Deutschland 2024 · 84 min. · FSK: ab 6 Regie: Sarah Winkenstette Drehbuch: Thomas Möller, Sebastian Grusnick Kamera: Jakob Berger Darsteller: Theo Kretschmer, Lilli Lacher, Eva Löbau, Jona Volkmann, Anton Noltensmeier u.a. |
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Mut zu einem Kino, das »Bigger than Life« ist... | ||
(Foto: farbfilm / Filmwelt) |
In den vergangenen Jahren haben deutsche Filmschaffende in Kinder- und Familienfilmen mehrfach über Kinder erzählt, bei denen eine Störung im Autismus-Spektrum diagnostiziert wurde, und setzten dabei unterschiedliche Akzente. Der Regisseur Max Fey rückte in Zwischen uns (2022) die Schwierigkeiten einer überlasteten alleinerziehenden Mutter ins Zentrum seines Langfilmdebüts, ihren 13-jährigen Sohn zu betreuen, der das Asperger-Syndrom hat. Dagegen konzentrierte sich Marc Rothemund in der Tragikomödie Wochenendrebellen auf das Verhältnis zwischen einem Vater und seinem zehnjährigen Sohn mit autistischer Entwicklungsstörung, die eine gemeinsame Reise zu Fußballstadien in ganz Deutschland antreten. Nun kommt Sarah Winkenstettes Spielfilm Grüße vom Mars in die Kinos, die das Familiengefüge um einen zehnjährigen Jungen mit Autismus-Spektrum-Störung ausleuchtet, der unbedingt später mal Astronaut werden will.
Der zehnjährige Tom (Theo Kretschmer) lebt seit dem Tod des Vaters mit seiner 15-jährigen Schwester Nina (Lilli Lacher) und dem 13-jährigen Bruder Elmar (Anton Noltensmeier) und der alleinerziehende Mutter Vera (Eva Löbau) in Hamburg. Aus dem Off erklärt, wie sein streng geregelter Alltag aussieht, der von regelmäßigen Abläufen und Pünktlichkeit geprägt ist. Zugleich kann Tom Veränderungen und unnötigen Lärm nicht ertragen. Wenn ihm alles zu viel ist, zieht er sich in einen umgebauten Schrank zurück. Außerdem hasst er die Farbe Rot, die ihn zu sehr an Blut und Notfälle erinnert. Dafür liebt der Junge mit einem ausgeprägten Talent für Mathematik Blau, er trägt am liebsten blaue Kleidung und eine blaue Brille.
Eines Tages zwingt ihn seine Mutter jedoch unfreiwillig, die komfortablen Routinen hinter sich zu lassen. Aus beruflichen Gründen muss die Journalistin für vier Wochen nach China. In dieser Zeit werden die Geschwister bei den Großeltern (Hedi Kriegeskotte und Michael Wittenborn) in einem norddeutschen Dorf untergebracht. Vera macht Tom den Ortswechsel mit dem Vorschlag schmackhaft, über den Aufenthalt ein Logbuch zu führen, um so einen späteren Trip ins Weltall vorzubereiten. Denn Tom will Astronaut werden und als erster Mensch zum Mars fliegen. Kein Wunder, wenn er oft im Astronautenanzug herumläuft und einen Schutzhelm trägt. Doch erst einmal muss er einige seiner Ängste überwinden. Und dann kommt er auf die Idee, einen verschwundenen Asteroiden aufzuspüren.
In ihrem zweiten langen Kinderfilm nach dem warmherzigen Freundschaftsdrama Zu weit weg (2019) erzählt die Regisseurin Sarah Winkenstette konsequent aus der Perspektive des zehnjährigen Protagonisten, der mit seinen besonderen Bedürfnissen den Alltag seiner Familie maßgeblich prägt und Mutter und Geschwister oft vor große Herausforderungen stellt. So sorgt die ständige Rücksichtnahme auf Tom und die Koordinierung der Familienaktivitäten mit ihren beruflichen Verpflichtungen bei der Mutter immer wieder für Stress. Auch dem hyperaktiven Draufgänger Elmar und der Dauertelefoniererin Nina fällt es manchmal schwer fällt, sich mit Toms Eigenheiten zu arrangieren. Als der Junge auf dem Dachboden das ausrangierte Teleskop seines Vaters findet und reaktiviert, lassen sich die beiden jedoch in seine phantastische Weltraumwelt integrieren und fungieren als erster Offizier und Funkerin.
Die 45-jährige Regisseurin versucht in dem Film, der der auf einem illustrierten Roman von Sebastian Grusneck und Thomas Möller beruht, durch besondere visuelle und akustische Gestaltungsmittel, Toms Wahrnehmung der Lebenswelt vor allem für das junge Zielpublikum anschaulich zu machen.
Wenn der Junge verunsichert ist oder sich überlastet fühlt, zeigt die Kamera hin und wieder nur ein unscharfes Bild. Manchmal sind Stimmen nur noch gedämpft zu hören und Geräusche hören sich verzerrt an. Und wenn Tom sich in Tagträumen über Raketen, Planeten und Weltraumtrips verliert, werden diese in Zeichnungen und animierten Sequenzen sichtbar.
Winkenstette, die an der Kunsthochschule für Medien Köln Film studiert hat, setzt sich mit viel Fingerspitzengefühl mit der schwierigen Thematik auseinander und erleichtert so das Verständnis für Toms eigenwillige Verhaltensweisen, die gelegentlich wie schrullige Ticks wirken. Mit schrulligen Verhaltensweisen können aber auch einige Nebenfiguren aufwarten. So sorgen Michael Wittenborn als Opa und Heidi Kriegeskotte als Oma mit unkonventionellen Ideen hin und wieder für Heiterkeit. Eva Löbau als Mutter verschwindet nach einem markanten Kurzauftritt zu Beginn leider allzu schnell aus dem Film. Getragen wird der Film vor allem vom jungen Hauptdarsteller Theo Kretschmer, der Tom mit großer Natürlichkeit verkörpert und dessen Eigenheiten souverän glaubhaft macht.
Grüße vom Mars zeigt immer mal wieder Mut zu einem Kino, das »Bigger than Life« ist. Da baut ein Zehnjähriger mit Faible für Astrophysik einen Dachboden zum Sternenobservatorium um, spürt durch Beobachtungen und Berechnungen einen verschwundenen Himmelskörper auf und entwickelt mit seiner Inselbegabung sogar eine Theorie zum Asteroidenflug. Das alles ist so charmant in Szene gesetzt, dass wir Toms verwegenen Ambitionen gerne folgen. Kein Wunder, dass Grüße vom Mars bereits mehrmals ausgezeichnet wurde, so wurde Theo Kretschmer beim Festival »Goldener Spatz« zum besten Darsteller gekürt, während der Film auf dem Festival in Luxemburg den Preis der Kinderjury erhielt.