The Five Devils

Les cinq diables

Frankreich 2022 · 97 min. · FSK: ab 12
Regie: Léa Mysius
Drehbuch: ,
Kamera: Paul Guilhaume
Darsteller: Adèle Exarchopoulos, Swala Emati, Sally Dramé, Moustapha Mbengue, Patrick Bouchitey u.a.
Diabolisch: Vicky mit besonderen Fähigkeiten
(Foto: MUBI)

Die lodernde Tiefe der Provinz

Fantasy und Zeitreise: Léa Mysius’ zweiter Langfilm Les cinq diables könnte auch als olfaktorischer Horrorfilm durchgehen

Les cinq diables, die fünf Teufel, wird eine expres­sive Gruppe von Berg­gip­feln in der Vallée de l’Oisans genannt, in der fran­zö­si­schen Region Auvergne-Rhȏnes-Alpes. Die Gipfel vertreten das Mine­ra­li­sche, das Element Erde in Léa Mysius’ Spielfilm Les cinq diables, so wie der still glit­zernde Bergsee und das Schwimmbad im nach den örtlichen Teufeln benannten Sport­zen­trum für das Wasser stehen, selbst­re­dend das Lieb­lings­ele­ment der bild­hüb­schen Bade­meis­terin Joanne. Adèle Exar­cho­poulos verleiht ihr das freund­liche Erstaunen einer Intro­ver­tierten, mit dem sie bereits in dem Liebes­film Blau ist eine warme Farbe von Abdellatif Kechiche bril­lierte.

Selbst wenn sie eine Kollegin mit entstellter Gesichts­hälfte miss­trau­isch beäugt: Joanne scheint sich im amphi­bi­schen Zwischen­reich des Schwimm­bads so richtig zu Hause zu fühlen. Hinter dem blauen Tresen hat sie nach ameri­ka­ni­scher Manier ihr Hoch­zeits­bild mit Jimmy aufgehängt, einem impo­santen schwarzen Feuer­wehr­mann. Vom Becken­rand aus leitet sie mittel­alte fröhliche Damen unter bunten Bade­kappen bei der Wasser­gym­nastik an, nach Dienst­schluss nimmt sie ihr tägliches Bad im winter­li­chen See. Zuvor wird sie von ihrer etwa zehn­jäh­rigen Tochter Vicky hinge­bungs­voll mit Melkfett einge­rieben, um die Körper­wärme aufrecht zu erhalten. Vicky ist es auch, die mit einer Stoppuhr die Badezeit der Mutter misst – denn nur ein paar Minuten zu lang im Eiswasser könnten die Schwim­merin in Lebens­ge­fahr bringen.

Stets sind in diesem von der ersten Minute an irri­tie­renden und gefan­gen­neh­menden Film die Elemente in ihrer Doppel­ge­sich­tig­keit präsent: einmal in gezähmter Form wie das Wasser im gefliesten Quader des Schwimm­bads, das andere Mal als poten­tiell tödliche Bedrohung in der freien Natur. Das gilt nicht minder für das Feuer: In der hypno­ti­sie­rend langen Eingangs­szene ist Joanne vor einer Flam­men­wand zu sehen, in einer Gruppe aus fünf jungen Frauen in pail­let­ten­be­stickten Gymnas­ti­kan­zügen. Sind sie die fünf titel­ge­benden Teufe­linnen? Jeden­falls haben sie alle eine Mischung aus Faszi­na­tion und Panik im Blick, und ihre Schreie mischen sich mit dem raffi­nierten Sound­track von Florencia Di Concilio. Diese intensive Szene, die an den promi­nenten Brand in Brian de Palmas Exor­zis­mus­drama Carrie – Des Satans jüngste Tochter (1976) erinnert, wird sich erst am Schluss aufklären.

»Vier Elemente, / Innig gesellt, / Bilden das Leben, / Bauen die Welt«, heißt es in Friedrich Schillers »Punsch­lied«. Wo aber bleibt in Les cinq diables mit der Luft das vierte Element? Sie tritt als Trägerin von Düften und Gerüchen in Erschei­nung und wird Vicky zuge­ordnet. Denn die Tochter von Joanne und dem in sich ruhenden Jimmy verfügt über eine olfak­to­ri­sche Sonder­be­ga­bung: Sie erkennt alles am Geruch. Deshalb sammelt sie von ihrer Umgebung, sei es der Waldboden oder die Crème ihrer Mutter, Duft­proben in Schraub­glä­sern, die sie mit größter Sorgfalt etiket­tiert und heimlich in ihrem Zimmer aufbe­wahrt. Dieses Archiv gibt Vicky, die von der Entde­ckung Sally Dramé mit somnam­buler Selbst­si­cher­heit gespielt wird, Sicher­heit. Denn als »Mischling« mit ausla­dender Haar­pracht wird sie von ihren Mitschü­le­rinnen und -schülern als »Klobürste« gehänselt und als hyper­sen­sible Außen­sei­terin ange­griffen. Halt gibt Vicky die enge, den Vater weit­ge­hend ausschließende Bindung zu ihrer Mutter, ebenso die ruhige Atmo­s­phäre im Eltern­haus. Dieser Rück­zugsort in der dünn besie­delten »France profonde«, dem fran­zö­si­schen Hinter­land, ist ganz in Grau- und Rottönen gehalten – für die Ausstat­tung zeichnet Esther Mysius verant­wort­lich, die Zwil­lings­schwester der Regis­seurin. Kame­ra­mann und Co-Dreh­buch­autor ist Léa Mysius’ Lebens­ge­fährte Paul Guilhaume.

Les cinq diables gehörte letztes Jahr in Cannes zu den meist­be­ach­teten Werken der renom­mierten Reihe Quinzaine des Réali­sa­teurs. Er hat in Frank­reich begeis­terte Kritiken erhalten, unter anderem von dem Parfümeur Alexis Toublanc in dem Online-Magazin »mag.bynez.com«: In Mysius’ »reichem und ambi­tio­niertem Film« erlaube es den Personen ihr Geruchs­sinn, den Ursprung ihrer Existenz zu begreifen, so Toublanc.

2017 hatte die 1989 geborene Léa Mysius, die auch als Dreh­buch­au­torin für Regie­kol­legen wie Claire Denis, André Téchiné oder Jacques Audiard tätig ist, mit Ava debütiert. In diesem Sommer­film geht es ebenfalls um eine innige Mutter-Tochter-Beziehung und um das schwin­dende Augen­licht der puber­tie­renden Titel­heldin, die wahr­schein­lich zum letzten Mal das Meer und die jungen Männer sehen kann. Nach dieser tragisch-faszi­nie­renden Hommage an den Sehsinn am Meer folgt nun also eine noch ausge­fal­le­nere an den Geruchs­sinn in den Bergen.

Als Hoch­be­gabte ist Vicky in ihrem Klein­stadt­kosmos ausge­spro­chen labil und störungs­an­fällig. Diese exis­ten­zi­elle Störung in Gestalt ihrer unbe­kannten Tante Julia (Swala Emati) kommt alsbald über die eindrucks­volle Seebrücke gerauscht, eine ungute, krimi­na­lis­tisch getönte Spannung à la David Lynch verbrei­tend. Jimmy hat nur spora­disch Kontakt zu seiner jüngeren Schwester gehalten, die offenbar nicht nur ein Alko­hol­pro­blem hat. Sofort ist Vickys Miss­trauen geweckt. Sie nimmt von dem Eindring­ling heimlich Geruchs­proben und schreckt bei einer Voodoo-Zeremonie im Garten selbst vor einer toten Krähe als Suppen­zutat nicht zurück.

Doch mit dem Auftau­chen Julias offenbart sich Vickys zweite Sonder­be­ga­bung: Sie fällt plötzlich in Ohnmacht und kann während­dessen in die Zeit vor ihrer Geburt zurück­bli­cken. Dazu sagte die Regis­seurin in einem Interview: »Les cinq diables handelt von dieser exis­ten­zi­ellen Frage: Wie und warum bin ich als ich selbst auf die Welt gekommen. Ich wollte nicht, dass es ein zu ›verkopfter‹ Film würde. Die Wahl des Fantasy-Genres hat es mir erlaubt, auf spie­le­ri­sche Weise vom Mäandern der mensch­li­chen Leiden­schaften zu erzählen, die spek­ta­kulär und angst­ein­flößend zugleich sein können. Ich möchte, dass uns der Film über unsere Gesell­schaft nach­denken lässt, über die Entschei­dungen in unserem Leben, über unsere verlo­renen Illu­sionen und unsere Leiden­schaften.« Während ihrer Absencen erlebt Vicky – und mit ihr die Zuschauerin und der Zuschauer – also das volten­reiche amouröse Vorleben ihrer Eltern. Léa Mysius inte­griert diese Retro-Visionen so geschickt in die sich drama­tisch zuspit­zende Handlung, dass sie weit­ge­hend homogen wirken. Und die Liebe? Sie wird zum lodernden fünften Element dieses außer­ge­wöhn­li­chen Films aus der Tiefe der fran­zö­si­schen Provinz: trost­brin­gend, aufregend und mitunter zerstö­re­risch wie eine Feuers­brunst.

Narben und Talente

Les cinq diables – der neue Spielfilm der außergewöhnlichen französischen Regisseurin Léa Mysius bringt einen Hauch von David Lynch in die französischen Voralpen.

Ein Berg-See, am Ufer stehen eine junge Frau und ihre Tochter. »Sieben Grad« sagt die Tochter, der See ist eiskalt. Trotzdem wird sich Joanne, so heißt die junge Frau, gleich in ihrem Neopren­anzug hinein­s­türzen. 20 Minuten lang, haben beide ausge­rechnet, kann sie die Kälte aushalten. Sie schwimmt, um die Extreme auszu­testen, um sich zu desen­si­bi­li­sieren, sich abzu­härten – nicht nur gegen die Kälte, sondern auch gegen das Unglück des Lebens.

+ + +

Ava hieß 2017 das ganz hervor­ra­gende Debüt der Pariser Regis­seurin Léa Mysius, die schon damit zu einer der inter­es­san­testen Stimmen des jüngeren fran­zö­si­schen Kinos wurde. In wenigen Jahren hat sie auch bereits als Dreh­buch­au­torin von sich reden gemacht: für so erfahrene Kollegen wie Arnaud Desplechin (gleich zweimal: »Les fantômes d’Ismaël« und Roubaix, une lumière, 2019), Claire Denis (Stars at Noon, 2022) und – gemeinsam mit Celine Sciamma – bei Jacques Audiards Film Les Olym­piades, Paris 13e (dt. Wo in Paris die Sonne aufgeht, 2021). Diese Zusam­men­ar­beit allein zeigt schon, wo Mysius steht: Bereits mit Ava schrieb sie sich unmiss­ver­ständ­lich ein in die unver­gleich­liche Tradition des fran­zö­si­schen Autoren­kinos.
In Ava ging es um eine Heran­wach­sende, zugleich stand ein bestimmter mensch­li­cher Sinn, in diesem Fall das Augen­licht im Zentrum. Es ging der jungen Haupt­figur allmäh­lich verloren.
Das scheint ihr Thema zu sein, denn auch in ihrem zweiten Spielfilm geht es wieder sehr um einen spezi­fi­schen Sinn, in diesem Fall aber einen, der filmisch noch schwerer fassbar ist: Der Geruchs­sinn.

+ + +

Eine der beiden Haupt­fi­guren, die Tochter vom Anfang hat eine extrem unge­wöhn­liche Begabung, Gerüche sehr genau zu erkennen und noch in ihren feinsten Nuancen zu beschreiben.

Der Film handelt von diesem Mädchen, noch mehr aber von deren Mutter Joanne. Wieder steht also ein Tochter-Mutter-Verhältnis und wieder eine einzelne Frau im Zentrum, und der Mikro­kosmos ihrer Welt. Eine Frau, die aller­dings etwas älter ist, keine Heran­wach­sende. Sie wird gespielt von Adèle Exar­cho­poulos, die vor fast zehn Jahren mit dem Film Blau ist eine warme Farbe zum fran­zö­si­schen Shooting Star wurde, danach aber nur noch selten und meist in eher schwachen Filmen zu sehen war.
Im Schwimmbad der Stadt gibt Joanne Kurse und trainiert Besucher des Schwimm­bads. Ihr Ehemann ist der aus dem Senegal einge­wan­derte Jimmy, also ein Schwarzer; die Hautfarbe ist wichtig, auch wenn sie nur ganz selten thema­ti­siert wird. Aber gegen Ende des Films wird Vicky, Joannes Tochter von ihren Mitschü­lern gemobbt. Diese Szenen wirken wie ein Fremd­körper, wie eine didak­ti­sche Pflich­tü­bung in einem Film, der von ganz anderem handelt.

Die eigent­liche Haupt­ge­schichte ist eine andere. Sie dreht sich darum, dass die Mutter überhaupt nicht glücklich ist, weil sie eigent­lich nicht den Mann liebt, mit dem sie verhei­ratet ist, sondern die Schwester des Mannes. Und weil diese Liebe unaus­ge­spro­chen dauernd präsent ist, auch wenn sie nicht wirklich thema­ti­siert wird. Hinzu kommt, dass diese Schwester, das Objekt der Liebe, ganz eigene Probleme hat. Sie ist nämlich eine Trinkerin.

+ + +

Les cinq diables spielt in den fran­zö­si­schen Voralpen, der unge­wöhn­liche Titel verweist auf eine dortige Gipfel­kette.
Man begegnet dieser Handvoll Figuren und während man sie begleitet, entfaltet sich die Dynamik zwischen ihnen, entwi­ckelt sich sachte, aber anhaltend.

Dies ist ein Film, der sehr sehr viele gute Einfälle hat. Zu ihnen gehört die Geschichte mit dem Geruchs­sinn. Es gibt eine ganz wunder­bare Szene, in der die Mutter, die es erst gar nicht zu fassen vermag, dies überhaupt richtig entdeckt. Als die beiden nämlich im Wald sind, bei dem See, in dem die Mutter regel­mäßig schwimmt, entdeckt sie irgend­wann, dass die Tochter Gerüche sehr genau und sehr sensibel beschreiben kann. Das testet sie in diesem Waldstück immer weiter aus. Sie verbindet Vicky die Augen. Die Tochter muss die Mutter im Wald nur durch Geruch finden – was ihr auch gelingt.

Diese Szene ist sehr poetisch, ein bisschen phan­tas­tisch, über überhaupt ist dieses Thema das Geruchs­sinns phan­tas­tisch in der Art, wie es behandelt und wahr­ge­nommen wird. So spielt dieser Filme mit Erfah­rungen wie jenen, dass man manchmal über einen Menschen sagt: ich kann dich nicht riechen.

+ + +

Der Film ist a-chro­no­lo­gisch erzählt und springt immer wieder mal zwischen den Zeiten: Aus der Vergan­gen­heit der Figuren wieder in die Gegenwart. Erst im Rückblick sind diese Ebenen besser unter­scheidbar, wenn man sich die Geschichte noch einmal in Ruhe zusam­men­setzt. Es gibt aber ein paar Merkmale, die einem helfen die verschie­denen Zeiten zu unter­scheiden. Wenn man die Figuren genau beob­achtet, kann man erkennen, dass eine Szene früher oder später liegen muss.
Mit anderen Worten: Ganz funk­tio­niert das alles nicht, und als Autor muss ich mich hüten, den Film schön­zu­reden, weil ich ihn mag und mögen will.

Als Zuschauer taucht man ein in ein Netz rätsel­hafter Fami­li­en­bande, zwischen Eltern und Kindern, Geschwis­tern, Freunden. Allmäh­lich entfaltet sich die Dynamik all dieser Menschen. Mysius setzt zugleich stark auf einen Dialog mit dem Über­na­tür­li­chen und auf eine Logik der Enthül­lung von Geheim­nissen über die Vergan­gen­heit.

+ + +

Mysius prak­ti­ziert eine Abkehr vom Natu­ra­lismus und das Eintau­chen ins Phan­tas­ti­sche. Ihr Kino fällt aus dem Rahmen, verlässt die phan­ta­sie­losen Normen und Grenzen, die unseren Alltag bestimmen,

Der Film und seine exzel­lente Kame­ra­ar­beit sind gespickt mit schöner Musik, deren Leich­tig­keit im Gegensatz zu den schweren Themen steht, die nur am Rande behandelt werden, aber vor allem in der Figur von Joannes Mann und später den Kindern der Schule auftau­chen.

Ganz am Ende des Films gibt es ein kleines Rätsel zu lösen. Das kann hier leider nicht verraten werden, dafür sollte man ins Kino gehen. Es lohnt sich: Dieser Film bringt einen Hauch von David Lynch in die fran­zö­si­schen Voralpen.