Deutschland 2025 · 154 min. · FSK: ab 16 Regie: Mascha Schilinski Drehbuch: Louise Peter, Mascha Schilinski Kamera: Fabian Gamper Darsteller: Luise Heyer, Lena Urzendowsky, Claudia Geisler-Bading, Lea Drinda, Hanna Heckt u.a. |
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Das Punctum der Vergangenheit | ||
(Foto: Neue Visionen) |
Gleich zwei Superlative zu Beginn für diesen so gar keine Superlative herausfordernden Film: Mascha Schilinskis In die Sonne schauen knüpft an den Hype um Maren Ade an: In die Sonne schauen war seit Toni Erdmann der erste deutsche Beitrag im Wettbewerb von Cannes, und jetzt wurde er sehr folgerichtig als deutschsprachiger Beitrag ins Rennen um den Oscar geschickt – wie damals auch Ades Film. Mascha Schilinski darf jetzt also als die neue Hoffnung des deutschen Kinos gelten. Und das ist wirklich eine wunderbare Nachricht, sofern sich mit diesem Film nun endlich durchsetzen kann, dass deutsches Kino eigensinnig, experimentell, atemberaubend und betörend sein kann, mit einer komplexen, wenn nicht gar komplizierten Narration.
Mascha Schilinksi verbindet sich auch mit einem anderen deutschen Film, dessen Titel seit 2019 immer wieder programmatisch die deutsche Förderlandschaft herausfordern soll: Systemsprenger. Nora Fingscheidt inszeniert darin Helena Zengel als tobendes Mädchen, das die Verhältnisse auf den Kopf stellt. Mascha Schilinski hatte die neunjährige Zengel bereits in ihrem Debüt Die Tochter (2017) mit der Hauptrolle besetzt – und damit ihre Fähigkeit bewiesen, ein hervorragendes Auge für Kinderrollen in Filmen für Erwachsene zu haben – was sie auch jetzt wieder zeigt. Wenn In die Sonne schauen weiterhin Erfolg haben wird, könnte Mascha Schilinski tatsächlich für eine helle Zukunft des deutschen Films stehen: Sie ist begierig nach einem experimentellen, feministisch geformten, höchst narrativen Kino, das von einer neuen Unheimlichkeit erzählt.
In die Sonne schauen dringt – ganz anders als der Titel suggeriert – in dunkle Sphären vor. Vereint werden vier unterschiedliche Zeitebenen aus weiblicher Perspektive, beginnend mit einem kleinen Mädchen, es folgt eine Heranwachsende, dann eine Erwachsene und schließlich wieder ein Mädchen, in jeweils unterschiedlichen Zeitebenen, miteinander verwoben, in keiner chronologischen Abfolge.
In der Zeit, die als unsere Gegenwart angenommen werden kann – dennoch nicht als narrative Jetztzeit etabliert wird – ist Nelly mit ihren Eltern und ihrer Schwester in die Altmark in einen riesigen, ziemlich heruntergekommenen Gutshof gezogen. Ohne es zu wissen, haben sie damit einen Pakt mit der Tiefe der Zeit geschlossen und den Ereignissen, die sich während eines Jahrhunderts dort zugetragen haben. Zumindest ist dies, wovon in In die Sonne schauen erzählt, auf betörend sinnliche Weise. Der Film nimmt erzählerische Verzweigungen und lässt die Zeitebenen aufeinanderprallen, sich berühren, sich verweben und wieder lösen. In die Sonne schauen, das ist tatsächlich ein flirrender Film, bei dem man sich immer wieder die Augen reiben muss, weil man dieser experimentellen Leichtigkeit, dem brutalen und melancholischen Clash von Momenten eines ganzen Jahrhunderts kaum glauben mag.
Der ausladende Gutshof in der Altmark ist die Konstante der Erzählung, er ist der Schauplatz für vier Generationen verschiedener Familien – sie sind nicht untereinander verwandt, auch das schon setzt den Gutshof ins Zentrum. Wir durchlaufen den Vorabend des Ersten Weltkriegs, die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die DDR der Achtzigerjahre und die Zeit, als die stadtflüchtigen, landromantischen Berliner sich in den verlassenen Häusern in der Altmark breitmachen (die Gegenwart). Über diese vier historischen Zeiten begegnen sie sich in dem großen Gebäude mit Hof und Scheune in einer Art Gleichzeitigkeit. Denn die dunklen Geschehnisse, die sich auf dem Hof zugetragen haben, wirken nach, die Menschen, die sie erlebten, sind Phantome, die die nächste Generation heimsuchen.
Das Geisterhafte teilt sich oft mit einem diffusen Drone-Sound mit oder durch die Montage, die die Zeiten ineinanderfließen lässt. Wiederkehrende Bilder, oft Einzelbilder, brechen als Flashes hinein. Baden im trüben Fluss, Tragen von steifen Trauerkleidern, Aale aus dem Fluss in der Wanne in der Küche, ein Aal beißt die Oma in die Hand, die Spiele der Kinder, auf den Bäumen zuerst zu Beginn des Jahrhunderts, dann in der Scheune zu Beginn des neuen Jahrtausends, die Leiter, auf die vor Jahrzehnten der invalide Fritz hochkletterte, und jetzt Nelly, alles ist da, bleibt, kommt plötzlich aus einer früheren Zeit wieder.
Ein nihilistisches Jahrhundert spannt sich assoziativ und bildmächtig auf – Schilinski dreht im Academy-Format, ihre Aufnahmen tragen starke Kontraste, oft sieht man viel Filmkorn, gewollte, flirrende Unschärfe der Bilder in entrückten Momenten. Eine Patina legt sich über den ganzen Film, gefilmt wurde mit einem Filter, der nötig wird, wenn man in die Sonne schaut.
Erzählt wird aus der Perspektive der Kinder, der Mädchen, der heranwachsenden Frauen. Die erste Generation lebt um 1910 auf dem Gutshof, wir sehen das Gesinde beim Schuften, die Gutsherren vergreifen sich an den Mägden, die sterilisiert wurden, damit es keine Bastarde gibt. Die kleine Alma erzählt aus dem Off, was sie erlebt. Hanna Heckt spielt sie, auch sie wie Helena Zengel wieder eine Neunjährige mit strohblondem Haar, ihr leuchtender Schopf ist das Punctum, das in den dunklen Gemäuern heraussticht.
Almas Ernst ist überwältigend. Mascha Schilinski lässt sie ein großes Interesse an einer Daguerreotypie finden, die im Salon aufgestellt ist. Sie zeigt einen Zugang wie aus Roland Barthes’ »Die helle Kammer«, oder wie in Michelangelo Antonionis Blow Up. Immer und immer wieder kehrt Alma zu einer frühen Fotografie zurück, auf der ein Mädchen zu sehen ist, das ihr ähnlich sieht, das aber nicht sie ist, das trotzdem so heißt wie sie. Und im Hintergrund unscharf eine Gestalt, die sich bewegt hat. Die aus dem Bild fliehen will, wie dies in den Achtzigerjahren Angelika (Lena Urzendowsky) machen wird, eine Jugendliche, als der Gutshof in der DDR liegt. Noch so eine suggestive, Äquivalenzen und Unheimlichkeiten schaffende Montage-Bravour von Schilinski.
Die Daguerreotypie folgt dem Brauch der Totenbilder, nimmt also buchstäblich, was Barthes über die Fotografie gesagt hat: dass man beim Betrachten immer ein Stück seiner eigenen Vergänglichkeit gewärtigt, dass man dem Tod ins Antlitz sieht. Als die Magd Lia stirbt, sieht man, wie sie für das letzte Bild hergerichtet wird: Ihre Augenlider werden festgenäht, es soll aussehen, als könnte sie noch blicken, sie wird aufs Kanapee platziert, die Gutsherrenfamilie setzt sich vorsichtig um die Tote herum. Eine Erstarrung des Lebens in der Fotografie – und im Tod.
Die Aufnahme ist so etwas wie das Zentrum des Films, falls es bei diesem Film voller Deleuze’scher Flucht- und Verbindungslinien so eines überhaupt gibt. Immer wieder kehrt Schilinski zu ihr und zur hellblonden Alma zurück, die mit ihrem Blick auch die Leinwand durchbricht. Es ist, als würde sie mehr wissen als der Film, mehr als die Zuschauer, als sei ein anderer Blick auf sie gerichtet, der Blick von Fabian Gamper womöglich, der nach Sandra Wollners thematisch und ästhetisch verwandtem The Trouble with Being Born hier nun selbst die Kamera führen darf. Oder der Blick einer Heimsuchung, was in der performten Magie des Films wahrscheinlicher ist.
Der Tod ist in diesem Film immer schon da, alle Generationen tragen diese Sehnsucht in sich, und auch der internationale Verleihtitel Sound of Falling spielt auf eine der vielen Todesarten an. Die Kinder spielen »Krieg« oder »Den Letzten holt der Sensenmann« oder auch mit dem Tod (eine Zigarette in der Scheune), sie gehen in den Fluss, zum Schwimmen, tauchen unter und nicht mehr auf – und dann doch – oder gehen tatsächlich ins modrige
Wasser.
Schilinskis Film hieß im Arbeitstitel The Doctor Says I’ll Be Alright, But I’m Feelin Blue, ihre titelgebende Sonne ist eine schwarze, ihr Blick ist melancholisch, düster, wenn es um die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern geht, wenn Sex nur mit Gewalt gedacht werden kann: als Übergriff oder gnadenloses Spiel.
Blümchen gibt es in dieser rauen, hoffnungslosen Bauernlandschaft nicht, egal welcher Generation die Menschen entstammen. Nur blutende Füße, die sich an den harten Stacheln des Strohs und der Zeitgeschichte wundgelaufen haben.
»Wir leben nicht nur mit den Lebenden, sondern auch mit all jenen, die uns in der Erinnerung begleiten – wenn wir bereit sind, zu ihnen zu gehören.«
– Julien Davenne in François Truffauts »Die grüne Kammer«
Das ist ein deutscher Film, der sehr außergewöhnlich ist und über den man gar nicht so leicht schreiben kann – und diese Aussage ist als Kompliment gemeint. Dies ist ein Film, der nicht kompliziert und nicht schwierig ist, aber der sehr viele Ebenen hat und der diese Ebenen relativ gleichwertig behandelt. Es ist auch ein Film, der viel erzählt und mehrere Hauptfiguren hat, aber keine klare Plotstruktur, keine Geschichte, die von A nach B nach C geht und sich in fünf Sätzen formulieren lässt. Insofern kann man über diesen Film nur mäandernd reden, indem man hin und zurück springt, Seitenstränge verfolgt, Exkurse vornimmt.
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Zuallererst aber man muss man feststellen: Dies ist ein Film, den man unbedingt im Kino sehen muss; ein Film, der endlich einmal wieder all die ganzen Möglichkeiten und Chancen des Kinos zeigt, die viel zu oft ungenutzt bleiben. Es gibt natürlich viele Filme, die man auch gut auf einem Bildschirm sehen kann – diesen hier nicht! Dann geht unglaublich viel verloren, sowohl auf der Bildebene wie auf der Tonebene. Dieser Film nutzt alle Mittel des Kinos voll aus, und deswegen macht es einen außergewöhnlichen Spaß, ihn im dunklen Raum mit fremden Leuten anzusehen, wo man sich dieser Erfahrung nicht entziehen kann, wo man sie im Ganzen in sich aufnimmt. Die Kinosituation und die Konzentration an diesem Ort nutzt diesem Film sehr – nicht etwa, weil man etwas nicht verstehen würde, sondern weil man im Kino auch als Zuschauer in gewisser Weise auf sich selbst zurückgeworfen ist. Man ist hier empfindsamer und sensibler auch für die eigenen Wahrnehmungen.
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Der Film erzählt uns von einem Dutzend Hauptfiguren oder wichtigen Nebenfiguren, denn eine herausgehobene Hauptfigur gibt es nicht. Einige von ihnen sind Kinder, teilweise sogar richtig kleine Kinder. Etwa Alma, ein Mädchen das vielleicht sechs, sieben Jahre alt ist und die wir sehr genau kennenlernen. Sie lebt in der Zeit des späten deutschen Kaiserreichs, etwa um 1914 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs.
Es gibt auch Erika in den Vierziger Jahren, in den Achtzigern dann Angelika, ihre Mutter, die Erikas Schwester ist, und Lenka, die Zugezogene, deren Freundin Kaya möglicherweise die Tochter von Angelika ist. Oder auch nicht.
Alle diese Zeiten hängen miteinander zusammen. Nicht nur durch das riesige Bauernhaus, in dem alle irgendwann leben und das der eigentliche Hauptdarsteller des Films ist, sondern auch durch die Familienstruktur genau genommen sogar die Gegenwart – aber dafür muss man schon sehr genau zuhören.
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Die Regisseurin verwebt und verklebt in diesem stilistisch überaus ambitionierten und filmisch kraftvollen Werk alle Geschichten und Atmosphären und Eindrücke auf der Leinwand – von einer klassischen Erzählung kann kaum die Rede sein. Die Echos der Vergangenheit hallen im jeweiligen Jetzt der Figuren nach, während Erinnerung und Gedächtnis sich fortlaufend verwandeln und die Leben der vier Protagonistinnen sich gegenseitig spiegeln. Der konzeptuelle Anspruch dieser Erzählweise meidet jede klassisch erzählende, dramatische oder psychologistische Struktur, denn die Bilder folgen weder kausalen Zusammenhängen noch der Absicht, doch noch eine klassische Handlung zu konstruieren. Vielmehr sind es universale Wahrnehmungen des Selbst und der Umgebung, existenzielle Empfindungen und die Atmosphäre der jeweiligen Familienkonstellationen, die das stilistische Konstrukt bestimmen, das sich öffnet und schließt, das atmet, um die gleichzeitige Wahrnehmung unterschiedlicher historischer und narrativer Zeitebenen zu erkunden.
Wir betreten den Film (den zweiten Langfilm der 41-jährigen Regisseurin) durch den flüchtigen Blick eines der Mädchen und ihren subjektiven Standpunkt, stets vermittelt durch eine genaue und doch offene Kamera- und Schnittarbeit. Je weiter wir jedoch in die rhizomatisch angelegten Zeitverläufe des Films vordringen, desto mehr geraten wir in einen stilistischen Wirbel, der in seinen besten Momenten eine visuelle Wucht und inszenatorische Kraft entfaltet, wie sie nur ganz großen Regisseuren vorbehalten ist: Bergman, Haneke, Coppola zum Beispiel. In den gelungensten Momenten beherrscht der Sog der Inszenierung souverän die Leinwand, und zieht uns in ein primär sinnliches Erlebnis hinein, das uns seit langer Zeit einmal emotional wie intellektuell nicht unterfordert.
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Ein Film über Geister und Gespenster ist Sound of Falling (der Originaltitel des Films, den Regisseurin Mascha Schilinski lieber hört, als den deutschen), ein Werk, das sich dem ureigensten Thema von Marcel Proust und W.G. Sebald widmet: dem Miteinander von Lebenden und Toten.
Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Daguerreotypien populär, früheste Photographien. Mit ihnen kam es auch zu sogenannten »Geisterphotographien«, Doppelbelichtungen oder verschwommene Ergebnisse überlanger Belichtungszeiten. Sie regten die spiritistischen Bewegungen des Zeitalters an, weil sie den Eindruck erweckten, einige der abgebildeten Personen seien durchscheinende Geister Verstorbener. Es war auch üblich, Fotos mit den Leichen der Verstorbenen zu machen oder alte Bilder Abwesender in gegenwärtige Aufnahmen zu montieren.
Der Film von Mascha Schilinski ist auch ein Film über Geister und solche Erscheinungen, in dem viele Photographien von Toten und Geistern auftauchen – vor allem aber handelt es sich um eine Erzählung über die Schichten der Erinnerung und deren Flüchtigkeit. Es ist eine Reflexion darüber, wie die Räume der Lebenden von der Präsenz der Toten durchdrungen sind. Eine Geschichte, in der die Geister Frauen sind, die ihren Schmerz, ihre Verluste und die Rätsel eines zerstörten Lebens beschwören.
Die Wände des Bauernhauses, die Arbeitsgeräte, die Räume, das Baden im Fluss, Fotos der Verstorbenen – all das atmet die Präsenz der Abwesenden. Die Echos der Vergangenheit verweben sich mit dem Lauf der Gegenwart, bis sich das Gefühl einstellt – ein durch und durch gespenstisches Gefühl –, alles spiele sich innerhalb derselben erzählerischen Zeit ab.
Der Bildfluss erzählt gleichzeitig von der Geschichte des Jahrhunderts, vom Schmerz und den Zwängen, von physischen und moralischen Wunden, von fortlebenden archaischen Werten und vor allem von den Rätseln der Kindheit – all das über ein komplexes Gewebe unterschiedlicher Erzählerstimmen hinweg, als lyrisch-sinnliches Mosaik.
Dieses poetische Mosaik enthält Echos von The Virgin Suicides von Sofia Coppola und von Des Teufels Bad von Severin Fiala und Veronika Franz, es könnte sich auch um eine fragmentierte Version von Heimat von Edgar Reitz und von Fanny und Alexander, Ingmar Bergmans Meisterwerk über die Grausamkeit des Patriarchats, handeln.
Es wird notwendig sein, zu diesem wirklich originellen, so facettenreichen wie rätselhaften Werk mit größerer Ruhe zurückzukehren, um es mit mehr Gelassenheit und Tiefe verarbeiten und würdigen zu können.
Am Ende sehen wir in Sound of Falling nach zahlreichen Stürzen Menschen schweben. Ein Bild seltsamen Glücks.