Der Masseur

Sniegu juz nigdy nie bedzie

Polen/D 2020 · 120 min. · FSK: ab 12
Regie: Malgorzata Szumowska, Michal Englert
Drehbuch: ,
Kamera: Michal Englert
Darsteller: Alec Utgoff, Maja Ostaszewska, Agata Kulesza, Weronika Rosati, Katarzyna Figura u.a.
Filmszene »Der Masseur«
Intruder in die moderne bürgerliche Gesellschaft
(Foto: Real Fiction)

»Ich will nicht die Welt retten, sondern Seelenzustände ändern«

Małgorzata Szumowskas neuer Film Der Masseur betört als Sittenbild über polnische Neureiche und deren ungestillte Sehnsüchte

In ihren Filmen wie Body (Ciało), dem Pries­ter­drama Im Namen von (Wimię) und nun Der Masseur (Śniegu już nigdy nie będzie / Never Gonna Snow Again) erzählt die 1973 in Krakau geborene Regis­seurin Małgorzata Szumowska von Menschen, denen emotional etwas fehlt: In Body dem athe­is­ti­schen Staats­an­walt und Vater einer mager­süch­tigen Tochter, in ihrem neuen Werk den Bewohnern eines anonymen Fertig-Villen­vier­tels bei Warschau. Den einsamen Staats­an­walt konfron­tierte sie mit einer nicht minder einsamen, hunde­ver­narrten Spiri­tistin. Nun sorgt ein Masseur, der von weit her aus dem vagen Osten kommt, mit der magischen Kraft seiner Hände unter Neurei­chen für erotische bis exis­ten­zi­elle Verwir­rung. Die Strahl­kraft des jungen ukrai­ni­schen Masseurs Zhenia hat etwas gefähr­lich Destruk­tives. Das lässt an Pier Paolo Pasolinis Teorema – Geometrie der Liebe denken, in dem eine gelang­weilte Mailänder Groß­bür­ger­fa­milie samt Zofe ihre sexuellen Sehn­süchte auf einen attrak­tiven Unbe­kannten proji­ziert und daran zugrunde geht. Von der Grundidee und der Stimmung her erinnert Der Masseur auch an die absurden Szenerien und die Atmo­s­phäre latenter Gefahr in Yorgos Lanthimos' Fami­li­en­drama The Killing of a Sacred Deer.

Małgorzata Szumowska wollte ursprüng­lich Ballerina oder Opern­sän­gerin werden, wie sie auf dem Filmfest München verriet. Sie studierte einige Semester Kunst­ge­schichte, bevor sie an die berühmte Film­hoch­schule in Lodz wechselte. Bereits für ihr Debüt Ein glück­li­cher Mensch (Szczęś­liwy człowiek) wurde sie 2001 für den Euro­päi­schen Filmpreis als Entde­ckung des Jahres nominiert. Es folgten zahl­reiche vor allem inter­na­tio­nale Auszeich­nungen, darunter 2015 der Silberne Bär für Body. Zuweilen sei die Differenz der Wahr­neh­mung ihrer Arbeit zwischen dem In- und dem Ausland radikal, sagt Małgorzata Szumowska: »Viele meiner Filme wie Die Maske (Twarz) wurden in Polen als sehr explizite Kritik an der polni­schen Gesell­schaft empfunden. Mir geht es aber eher um eine Kritik der Neurei­chen. Häufig reagieren die Leute beleidigt. Ich werde auch oft als inter­na­tio­nale Regis­seurin angesehen, und jemand Inter­na­tio­nales ist nicht polnisch…«

Da ergeht es ihr ähnlich wie Krzysztof Kieś­lowski, der seine späten Filme in Frank­reich drehte und deswegen in der Heimat völlig abgelehnt worden sei. Viel­leicht hätten ihre Lands­leute die Zensur ja inter­na­li­siert, meint sie: »Wir Polen fühlen uns wegen unserer Geschichte immer unter­schätzt und unter­be­wertet. Und wenn jemand wie ich etwas Inter­na­tio­nales macht – mein gerade fertig­ge­stellter Film Infinite Storm, in dem Naomi Watts mitspielt, ist ein ameri­ka­ni­scher –, distan­zieren sich meine Lands­leute und werden miss­trau­isch. Man wird dann so behandelt, als gehöre man nicht mehr dazu.«

Małgorzata Szumowskas span­nungs­rei­ches Œuvre entsteht stets in Zusam­men­ar­beit mit ihrem Kame­ra­mann, Dreh­buch­autor und nun auch Co-Regisseur Michał Englert. Szumowska übt eine ganz eigene, subtile Form der Gesell­schafts­kritik und setzt sich intensiv mit Esoterik und Körper­be­wusst­sein ausein­ander – oft ein frag­wür­diger Reli­gi­ons­er­satz, wie sie meint: »Ich finde beides wunderbar, aber für viele Menschen dienen solche Anwen­dungen als Ersatz für Spiri­tua­lität, und ich halte das für ein Miss­ver­ständnis. Ich will die Welt nicht repa­rieren oder gar retten, sondern höchstens den Seelen­zu­stand derje­nigen ändern, die meine Filme ansehen.«

Małgorzata Szumowskas Filme sind immer sehr körper­lich, so geht es in Body um Bulimie als Trau­er­be­wäl­ti­gung oder in Die Maske um die sozialen Folgen eines durch einen Unfall entstellten Gesichts. Da lag es für sie nahe, nun einen Masseur als Haupt­dar­steller zu wählen: »Er kommt den Menschen sehr nah, er fasst sie an. Für mich gehören Körper und Seele zusammen. Ich glaube aber, dass viele diesen Zusam­men­hang vermeiden wollen, weil in der Beziehung von Körper und Geist etwas Unbe­hag­li­ches liegen könnte.«

Bereits das Setting ist verstö­rend: Gedreht wurde Der Masseur in einer soge­nannten Gated Community in der Nähe von Warschau, deren Häuser auf alt getrimmt sind. Den Drehort habe ihre Szenen­bild­nerin entdeckt, erzählt die Regis­seurin: »Ich hatte so etwas völlig Verrücktes nicht erwartet, das aussieht wie eine Szenerie aus Truman Show

Aller­dings erblickt man in den Innen­räumen der Fertig­villen, in der die ebenso gutsi­tu­ierte wie neuro­ti­sche Kund­schaft auf ihren Physio­the­ra­peuten wartet, keine einzige Anti­quität und praktisch keine Bücher. Diese Insignien einstiger Groß­bür­ger­lich­keit fehlen deshalb, weil sie mit der alten polni­schen Intel­li­gen­zija asso­zi­iert würden, zu der ihre Eltern gehörten, erzählt Szumowska. Ihr Vater Maciej Szumowski war ein bekannter Jour­na­list. Diese Schicht schwinde dahin, sagt sie: »Die neue Genera­tion von Polinnen und Polen frönt der gehobenen Mittel­klasse, die nicht mehr mit gehobener Bildung und Intel­lek­tua­lität verknüpft ist. Ihre Vertreter sind mit dem aggres­siven Kapi­ta­lismus ameri­ka­ni­scher Prägung aufge­wachsen. Sie gehören meiner Genera­tion an, haben als Jugend­liche den Nieder­gang des Kommu­nismus erlebt. Als junge Leute machten sie dann in den 1990er Jahren das große Geld. Das ist nach wie vor das Wich­tigste für sie, auch dass ihre Kinder Privat­schulen besuchen. Alte Möbel bedeuten für sie Vergan­gen­heit, sie wollen aber im Jetzt leben. Mein Vater fragte mich immer: Willst du etwas haben oder willst du etwas sein? Ich wollte selbst­ver­ständ­lich immer etwas sein. Diese Genera­tion aber ist auf das Mate­ri­elle konzen­triert, auf die Frage nach dem Reichtum.«

Den Menschen fehlt etwas, das ihnen der stille Zhenia mit seinem gütigen Lächeln zu verheißen scheint. Schon bei der Aufent­halts­be­wil­li­gung des statt­li­chen jungen Mannes aus der ukrai­ni­schen Geis­ter­stadt Prypjat bei Tscher­nobyl (von wo er Honig mitbringt) geht es nicht mit rechten Dingen zu: Der hinfällig wirkende Beamte ersucht Zhenia unver­mit­telt um eine Massage, die sich in eine Hypnose verwan­delt. Der Film lebt von seinem charis­ma­ti­schen Haupt­dar­steller Alec Utgoff, dessen weiche Gesichts­züge in Kontrast zu seinem athle­ti­schen Körperbau stehen. Der aus der Ukraine stammende Brite wurde durch die Netflix-Serie »Stranger Things« bekannt. Małgorzata Szumowska war es wichtig, mit Utgoff einen russi­schen Mutter­sprachler zu enga­gieren. Zhenia verkör­pert für seine Klientel die in Polen weit­ver­brei­tete Sehnsucht nach den früheren Ostge­bieten in der heutigen Ukraine und in Belarus, nach Städten wie Lemberg und Brest; die Küche dieser Regionen kann man in altpol­ni­schen Restau­rants (»Staro­polska«) goutieren. Die Regis­seurin erklärt: »Das Roman­ti­sche liegt für uns unter anderem in der russi­schen Sprache, denn in ungefähr der Hälfte der Ukraine wird Russisch gespro­chen. Das erinnert uns an die Kindheit, an die sichere und warme Zeit, als ich acht war und in der Schule Russisch lernen musste. Einer­seits hasste ich es, ande­rer­seits wuchs ich mit Tarkow­skis Filmen und Dosto­jew­skis Romanen auf.« Generell begeg­neten die Polen Ukrainern sehr offen. Sie über­nehmen in Polens florie­render Wirt­schaft mitt­ler­weile Arbeiten, die jahr­zehn­te­lang von polni­schen Arbeits­mi­granten in West­eu­ropa verrichtet wurden.

Man spürt, welches Vergnügen es dem Regie-Duo bereitet haben muss, einen derart passiven Mann als Haupt­dar­steller zu insze­nieren. Irgend­wann plät­schert die Handlung etwas dahin und die Traum­szenen sind nicht immer schlüssig, aber man folgt dennoch faszi­niert. Für die Figur des Zhenia schwebte Małgorzata Szumowska passen­der­weise ein Vorbild aus der russi­schen Literatur vor: »Er verkör­pert alles und ist eine Mischung aus allem, aus Schwarz und Weiß, so wie der sata­ni­sche Zauber­künstler Voland in Michail Bulgakows Roman 'Der Meister und Margarita'. Zhenia symbo­li­siert die Sehnsucht nach etwas Meta­phy­si­schem, nach etwas Seltsamem, etwas Abstraktem.«

Aus derlei meta­phy­si­schen Träu­me­reien höchst unsanft heraus­ge­holt wurde Małgorzata Szumowska wie viele andere polnische Kultur- und Medien­schaf­fende am 12. August 2021. An diesem Tag verab­schie­dete der Sejm, das polnische Parlament, ein umstrit­tenes Medi­en­ge­setz, das die Kontrolle bezie­hungs­weise Zensur auslän­di­scher Nach­rich­ten­kanäle ermö­g­licht. Um eine Stel­lung­nahme gebeten, erklärte die Regis­seurin: »Es war ziemlich naiv von mir, an die polnische Demo­kratie zu glauben. Die Billigung des umstrit­tenen Medi­en­ge­setzes letzten Donnerstag im Parlament stellt einen Frei­fahrt­schein in die auto­ri­täre Gesell­schaft dar. Es gibt noch eine unab­hän­gige Presse und den Fern­seh­kanal TVN, die den Menschen ermö­g­li­chen zu sehen, was die Regierung wirklich tut. Die Nach­richten des staat­li­chen Fern­se­hens zeigen als Fake News eine Version der Wirk­lich­keit wie im Kommu­nismus, geschaffen von der Regierung. Deshalb will die Regierung TVN zumachen und als nächstes mögli­cher­weise die unab­hän­gige Presse. Ich denke, wir steuern das Vorbild Ungarn an. Bei diesem Szenario fällt es schwer, um den polni­schen Film keine Angst zu haben.« So gewinnt die sanft-absurde Gesell­schafts­sa­tire Der Masseur auf bedrü­ckende Weise an Aktua­lität.