Goldene Palme zu gewinnen, mit dem vergleichs­weise bereits eher abge­drehten Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben. Seitdem kann jeder den Namen Apichat­pong Weeras­ethakul ausspre­chen, seitdem ist er der Darling der euro­päi­schen Kultur­bour­geoisie.
Seine besten Filme sind aber viel­leicht trotzdem eher seine Kurzfilme, seine auf den Moment, auf den Effekt oder auch auf den einen, vom Betrachter auszu­hal­tenden Zustand getrimmten Werke, die einer Instal­la­tion näher sind als einem Spielfilm, zu dem eben im allge­meinen Verständnis auch »Spiel« und »Handlung« essen­tiell gehören.

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Für Liebhaber des langsamen Kinos und für bedin­gungs­lose Fans der rätsel­haften Filme dieses Regis­seurs ist Memoria nun wieder ein gefun­denes Fressen. Die langen, stillen, unbe­wegten Aufnahmen, in denen Tilda Swinton durch den Dschungel stakst oder bedeu­tungs­voll in die unsicht­bare Ferne blickt, mögen sie rühren, und für Medi­ta­tionen über das Vergehen der Zeit und die oft verleug­nete Magie des Daseins bleibt in diesem Film viel Zeit.
Esote­risch unmu­si­ka­li­sche Menschen können diese Zeit aber besser verbringen, der Glanz dieses Regis­seurs hat sich ziemlich abgenutzt und ist stumpf geworden, und die unmit­tel­bare Sinn­lich­keit mancher früheren Filme des Regis­seurs wird man vergebens suchen.