Everything Everywhere All at Once

USA 2022 · 139 min. · FSK: ab 16
Regie: Dan Kwan, Daniel Scheinert
Drehbuch: ,
Kamera: Larkin Seiple
Darsteller: Michelle Yeoh, Stephanie Hsu, Ke Huy Quan, James Hong, Jamie Lee Curtis u.a.
Jede(r) ist mehr als Eine(r)
(Foto: Leonine)

Alltag im Multimetaverse

Alltag kann schon im normalen Leben tödlich (langweilig) sein. Dan Kwan und Daniel Scheinert zeigen, dass das im Multiverse nicht viel anders ist

»Morty: Rick, what about the reality we left behind?
Rick: What about the reality where Hitler cured cancer? Just don’t think about it, Morty.«
– Rick and Morty, Staffel 1, Folge 6: Rick Potion No. 9

Eigent­lich ist das gar nicht mehr über­ra­schend, dass der dröge Alltag nun auch im Multi­verse, einer Art expo­nen­ti­eller Ausufe­rung des Metaverse, ange­kommen ist. Ich weiß auch gar nicht, ob eine Begriffs­ab­gren­zung überhaupt noch notwendig ist, seit Neal Stephenson das Metaverse in seinem Science-Fiction-Roman Snow Crash 1992 einge­führt hat, in dem Menschen als program­mier­bare Avatare mitein­ander und Software-Agenten in einem drei­di­men­sio­nalen virtu­ellen Raum inter­agieren. Denn seitdem ging es auf und ab, hat sich die alte Paral­lel­wel­ten­idee der goldenen Jahre der Science Fiction (und Philip K. Dicks), die heute Multi­verse-Idee genannt wird, auch deshalb mehr und mehr im Meta­versum verloren, weil das Digitale mehr und mehr Realität geworden ist und Filme wie The Matrix, Spiel­bergs Ready Player One, der animierte Spider-Man: Into the Spider-Verse sowie der »reale« Spider-Man: No Way Home und nicht zuletzt eine so bahn­bre­chende Serie wie Rick und Morty den Gedanken, dass es mehr als eine Realität und damit mehr als eine Persön­lich­keit unseres selbst gibt, sehr real und über­zeu­gend und schwin­del­erre­gend umgesetzt haben. Und weil natürlich Spiele wie Fortnite, in dessen virtu­ellen Räumen man kürzlich sogar für die Ukraine spenden konnte, zeigen, dass zumindest die jüngeren Genera­tionen schon längst im Metaverse ange­kommen sind und damit klas­si­sche Multi­verse-Erfah­rungen sammeln können.

All diese Beispiele sind in ihrer erzäh­le­ri­schen Grund­hal­tung auf die eine oder andere Art Helden­reisen und recht weit von unserem alltä­g­li­chen Erleben entfernt. Einen etwas anderen und eben auf unserem Alltag aufbau­enden Einstieg bieten Dan Kwan und Daniel Scheinert in ihrem Gedan­ken­spiel-Ungetüm Ever­ything Ever­y­where All at Once, in dem sie die Multi­me­ta­verse-Idee auf ihre Alltags­taug­lich­keit prüfen. Das mag sich ein wenig wie die Grundidee ihres Debüt-Films Swiss Army Man (2016) anhören, als sie auf so bizarre wie poetische Weise versuchten, die Grenzen der Einsam­keit auszu­loten, indem sie einen Toten zum Leben erweckten. In ihrem neuen Film ist es nicht viel anders, auch hier werden die Toten zum Leben erweckt, sind es aber die Toten in uns selbst, all die vielen Persön­lich­keiten, die jeder in uns ausprägen könnte, würde er nur in andere Situa­tionen kata­pul­tiert werden oder mit neuen, ganz anderen Menschen zusam­men­treffen.

Oder halt wie in Ever­ything Ever­y­where All at Once die Wasch­sa­lon­be­sit­zerin Evelyn Wang (Michelle Yeoh), die aus ihrem unlieb­samen Alltag mit einem passiven Mann, einem fordernden Vater und einer abtrün­nigen Tochter ganz plötzlich die Chance erhält, ihre Realität wie Schuhe zu wechseln, so wie der kleine Muck seine Zauber­pan­tof­feln anzog, um von dannen zu eilen. Erst ohne und dann mit zuneh­mender Kontrolle wechselt Evelyn von einem Mosaik des Multi­verse ins nächste, um über eine rausch­ar­tige Katharsis zu erkennen, dass alles und dann auch nichts zusam­men­hängt, dass immerhin aber jede neue Situation, also jede neue Paral­lel­welt, um ein wenig altmo­disch zu klingen, auch einen neuen Menschen aus ihr macht, einen Menschen, der aller­dings ebenfalls gefährdet ist, nur auf immer wieder andere Art und Weise. Dass es dabei wie in den oben erwähnten Action-Filmen nicht ohne Kampf­seg­mente geht, ist irgendwie schade, aber mit Michelle Yeoh als zentraler Gestalt haben Kwan und Scheinert immerhin eine der bekann­testen weib­li­chen Filmstars im Action- und Martial-Arts-Kino Ostasiens der 1980er und 1990er Jahre ins Boot geholt, die durch ihre Rolle als chine­si­sche Agentin in James Bond 007 – Der Morgen stirbt nie 1997 den Durch­bruch zum inter­na­tio­nalen Star schaffte und später zunehmend ins Charak­ter­fach wechselte.

Diese charak­ter­liche Flui­di­zität kann Yeoh dann auch voll und ganz in Ever­ything Ever­y­where All at Once ausspielen, aller­dings werden im Laufe der 139 Minuten gerade diese 139 Minuten und die vielen charak­ter­li­chen Möglich­keiten das Problem des Films. Denn mit jedem Sprung in einen neuen Charakter, eine neue Welt, die natürlich auch immer ein neues Film-Genre ist, bleibt weniger Zeit für die Entwick­lung der Charak­tere, denn wir haben ja nicht dementspre­chend viele Leben Zeit, sondern mit jedem Sprung im Grunde ein Leben weniger. Das führt dazu, dass am Ende eigent­lich nur das Wasch­salon-Narrativ ganz auser­zählt werden kann, dass alle anderen »Besuche« mehr und mehr zu lang­wei­ligen »Stip­vi­siten« veröden und in einem zunehmend kako­pho­ni­schen Strudel aus orches­tralem und visuellem Bollwerk unter­gehen.

Das ist zwar immer wieder faszi­nie­rend anzusehen und anzuhören, nervt aber immer wieder auch und wäre mit einer halben Stunde Filmzeit und ein paar Leben weniger wohl ein erheblich besserer Film gewesen. So ist es immerhin ein irrer, ins Expe­ri­men­telle neigender, psyche­de­li­scher Trip, nach dem man ein wenig erschöpft und frus­triert und nicht anders als Rick zu Morty nach dessen Entde­ckung des Multi­me­ta­verse sagen möchte: »Just don’t think about it, Morty.« Es ist die Zeit nicht wert.