18.01.2024

Gegen-Erzählungen – Conte sexuel

Im letzten Sommer
Im letzten Sommer: eine (Gegen-) Erzählung um weibliche Sexualität...
(Foto: Alamode Film/Filmagentinnen)

Das Kino der französischen Regisseurin Catherine Breillat

Von Anna Bitter

Für einen Film, der von einem Sommer erzählt, beginnt Catherine Breillats L’été dernier (deutsch: Im letzten Sommer) auffal­lend kalt: Anne, eine erfolg­reiche Anwältin, sitzt ihrer jungen Mandantin gegenüber und stellt Fragen über das Sexu­al­leben ihres Gegenü­bers. Mit wie vielen Männern sie im letzten Jahr geschlafen habe? Das Mädchen antwortet »mit sieben«, und ob das viele seien. Anne stellt klar, dass es nicht darum ginge.
Gleich in der Eröff­nungs­szene ihres neues Films, der 2023 im Wett­be­werb von Cannes lief, zeichnen sich die wesent­li­chen Konturen von Breillats filmi­scher Arbeit ab. Ihre Filme setzen sich offen mit weib­li­cher Sexua­lität ausein­ander, und das seit den Anfängen ihres Schaffens, den 1970er Jahren, in denen es – in Anschluss an die zweite Frau­en­be­we­gung – darum ging, abseits männ­li­cher Fantasie und verklärter Mythen, neue Bilder für diese weibliche Sexua­lität zu finden. Dabei wurden ihre Filme oft als Provo­ka­tionen miss­ver­standen. Ungewohnt grafische Darstel­lungen von Sex brachten ihr gar den Vorwurf der Porno­grafie ein. Doch sucht Breillats Kino, anders als in der kapi­ta­li­sie­renden Ordnung des Porno­gra­fi­schen, nicht nach dem Bild gefügiger Körper. Es bewegt sich vielmehr abseits gängiger Darstel­lungen und reicht bisweilen in Bereiche hinein, die unbequem sind. Auch L’été dernier stra­pa­ziert seine Zuschauer*innen in dieser Hinsicht, denn Anne beginnt nur wenig später eine Liebes­be­zie­hung mit dem 17-jährigen Sohn ihres Lebens­ge­fährten. Das Zeit­fenster eines Sommers bildet den Rahmen dieses Fami­li­en­por­traits, das zunehmend starke Risse aufzeigt. Die Frage nach Macht­ge­fällen in sexuellen Bezie­hungen begleitet das Film­ge­schehen und wird spätes­tens dann offen­sicht­lich, als Anne versucht, ihre Position als Erwach­sene gegen den Jungen auszu­spielen. Trotz Wissens um die rechts­wid­rige Dimension ihres Verhält­nisses, hält das Paar an der Beziehung fest, in der Verbot, Dominanz und Unter­wer­fung als Faktoren eroti­scher Fantasien und Liebes­be­zie­hungen sichtbar werden.
Das besondere Interesse an der sexuellen Biografie von Frauen und weib­li­chem Begehren lässt sich dabei als Spur weit in Breillats Werk hinein verfolgen. Ein Grund mehr für einen Rückblick auf einige Stationen ihres filmi­schen Schaffens.

Alles, was flüssig und klebrig ist

Ihre Karriere als Regis­seurin beginnt Catherine Breillat 1976 mit Une vrai jeune fille. Ein Film basierend auf ihrem Roman »Le Soupirail«, der 2001 unter dem Titel »Ein Mädchen« auch in Deutsch­land erschien. Une vrai jeune fille begleitet seine Prot­ago­nistin mit dem viel­sa­genden Namen Alice gera­de­wegs vom Internat zum Haus ihrer Eltern auf dem fran­zö­si­schen Land, wo ihr Vater ein Sägewerk betreibt. Das Haus liegt verlassen, die Familie bildet das einzige unmit­tel­bare Umfeld der jungen Heran­wach­senden. Kein Wunder, dass sich Alice einge­sperrt fühlt. Ihr dunkles Zimmer wirkt wie eine Gefäng­nis­zelle, ihre Eltern verbieten ihr das Herum­streunen, sie klebt wie die Fliege am Leim.
Doch Alice verschafft sich innerhalb dieser Welt ihren eigenen Raum. Popkultur und Post­kar­ten­an­sichten werden der jungen Prot­ago­nistin zu Ausgangs­punkten ihrer sexuellen Fantasien, in die das Film­ge­schehen immer wieder abschweift. Zum Kata­ly­sator jener ersten Zuwendung zu der eigenen Sexua­lität wird dabei die Kamera selbst. Die Einstel­lungen sind zuweilen so gewählt, dass sie zur symbol­träch­tigen Aufladung des Gezeigten beisteuern: Einmal rinnt im Detail ein rohes Ei durch ihre Finger, wie besessen haftet der Blick an allem, was flüssig und klebrig ist. Sie hat keine Angst vor Symbolen, kommen­tiert Alices Stimme, die als innerer Monolog das Geschehen begleitet, während sie sich mit roter Tinte einen Punkt auf ihr Kleid malt, genau auf der Höhe ihres Geschlechts.

In ihrer offen­siven Sicht auf Sexua­lität, der umfas­senden Eroti­sie­rung des Umfeldes und der hemmungs­losen Plura­li­sie­rung der Metaphern für weib­li­ches Begehren posi­tio­niert sich Breillats Film in Reich­weite femi­nis­ti­scher film­theo­re­ti­scher Ansätze ihrer Zeit. Etwa jenen der US-ameri­ka­ni­schen Autorin Linda Williams, die in ihrem viel beach­teten Buch »Hard Core« etwas später – in den 90ern – formu­liert:

»The project of repre­sen­ting women’s Desire is not simply a matter of subdoing the phallus or curtailing it’s symbo­liza­tion; rather as Jessica Benjamin argues in 'A desire of ones own', it is a matter of replacing the monopoly on the sexual subjec­ti­vity that this phallus stands for, it’s mono­li­thic symbo­liza­tion of desire.«
(Linda Williams, Hard Core, Pandora Press 1990, S. 258)

Über­stei­gerte Sicht­bar­keit wird bei Breillat zum ästhe­ti­schen Programm, das sich die Präsenz weib­li­cher Sexua­lität im Kino einfor­dert. Dem Eichwert des mono­li­thi­schen Einen will Breillats Kino ganz sicher nicht mehr gerecht werden.

Das emotio­nale Tages­ge­schäft

In einer Art Zustand des Über­flusses bewegt sich auch die Prot­ago­nistin von Tapage nocturne (1979). Solange ist Regis­seurin. Night After Night (engl. Verleih­titel des Films), trifft sie »man after man«, während sie doch eigent­lich verhei­ratet ist (mit einem Produ­zenten) und doch eigent­lich schon ihre Augen auf Jim geworfen hat (die männliche Haupt­rolle ihres nächsten Films) und doch eigent­lich verliebt ist in Bruno (ein Regisseur, den sie bei Freunden kennen­lernt). Das bringt die Prot­ago­nistin konkret in eine Situation, die schwer zu managen ist – muss sie doch alle Geliebten unter einen Hut bekommen. Die Unmög­lich­keit emotio­naler und zeit­li­cher Verwal­tung der paral­lelen Bezie­hungen zeigt sich hier, ebenso wie Poly­amorie, als gelebte Wirk­lich­keit einer Frau. Anders jedoch als ihr Erst­lings­werk unter­streicht Tapage nocturne deut­li­cher die maso­chis­ti­sche Tendenz seiner weib­li­chen Prot­ago­nistin, die sich vor allem zu dem unnah­baren Bruno hinge­zogen fühlt.
Breillat entwi­ckelt ihre Stärken vor allem dort, wo sie sich, wie schon in Une vrai jeune fille, den Geschichten junger Heran­wach­sender widmet.

Das emotio­nale Tages­ge­schäft

Lolita ’90 (1988), dessen Origi­nal­titel 36 fillette lautet, ist Breillats dritter Film und trans­por­tiert uns zurück in die Jahre einfacher Camping-Urlaube mit den Eltern am Meer. Für die junge Lili ist die Enge der Familie, die sich in Gestalt des Campers mate­ria­li­siert, schwer zu ertragen. Ange­halten von den beengten Verhält­nissen, in denen sie lebt und in denen sie selbst noch Urlaub macht, will sie nichts mehr, als ihre Jung­fräu­lich­keit verlieren. Ein Konzept, das – mit der Vorstel­lung des Unschulds­ver­lusts einer­seits, ande­rer­seits durch Einflüsse der Popkultur mit dem Druck des perfekten ersten Mals besetzt – junge Frauen mit Frei­heits­wunsch in mora­li­sche Engpässe führt.
Catherine Breillat nimmt sich der Komplexe an, die Konzepte wie dieses im Indi­vi­duum zeitigen. Sie posi­tio­niert ihre Prot­ago­nistin mit viel Gespür zwischen jugend­li­cher Verschwen­dungs­sucht und aufspa­render Zurück­hal­tung. Ökono­misch gesehen zwei Dinge, die sich ausschließen, hier aller­dings als das emotio­nale Tages­ge­schäft einer jungen Heran­wach­senden in den Blick rücken. Und so lässt sich Lili alias Lolita, die dem Geist ihrer Frei­zü­gig­keit die Lebens­form des Trampens verpasst, von dem viel älteren Maurice mitnehmen, zunächst in einen Tanz­schuppen, dann in seine Hotel­suite – schafft es aller­dings nicht, mit ihm zu schlafen. Der Gefühls­welt der jungen Frau wird viel Platz eingeräumt. Anstatt verklärter Bilder des perfekten ersten Mals, steht hier ein gesti­sches Reper­toire an Unein­deu­tig­keiten und die Unent­schie­den­heit der Prot­ago­nistin im Vorder­grund.
Zum zentralen Instru­ment dieser Aushand­lung wird dabei mitunter das Sprechen selbst. Immer wieder bildet es Zufluchtsort, ist es Garantie eines Aufschubs körper­li­cher Liebe und ermög­licht deren Reflexion. Körper­liche Bezie­hungen treten bei Breillat so als Orte perma­nenter, unab­ge­schlos­sener Aushand­lung und Verhand­lung des eigenen Begehrens in den Blick. Ein Moment, in dem Breillats Filme durchaus Anschluss finden an die aktu­el­leren Debatten um Einver­nehm­lich­keit in sexuellen Bezie­hungen. Der Sex, den Lili schließ­lich mit Maurice haben wird, bleibt oral. Eine einsei­tige Befrie­di­gung, nach der sich Maurice wortlos aus der Affäre zieht. Der Einzige, mit dem sich Lili im Laufe des Films vers­tän­digt, bleibt somit Jean-Pierre Léaud, der in 36 fillette in einer kleinen Neben­rolle als Pianist auftritt. Lili begegnet ihm auf ihrem Streifzug durch die Nacht zufällig in der Lobby eines Konzert­hauses. Er scheint ihre Situation wirklich zu begreifen. Viel­leicht, weil auch er einst in der Rolle des Antoine Doinel – als eine der wenigen Figuren der Film­ge­schichte vor unseren Augen groß­ge­worden – alle Leiden­schaften und Enttäu­schungen des Erwach­sen­wer­dens durchlebt hat.

Auch À ma soeur! (2001) versetzt in die beengte Welt eines Fami­li­en­ur­laubs. Die Geschichte um ein unglei­ches Schwes­tern­paar spielt sich vor dem Hinter­grund einer tristen Feri­en­an­lage am Meer ab. Dort lernt Elena in einem Strand­lokal einen jungen Italiener kennen, der, dem Juwel ihrer Jung­fräu­lich­keit wegen, zum Hoch­stapler wird und ihr in Folge des ersten Treffens Liebes­ge­ständ­nisse und Verspre­chungen macht. Fernando wird der Coup schließ­lich gelingen: mit dem gestoh­lenen Ring seiner Mutter überredet er das junge Mädchen zum ersten Sex. Zur Beob­ach­terin in erster Reihe avanciert die jüngere Schwester Elenas, Anaïs, die ganz verschieden ist und sich auch gleich schwört, einem Mann niemals diesen Triumph zu gewähren. Ihr erstes Mal wünscht sich die jüngere Schwester, entgegen den Verheißungen roman­ti­scher Liebe, dann lieber mit einem Mann, den sie nicht liebt.

Komödie und Verfrem­dung

Breillat konzi­piert ihr Kino, das lassen Filme wie À ma soeur! deutlich werden, als ziel­si­chere Attacken gegen verklä­rende Darstel­lungen von Sexua­lität und roman­ti­scher Liebe.
Diesen Ansatz lässt sie auch in Sex is Comedy (2002) konkret sichtbar werden, der als Herstel­lungs­ge­schichte von À ma soeur! angelegt ist.
Die Zeit rennt dem Filmteam davon, aber sie sollen sich vor der Kamera küssen, als sei es bis in alle Ewigkeit. Zentrale Figur des Films ist die Film­re­gis­seurin Jeanne, die gerade einen Film mit dem Titel »Scènes intimes« dreht. Wir sehen sie mit einem Schau­spie­ler­paar am Strand eine Liebes­szene umsetzten, bei unver­schämt kalten Tempe­ra­turen. Diese Eises­kälte aber darf nicht zu sehen sein, alle sollen sich so bewegen, wie an einem warmem Sommertag.
In dem sie sich unmit­telbar an dessen Produk­ti­ons­stätte begibt, das Filmset, gelingt es Breillat, die Frage nach der Reprä­sen­ta­tion von Sex im Kino explizit werden zu lassen. Damit ist nicht allein die Schwie­rig­keit der Insze­nie­rung von Intimität vor der Kamera gemeint, sondern allge­meiner die Frage aufge­worfen, wie Sex gezeigt wird. Der komö­di­an­ti­sche Effekt setzt in Sex is Comedy gerade zwischen realer Praxis und dem nach außen getra­genen 'Image' ein; er liegt in der Dissonanz dieser beiden Ebenen. Phänomene der Unstim­mig­keit sind in Sex is Comedy – der Titel wird Programm – an allen Ecken und Enden zu finden: Am Strand regnet es, und gleich­zeitig scheint die Sonne, der Mühlstein aus den Studio­ku­lissen ist schwer und leicht zugleich, eine steife Penis­pro­these will nicht halten… er braucht noch 20 Minuten, sagt der Visagist, der einen Koffer voller Prothetik in der Reserve hält. Das heißt: schon wieder warten, an einem Ort, an dem chronisch Zeit­mangel herrscht.

Barbe bleue (Blaubarts jüngste Frau, 2009) scheint auf den ersten Blick ein wenig aus der Reihe ihrer stilis­tisch doch einander sehr annähe­rungs­freu­digen Filme zu fallen. Breillat versetzt die Handlung ihres Films nach kurzer Rahmen­er­zäh­lung aus der modernen Welt in die Tableaus einer mittel­al­ter­li­chen Märchen­ku­lisse, in der ein junges Mädchen aus armen Verhält­nissen mit dem frau­en­mor­denden Blaubart verhei­ratet wird. Streng genommen ist Breillats Barbe bleue nicht die Geschichte der jüngsten Braut Blaubarts. Der Film erzählt von zwei Schwes­tern, die sich diese Geschichte erzählen. Auf dem Dachboden eines Speichers liest die jüngere der beiden, deren unge­bremste Wiss­be­gierde jener der besagten jüngsten Frau Blaubarts verdächtig nahe kommt, aus dem Buch vor. Von Beginn an ist somit die Klammer gesetzt zwischen der Erzählung und der Erzäh­lenden. Wie sehr sich diese in die Geschichte invol­viert, ist spätes­tens dann zu erkennen, als sie die Seiten des Erzähl­vor­gangs wechselt und mit einem Mal selbst in Blaubarts Welt landet. Furchtlos watet sie dort durch das Blut der Frauen, die nach der Heirat mit Blaubart spurlos verschwunden sind. Die Über­schrei­tung dieser Grenze markiert im Märchen die Über­schrei­tung des Verbots durch Blaubarts Frau, eine bestimmte Kammer in dessen Schloss zu betreten. Blaubart will sie mit dem gleichen Tod bestrafen, dem auch ihre Vorgän­ge­rinnen zum Opfer gefallen sind. Breillat wendet in ihrer Version von Barbe bleue die Moral des alten Blaubart-Stoffes um: tot endet nur diejenige, die ihre Nase nicht überall hinein­steckt. Am Ende ist es die ältere Schwester der kleinen Grenz­gän­gerin, die umkommt vor falscher Zurück­hal­tung. Sie stürzt rücklings durch die Dachluke des Speichers.

Dekon­struk­tion durch Über­schrei­tung

Mit La belle endormie (Die schla­fende Schöne) setzt Breillat 2011 ihre Ausein­an­der­set­zung mit Märchen­stoffen fort. Wie in Barbe bleue tut sie das im Modus einer aneig­nenden Umschrift. In grober Anlehnung an 'Dorn­rö­schen' zeigt sie ein junges Mädchen, das in den Schlaf verbannt wird, um erst als Jugend­liche wieder aufzu­wa­chen, wobei Breillat kurzer­hand dessen Traum zum Erleb­nisort macht. Im Rückgriff auf die klas­si­sche Fabel und durch deren Über­schrei­tung dekon­stru­iert Breillat die Vorstel­lung vom unschul­digen Mädchen. La belle endormie bricht damit gleich zweifach mit der Vorlage. Ein Bruch, der Breillats Kino je schon das Wort abseits der Vor-schrift, das Bild abseits des Vor-bilds ermög­li­chen konnte.

Wenn Anne zu Beginn von L’été dernier mit aller Genau­ig­keit, die ihr die Rolle als Vertei­di­gerin abver­langt, ihre Mandantin befragt, dann wird dieser poli­ti­sche Kern Breillats filmi­schen Schaffens erneut sichtbar:

Es nimmt sich der (Gegen-) Erzäh­lungen um weibliche Sexua­lität an, ohne in erster Instanz moralisch darüber zu urteilen. Hierin erweist L’été dernier ihrem filmi­schen Ansatz Treue, auch jenem, bis an das Tabu heran­zu­rei­chen.