Im letzten Sommer

L'été dernier

Frankreich 2023 · 104 min. · FSK: ab 16
Regie: Catherine Breillat
Drehbuch: ,
Kamera: Jeanne Lapoirie
Darsteller: Léa Drucker, Samuel Kircher, Olivier Rabourdin, Clotilde Courau, Angela Chen u.a.
Das Leben lernen..
(Foto: Alamode Film/Filmagentinnen)

Die liebe Stiefmutter

Kalkulierte Chocs und Anti-Moralismus: Der französische Film Im letzten Sommer von Catherine Breillat erzählt von einer privilegierten Frau

»Wer unter Euch frei von Sünde ist, der werfe den ersten Stein.«
– Evan­ge­lium des Johannes; 8.7

Im letzten Sommer – der Titel dieses Films hat die Unschuld eines Schul­auf­satzes. Zugleich schwingt hier ein Hauch der 70er Jahre mit, weckt der Titel Erin­ne­rungen an jene weich­ge­zeich­neten, aber ganz und gar nicht unschul­digen Filme mit jungen leicht­be­klei­deten Menschen, nicht zuletzt Mädchen, die zwischen »Erwach­sen­werden« oder »erste Liebe« schwankten, und »Zärtliche Cousinen« hießen, »Erste Sehnsucht« oder »Ein Sommer in St. Tropez«. Und außerdem ist der letzte Sommer auch der der Haupt­figur, einer nicht mehr ganz taufri­schen Anwältin, die in diesem Film verges­sene Leiden­schaften entdecken wird...

Das alles kenn­zeichnet den neuen Film der fran­zö­si­schen Regis­seurin Catherine Breillat schon recht gut, und Breillat spielt offen mit den filmäs­the­ti­schen Bezügen zu einer anderen Zeit und ihren vergan­genen Werten und Sensi­bi­li­täten.

Gleich­zeitig ist Breillat eine ganz und gar zeit­genös­si­sche Filme­ma­cherin, deren Werk ohne seine poli­ti­sche Dimension nicht zu denken ist. Nach zehn Jahren krank­heits­be­dingter Pause hat die fran­zö­si­sche Regis­seurin wieder einen Film gemacht. Als eine Vertre­terin der zweiten Gene­ra­tion der Nouvelle Vague, zudem eine der wenigen Regie-Frauen ihrer Gene­ra­tion steht Breillat seit jeher für Filme, die provo­zieren wollen, die auf eine sehr spezielle, so kontro­verse wie inkor­rekte Weise sexuelle und Gewalt-Tabus berühren und die psycho­pa­tho­lo­gi­schen Leiden­schaften der Menschen ins Zentrum stellen: Anatomie de l’enfer, Romance X, Blaubart jüngste Frau, À ma soeur!. Immer wieder sucht die von einer geradezu jugend­li­chen Lust an der Provo­ka­tion getrie­bene, mitt­ler­weile 77-jährige Filme­ma­cherin die Empfind­lich­keiten des Publikums, die Trigger-Punkte, durch deren geschicktes Reizen sie ihren Geschichten irri­tie­rende Kraft geben kann, und über die sie unsere Wahr­neh­mungs­ge­wohn­heiten und unsere mora­li­sche Gemüt­lich­keit heraus­for­dert.

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So auch in diesem Fall: Im letzten Sommer beginnt wie ein ganz normaler, konven­tio­neller fran­zö­si­scher Autoren­film. Im Zentrum der Geschichte steht eine recht typische »starke Frau« aus dem wohl­ha­benden Bildungs­bür­gertum: Anna (Léa Drucker), Anfang 50, gutaus­se­hend, ist eine erfolg­reiche Anwältin, die vor allem – dies ist ein bisschen zu sehr »Faust auf Auge« – weibliche Mandanten vertei­digt, die sexuell miss­braucht wurden. Ohne Indizien für uner­füllte Wünsche oder Langweile lebt sie ein zufrie­denes Leben, wie es für diese Gesell­schafts­schicht selbst­ver­s­tänd­lich ist: In einem Landhaus, mit einem liebenden Geschäfts­mann (Olivier Rabourdin) als Gatten, zwei aus Asien adop­tierten Töchtern, Desi­gner­mö­beln und schicken Autos. Sie selbst fährt ein altes Mercedes-Cabriolet – auch dies wie vieles hier nicht zuletzt ein Symbol.

Doch eines Tages zieht der 17-jährige Theo ein, der Sohn von Annas Mann aus dessen erster Ehe. Um den Schul­ver­sager und klein­kri­mi­nellen Tunichtgut auf den richtigen Weg zu bringen, beschließt sein Vater, ihn seiner Ex-Frau wegzu­nehmen und ihn im eigenen Haus besser zu erziehen.
Doch bald entpuppt sich der Stiefsohn auch hier als Unru­he­stifter: Er klaut, er ist frech und rüpelhaft – pain in the ass. Die Stief­mutter ist zunächst genervt, doch bald erliegt sie dem Charme der Jugend, den Theo ein bisschen kalku­liert, ein bisschen spie­le­risch einsetzt. Beide spüren die zuneh­mende Zwei­deu­tig­keit zwischen ihnen, aber sie können nicht wider­stehen, und bald beginnt eine wech­sel­sei­tige Amour Fou, die sich im weiteren Verlauf des Films in einer vorher­seh­baren, zugleich faszi­nie­renden Abwärts­spi­rale entwi­ckelt.

Anne hat dabei nie ein schlechtes Gewissen wegen ihrer Ehe und schon gar nicht wegen dem, was die US-ameri­ka­ni­sche Erre­gungs­frak­tion heute gern zum »statutory rape« dämo­ni­siert. Sie sieht in ihrem Stiefsohn eine Art Gegenpol zu ihrem Mann. Während der für sie lang­wei­lige, aber attrak­tive Sicher­heit verkör­pert, ist Theo ihr befrei­endes Abenteuer, aber zugleich nie eine Bedrohung der Ehe. Theo ist cool und tut Dinge, auf die offenbar nicht nur junge Mädchen stehen: Er ist charmant, rebel­lisch, raucht, zieht sich lässig an, ist tätowiert und schert sich einen Dreck um alles.
Es ist Breillats ganz persön­li­ches, sarkas­ti­sches Vergnügen, im Spiegel dieses jungen, blonden Dumm­beu­tels die Dumm­heiten und Abgründe ihres eigenen Geschlechts (durchaus wohl­wol­lend) heraus­zu­ar­beiten.

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Regis­seurin Breillat nimmt also den schon ein wenig abge­schmackten »Lolita«-Stoff und haucht ihm kraft­volles neues Leben ein, indem sie die Geschlech­ter­ver­hält­nisse einfach umdreht.

Ist das nun noch Miss­brauch, oder ist es schon das Empower­ment einer Frau, die sich einfach auch das nimmt, was sich Männer schon immer genommen haben? Und ist nicht der 17-jährige der eigent­liche Verführer und die Frau auch hier die Schwache, die sich das Verlangen nach einem letzten Sommer nicht versagen will? (Warum auch?)
Oder ist, was wir sehen, einfach das ganz normale Leben? Das eben aus vielen Grautönen besteht, nicht aus klarem Schwarz-Weiß.

Die Antwort ist hier in jedem Fall nicht eindeutig: Mora­lis­tinnen und Femi­nisten aller Lager können sich darüber nach diesem Film die Köpfe heiß reden – schon das muss man an Breillats neuestem Streich unbedingt loben.

Sie betritt gleich zwei mora­li­sche Minen­felder – Alters­un­ter­schied und das Selbst­bild der Bour­geoisie – und genießt es offen, die Besser­wisser zum Schäumen zu bringen.

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Aber auch filmisch kann man viel wert­schätzen: Denn Im letzten Sommer lebt von klug kalku­liert einge­setzten ästhe­ti­schen Chocs. Die erwähnte Abwärts­spi­rale der Haupt­figur Anna besteht nämlich vor allem darin, dass sie die Idee des Surrea­listen Georges Bataille in die Tat umsetzt, dass das echte Leben sich nur in der – auch eroti­schen – Selbst­ver­schwen­dung ereignet.
Und die zugleich immer ein Mensch ihrer Klasse bleibt: Eine Privi­le­gierte, die alles haben, aber nichts opfern will, und die bis zum Schluss erbittert und mit allen Mitteln – Lüge, Heuchelei, Rechts­beu­gung – darum kämpft, ihr bürger­li­ches Leben zu vertei­digen.

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Es bietet sich an, gewisse Paral­lelen zwischen Im letzten Sommer und anderen Filmen der Regis­seurin, vor allem À ma soeur! von 2001, dem viel­leicht bekann­testen Werk in Breillats Filmo­gra­phie – zu ziehen.

In beiden Filmen geht es um junge Körper, die sich noch in der Entwick­lung befinden und sich ihrer selbst nicht voll bewusst sind. Und in beiden Werken werden diese Körper von älteren Menschen gebraucht und benutzt, die aufge­klärt genug sind, um zu wissen, was sie tun. In beiden Fällen blickt Breillat mit mindes­tens einem Hauch von Verach­tung auf die »jungen Dinger«, mit einem grund­sätz­lich erwach­senen Blick, der den Nich­ter­wach­senen unaus­ge­spro­chen mitteilt: 'Du bist jung und schön, aber das wird schneller vergehen, als du ahnst. Du wirst das Leben schon noch lernen.'

Es gibt einen grund­sätz­li­chen Machismo in den Filmen von Catherine Breillat. Er stellt die verlogene, aber mehr­heits­fähige roman­ti­sie­rende Sicht auf Schuld und Begehren infrage.

Genau durch derartige geschickte Insze­nie­rungs­ent­schei­dungen gelingt es Breillat, der Falle schlichter Verklärung ihrer Figuren zu entgehen. Mit anderen Worten: Es inter­es­siert sie nicht, was hier »erlaubt« ist. Sie zeigt den Sex sinnlich und erotisch, aber andere Momente des Films über­la­gern diese schönen Gefühle.

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So sympa­thisch diese und andere Provo­ka­tionen der »moral majority« braver Bürger sind, und ihr Verzicht auf auch nur vage Andeu­tungen mora­li­scher Qualen und Quali­täten der Haupt­figur Anna, so ärgerlich ist, dass Breillat die Amour Fou allzu wörtlich nimmt, und ihre »starke Frau«, die doch auch die bour­geoise Kälte reprä­sen­tieren soll, tatsäch­lich als Liebes- oder Sexwahn­sin­nige durch einen Leiden­schaft­s­taumel immer schwächer werden lässt. Sie ist allen Ernstes verrückt nach dem blonden Laffen!

Jenseits von jeder Bedeutung und Tiefe geht es hier um den Sieg des Fleisches über die Vernunft. So ist das Leben – sagt uns die Regis­seurin.

PS: Von manchen Kritikern wird vermerkt, der Film sei ein »Remake« des dänischen Films Königin von May el-Toukhy. Von dem habe ich noch nie etwas gehört, und ihn also auch nicht gesehen.