Deutschland 2017 · 90 min. Regie: Klaus Erich Dietl Drehbuch: Klaus Erich Dietl Kamera: Stefan Dorner Darsteller: Stephanie Müller, Patrick Schimanski, Martin Krejci, Matthias Stadler, Thomas Glatz u.a. |
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Langsam bekommen wir den Film zu fassen… |
Eine Hand, die Fingernägel rot, tunkt einen Teebeutel in eine Glastasse, und das Wasser wird rot. Ein goldfischfarbener Telefonhörer liegt unaufgelegt davor, und eine Mädchenstimme in der Luft. »Der Wortort ist der Mund. Und wie der weh tut!« Sagt die Stimme, so frech! Da wird sogar das Fischlein rot, das in dem Teewasser planscht. Dann füllt eine grünärmelige Männerhand Schaumwein in ein Glas, daneben eine Pistole, offen die Mündung, offen der Lauf. Weiter fährt die Kamera. Zu einer Postkarte, einem Foto von einem Tatort. Was klebt da, ein Blutfleck. »Der letzte Schrei ist: Polizei!« Fingerdeut und Indiziensammlung in einem Fall von Hermeneutik.
Jedes Wort ist wichtig, aber dem flüchtigen Betrachter ist schnell ein Wort entwichen. Man müsste diesen Film fast in Stop & Go sehen, um alle Worte zu erwischen. Nicht, weil so schnell oder so furchtbar viel geredet wird, tut erst verstehen, wer bei der Sichtung Löcher entstehen lässt. Stop & Go. Löcher entstehen. Obwohl jedes Wort richtig ist, und fast jedes Wort sichtbar gemacht wird, muss man diesen Film erst einmal sehen lernen! Lernen, dass jedes Wort hier auch andersherum gedacht und gezeigt wird, gleichzeitig nach innen wie nach außen zeigend. »Am Wortort der Lüge. Wort auf die Waage, die Wiege der Lüge – der Spiegel.« Jetzt verstehen wir: Ein Telefon als Gegenstück von einem Mund. Ein Loch, in das Worte fallen.
Da geht es um einen Mordfall – um den es gar nicht geht. Um einen Täter – der kein Täter ist. Um eine Beobachtung – die eine Handlung ist. Um die Erfindung einer Rolle. Die Rolle heißt Jakob Fisch, in Anlehnung an einen amerikanischen Mehrfachmörder, der zwischen 1870 und 1936 gelebt hat, und den Namen Albert Fish trug. »Ich bin ein Lügner«, schreit Friedrich Boomgaarden mit einem Hundehalsband auf alle Viere gezwungen, ehe er zu Jakob Fisch wird, und Rätsel aufgibt wie ein Pinocchio, der »meine Nase wächst« sagt. Eine Lüge, die keine Lüge sein kann, so glaubt die Polizeipsychologin Dr. Alea Anzu, und macht daraus eine Wahrheit. Simulation und Fälschung, darum geht es.
Stephanie Müller simuliert diese doppelzüngige Polizeipsychologin, die sich Jakob Fisch gegenüber als Goldfisch gibt, ihn wie in einem Glas einkreist und den stummen Fisch sprechen lässt. Sie löst ihm die Zunge, stellt seine Täterschaft und die staatliche Zuständigkeit mit ihrer Methodik einer »Spiegeltheorie« in Frage – und ist doch Teil vom Apparat. Ein Parasit ist sie ihm, Fisch, wie auch dem Staat. Wird sie von Patrick Schimanski als Staatsanwalt in sardonischer Lüsternheit nach ihrem Verhältnis zum Kannibalismus gefragt, verlangt sie nach einem weiteren Happen von dem leckeren Fisch.
Langsam bekommen wir den Film zu fassen: Vordergründig geht es um die Mörder–Story, hintergründig wird die Frage nach dem Verhältnis von Wahrheit und Lüge im Justizsystem gestellt, im Filmbauch aber geht es um sprachliche Tiefenschärfe und radikale Abnabelungsmomente aus einer gefräßigen Sprachkultur. So toll, wie dieser Film gleichsam ein destabilisierendes wie konstitutives Moment darstellt, wenn es den handelnden Rechtsstaat eines deklaratorischen Stillstandes bezichtigt; Ein Stillstand, der das Bestehen eines Rechts oder Rechtsverhältnisses bezeugt, während die Rechtswirkung schon vor dem Rechtsakt eingetreten ist. Radikaler geht’s kaum noch. Und es ist toll, wie es gleichzeitig um den Justiz- wie um den Filmapparat an sich geht. Ein Filmapparat, in den eine Lüge eingeschleust wird.
Eine Wahrheit steckt in der Geschichte vom Fisch, in dessen Maul eine Assel steckt. Die Geschichte geht so: Der Fisch hat Hunger. Er schnappt nach einer Assel. Doch ehe er sie fressen kann, beisst sich diese an seiner Zunge fest und bleibt dort sitzen. Im Fischmund richtet sie sich als Parasit ein, denn der Fisch hat weiterhin Hunger. So bekommt sie alles, was sie braucht, direkt in den Mund geliefert. Dem Fisch lässt sie einen Teil seiner Fänge ... genug, um zu überleben. »Sprache ist der Parasit, der dafür sorgt, dass sich die Zunge bewegt. Natürlich zahlt der Parasit dafür mit Worten.«
Man hört das Drehbuch förmlich am Stammtisch eines Lyrikkabinetts Gestalt annehmen. Ein überaus literarischer Film schnitzt sich da heraus, und es ist ja auch kein Wunder, wird Klaus Erich Dietls Welt doch von einem Literatenzirkel aus Münchner Untergründigkeiten und Domagk–Atelier–Zeiten belüftet, mit Luftblasen und Gedankenwolken von Gestalten wie G.Lassen, Fabienne Pakleppa und Thomas Glatz, die hier ihre Auftritte bekommen, Thomas Glatz gleich sein eigenes Format als Polizeikommisar Otto von Wurmser samt seiner Sendung »Im Fadenkreuz«, und Fabienne Pakleppa, die schon vor über zwanzig Jahren mit Die Aufsässigen einen Roman über die Pervertierung der Macht und der Gesellschaft, über die Wechselbeziehung von Macht, Anpassung und Verweigerung geschrieben hat, ganz folgerichtig als absegnendes Gewissen des Richters G.Lassen im finalen Milla–Tribunal.
Auftritt Dirk Wagner vor zwei Kameras. Die eine im Sucher der anderen, die filmt. Wagner, der Musikjournalist, mimt einen Nachrichtensprecher, der über die Ermordung eines 20-jährigen Musikers berichtet. Fisch soll gestanden haben. In Wagners Uwe Ochsenknecht–Claude-Oliver Rudolph–Gesicht taucht kurz die Erinnerung an einen anderen Dietl–Film auf, besser gesagt, die Erinnerung an einen Film vom anderen Dietl, vom Helmut Dietl, Schtonk!. Da spielte Ochsenknecht den Fälscher Konrad Kujau, der für seine gefälschten Hitler–Tagebücher eingelocht worden war.
Auch Matthias Stadler und Martin Krejci als cinephile Polizisten haben solche Dietl–Filmgesichter. Wenn sich die beiden über Filmmorde, über McGuffins und die Verwandtschaft von Küssen und Bissen unterhalten, dann handelt es sich lediglich um Ablenkungsmanöver. Stadler zitiert beiläufig Psycho, später sehen wir das Psycho–Zitat vom Blut in einer Klospülung in selbiger verschwinden. Während die Polizisten im Außendienst wie Beischwimmer wirken, hausen und arbeiten sie im letzten Loch. Allesamt Variablen einer hydrostatischen Gleichung – oben offene, unten miteinander verbundene Gefäße. Gerne schenken sie sich aus zwei Flaschenhälsen gleichzeitig ein, aber der Staat und seine Anwälte haben das größere Maul.
Dietl und Dietl verbindet, bis auf das München–Ding, wenig. Viel stärker kommuniziert Klaus Erich Dietl mit dem Essayistischen bei Herbert Achternbusch, mit der Idee eines Films als Sprach- und Satzbaukasten. Achternbusch hatte bereits Das letzte Loch mit dem Privatdetektiv Nil, der 300.000 Liter Schnaps trinken muss, um den Mord an 6 Millionen Juden zu vergessen. Privatleute, »das grüne Arschloch« und »die blöde Wolke«, versuchten dort, ihn, den Nil, auf die Seite zu schaffen, indem sie sich als Polizisten tarnten. In Dietls Film sind die vorkommenden Polizisten natürlich auch nur als solche getarnt, wobei ihre Tarnungen verräterisch auffällig als Falsifikationen kenntlich gemacht wurden, ihre Uniformen »deformiert« sind, von Stephanie Müllers Nähmaschine zu surrealen Polizeikostümen transformiert. »Abzeichen und Orden kleiden sich im Gewand niedlicher Häkeldeckchen: ein Blendwerk aus Täuschungsmanövern, in dem die Lüge regiert.«
Zuhause ist hier auch, wer sich einmal für Blixa Bargeld und die Einstürzenden Neubauten begeistert hat. Von Bargeld gibt es einen Text, der geht so: »Der Mund ist die Wunde des Alphabets. Meine Schreie kehren zurück. Lecken die Wunde. Blutvergiftung.« In der Druckfassung kehren dann eine Seite weiter die Schreie tatsächlich zurück – spiegelverkehrt, rückwärts. Direkt beteiligt ist hier Bargelds Kollege aus »Geniale Dilletanten«–Tagen Wolfgang Müller von Die Tödliche Doris. Müller war von dem Drehbuch so begeistert, dass er das Stück »Die Schuldstruktur« beisteuerte.
Zu einem Übermaß an filmischem Selbstbewusstsein geraten die filmhistorischen Bezüge in der Rote–Sonne–Szene. Da spiegelt sich der Moment der Dekadenz einer sich selbst feiernden Liaison aus Exekutive und Judikative im exzessiven Filmdropping, mit Peter Wacha alias Upstart (noch so ein Filmgesicht!) als »Man with the movie camera«, und es macht schon auch gleich wieder Sinn, wenn sich hier der Filmstaat selber abfeuert. Der Staat geht in dieser Szene schließlich zu weit, es gibt einen Filmkadaver, und der Staatsanwalt schließt ab: Nichts gesehen – nichts geschehen.