Drive My Car

Doraibu mai ka

Japan 2021 · 177 min. · FSK: ab 12
Regie: Ryûsuke Hamaguchi
Drehbuchvorlage: Haruki Murakami
Drehbuch: ,
Kamera: Hidetoshi Shinomiya
Darsteller: Hidetoshi Nishijima, Tôko Miura, Reika Kirishima, Masaki Okada, Park Yurim u.a.
Theaterproben mobil gemacht
(Foto: Rapid Eye Movies)

Tschechow reloaded

In Ryūsuke Hamaguchis eigenwilliger Murakami-Adaption Drive My Car verschmelzen russische Provinz der Jahrhundertwende und das moderne Japan zu einem spannungsvollen Wort-Bild-Kunstwerk

»Mein Mädchen, wie schwer mir zumute ist! Oh, wenn du wüsstest, wie schwer mir zumute ist!«

(Tschechow, »Onkel Wanja«)

»Asked a girl what she wanted to be
She said, ›baby, can’t you see
I want to be famous, a star on the screen
But you can do something in between‹«

Baby, you can drive my car
Yes, I’m gonna be a star
Baby, you can drive my car
And maybe I'll love you

(Beatles, Drive my car)

Nein, nach dem wunder­vollen Yesterday kein neuer Beatles-Film. Der neue Film von Ryūsuke Hamaguchi, der Anfang des Jahres für Wheel of Fortune and Fantasy auf der Berlinale mit dem Silbernen Bären ausge­zeichnet wurde und mit Drive My Car in Cannes den Preis für das Beste Drehbuch gewann, hat Kurz­ge­schichten aus dem Erzähl­band »Von Männern, die keine Frau haben« von Haruki Murakami zur losen Vorlage, darunter auch die titel­ge­bende Geschichte. Was er als Dreh­buch­autor, zusammen mit Takamasa Ōe, daraus gemacht hat, ist aller­dings etwas komplett anderes.

Eigent­lich spielt ein Auto die Haupt­rolle, ein roter Saab 900 Turbo. Es wird viel gefahren in diesem Film, durch ein nicht immer attrak­tives Japan, auch wenn es sich nicht um ein klas­si­sches Roadmovie handelt. Der Regisseur und Schau­spieler Yūsuke Kafuku (Hidetoshi Nishijima) liebt den Wagen, und auf seinen langen Fahrten hört er Thea­ter­texte, die seine Frau Oto (Reika Kirishima) ihm auf Kassette gespro­chen hat. So lernt er die Stücke besser kennen, aber auch seine Rollen. Mit den Auto­fahrten verknüpfen sich die vielen Text­pas­sagen aus Anton Tsche­chows »Onkel Wanja«, dem zweiten Schwer­punkt des Filmes.

Drive My Car ist ganz entschieden ein Thea­ter­film. Das Inein­an­der­greifen von Sätzen aus dem Tschechow-Stück und den Lebensthemen von Yūsuke verleiht Hama­gu­chis ruhigem Werk eine faszi­nie­rende poetisch-emotio­nale Konzen­tra­tion. Man kann dabei zusehen, wie aus den Trauben der Worte durch die Wein­presse tragi­scher Schick­sals­schläge und den Reifungs­pro­zess der Verar­bei­tung ein schwerer Lebens­wein entsteht. Manche Passagen werden sogar zweimal gespro­chen und zeigen in den jeweils neuen Kontexten, wie die eigene Erfahrung des Schau­spie­lers die Beziehung zu den Texten und damit ihre Wirkung verändert. Dies wird besonders in den Schluss­sätzen der Sonja und einer Passage Wanjas über die eheliche Treue deutlich.

Zu Beginn sehen wir ein scheinbar glück­li­ches Ehepaar im heutigen Tokio, er Schau­spieler und Regisseur, sie Dreh­buch­au­torin fürs Fernsehen, beide erfolg­reich, mit einem aktiven Sexleben. Während oder nach dem Sex erzählt Oto das jeweils aktuelle Drehbuch und entwi­ckelt es weiter, vergisst dann alles beim Schlafen, so dass ihr Yūsuke am nächsten Morgen alles noch einmal erzählen muss. Doch es liegen auch Schatten auf der Beziehung: sie haben eine Tochter verloren, Oto ist untreu, was Yusuke durch einen Zufall entdeckt, aber nicht thema­ti­siert. Obendrein wird bei Yūsuke auch ein Glaukom diagnos­ti­ziert, nachdem er aufgrund seines einge­schränkten Sicht­feldes einen Unfall verur­sacht hat. Eine Metapher für die blinden Flecken in seiner Ehe? Als er eines Tages nach Hause kommt, am Morgen hatte ihn Oto um ein beson­deres Gespräch gebeten, findet der Regisseur sie tot auf. Hirn­blu­tung. Ein Schock! Nach der Toten­feier macht das Drehbuch dann einen Zeit­sprung und kurio­ser­weise werden erst jetzt, nach 40 Minuten, die Credits einge­blendet. Es ist, als ob ein zweiter Film beginnt.

Zwei Jahre nach dem Tod seiner Frau sehen wir Yusuke in Hiroshima ankommen, wo er für ein Thea­ter­fes­tival »Onkel Wanja« von Tschechow auf die Bühne bringen soll, dieses Mal aller­dings nur als Regisseur, denn die tragische Rolle Wanjas will er nicht mehr auf sich nehmen. Natürlich fragt sich der Zuschauer, wie er den Tod seiner Frau verar­beitet hat, wie das tragische Geschehen seine Arbeit beein­flusst, was dem Folgenden eine unter­grün­dige Spannung verleiht.

Aus Versi­che­rungs­gründen darf er seinen Saab nicht selbst zu seinem Schlaf­quar­tier fahren, und so hat die junge Misaki (Toko Miura), die so alt ist wie seine verstor­bene Tochter jetzt wäre, die anspruchs­volle Aufgabe, ihn von ihren Fahr­künsten zu über­zeugen. Schnell gewöhnt sich Yūsuke an die gemein­samen Fahrten und langsam beginnen sie ein vertrau­ens­volles Verhältnis aufzu­bauen und sich einander immer mehr zu öffnen. Auch Misaki hat ein tragi­sches Schicksal zu verar­beiten, auch sie plagt sich mit Schuld­ge­fühlen und weicht einer Neuori­en­tie­rung ihres Lebens durch endloses Fahren eigent­lich nur aus. Als Yūsuke sie bittet, ihn zu einem Ort in Hiroshima zu bringen, der ihr viel bedeutet, fährt sie ihn zu einer Müll­ver­ar­bei­tungs­fa­brik. Ist diese Metapher etwas zu offen­sicht­lich? Jeden­falls erinnert die Szene an eine der Episoden in Manifesto mit Cate Blanchett und über­rascht als untou­ris­ti­sche und unty­pi­sche Ortswahl für Hiroshima.

Als der Regisseur die Schau­spieler auswählen soll, merkt er, dass sich unter ihnen auch der vermeint­liche Liebhaber seiner Frau befindet, der gut ausse­hende junge TV-Star Kōji Takatsuki (Masaki Okada). Ist jetzt die Stunde der Rache gekommen? Inter­es­san­ter­weise bildete sich Yūsuke bisher ein, von Eifer­sucht frei zu sein, weil er sich der Liebe seiner Frau – trotz der Seiten­sprünge – immer sicher war. Diese Sicht der Dinge gerät ins Wanken.

Ausführ­lich werden nun die Proben zur Auffüh­rung des Tschechow-Klas­si­kers gezeigt, die Span­nungen zwischen Regie und Spielern, die endlos schei­nenden Lese­proben, wobei sich erweist, dass ein Fokus des Filmes auch auf der Faszi­na­tion unge­wöhn­li­cher Theater-Insze­nie­rungen viel­ge­spielter euro­päi­scher Klassiker wie Becketts »Warten auf Godot« oder »Onkel Wanja« liegt. Regisseur Yūsuke Kafuku insze­niert die Stücke mehr­spra­chig, wobei die Schau­spieler teilweise nicht die Sprache der anderen verstehen, auch eine Gehörlose spielt mit. Besonders eindrucks­voll ist dabei die Einbe­zie­hung der stummen Lee Yoon-a in der tragenden Rolle der Sonja. Park Yoo-Rim spielt diese Rolle umwerfend intensiv und bewegend, ihr gehören auch die zentralen Schluss­sätze des Thea­ter­stücks, die das Herzstück der Aussage bilden: Auf die Worte »Wenn du wüsstest, wie schwer mir ist« von Wanja antwortet Sonja in Gebär­den­sprache, hinter ihm stehend: »Was kann man machen. Wir müssen leben. […] Geduldig werden wir die Prüfungen ertragen, die das Schicksal uns bringt. […] Und wenn unsere letzte Stunde kommt, werden wir still gehen. […] Und im Jenseits werden wir sagen, dass wir gelitten haben, dass wir geweint haben, dass das Leben schwer war. […] Und Gott wird Erbarmen mit uns haben. […] Und dann endlich werden wir ausruhen. […]« Sie spricht diesen Appell, ein schweres Leben in Demut und Würde zu akzep­tieren, anstatt aufzu­be­gehren und zu revol­tieren, für alle Prot­ago­nisten des Filmes, die allesamt Grund genug hätten, am Leben zu verzwei­feln, sich dem Leiden zu ergeben, das Weiter­ma­chen zu verwei­gern. Dass dies nur gelingen kann, wenn man sich in die Arme des mensch­li­chen Trostes fallen lassen kann, sich sein Leiden gegen­seitig offenbart und wenn man zudem eine Aufgabe hat, die einen mit Sinn erfüllt, dies zeigt uns Ryūsuke Hamaguchi in berüh­render Weise in seiner Doppel­kom­po­si­tion aus Theater und Leben.

Der Film ist lang (fast drei Stunden) und fordert ein inten­sives Einlassen auf die Texte; er fließt trotz drama­ti­scher und emotio­naler Ereig­nisse und über­ra­schender Wendungen eher ernst und ruhig dahin, was mit der oft fast starr anmu­tenden Mimik der Prot­ago­nisten korre­spon­diert; die sparsam einge­setzte Musik (Eiko Ishibashi) mit ihren teils jazzigen, manchmal eher sphä­ri­schen Klängen lässt vieles im Unge­fähren, ähnlich wie in vielen Murakami-Werken, so dass wir uns als Zuschauer auf den langen Fahrten durch das meist graue Japan dem langsamen, behut­samen Prozess der Verar­bei­tung und Neusor­tie­rung der Gefühle hingeben können, unter­stützt durch eine ebenfalls ruhige, fast konven­tio­nelle Kame­rafüh­rung (Hidetoshi Shinomiya).

Tod, Treue, Leiden und Lebens­sinn. Ryūsuke Hamaguchi erinnert mit dieser filmi­schen Theater-Insze­nie­rung von »Onkel Wanja« daran, dass Tsche­chows Themen schon einmal zeitlos gültig verar­beitet wurden und im Korb des kultu­rellen Gedächt­nisses wie frisches Obst bereit liegen.

Im Jahr 2022 ist Drive My Car Japans Kandidat für eine Oscar-Nomi­nie­rung in der Kategorie Bester inter­na­tio­naler Film. Ein schwerer Schlag für die Konkur­renz und eine Liebes­er­klä­rung an das euro­päi­sche Theater.

Die unsichtbare Dritte

Aus dem Reich der Toten: Drive My Car von Ryûsuke Hamaguchi

Auch dies ist, kurz vor Schluss noch einmal einer der aller­besten Filme des Jahres! Überhaupt ist der Japaner die eine große Neuent­de­ckung dieses merk­wür­digen gestörten Kino­jahres 2021. Sein dritter Spielfilm Wheel of Fortune and Fantasy lief im Februar bei der virtu­ellen Berlinale, sein zweiter Asako I. & II. im Wett­be­werb von Cannes 2018.
Hamaguchi, Jahrgang 1978, ist sicher­lich ein Name, den man sich merken sollte. Bereits in seinem vierten Film zeigt er eine große künst­le­ri­sche Reife und die komplette Beherr­schung des Insze­nie­rens, und einer Regie­sprache, in der das auf sehr spezielle Weise ellip­tisch konstru­ierte Geschehen von einer nüch­ternen, gemes­senen, sehr ökono­mi­schen, zugleich nie nur »effi­zi­enten«, stets formal eleganten Regie umfasst wird, die nach und nach ihre Kraft offenbart.

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Eine Geschichte der blinden Flecken und der Melan­cholie. Am Anfang sieht man ein Paar. Nach dem Liebesakt teilen beide mitein­ander einen quasi-rituellen intimen Moment: Die Frau, eine Autorin, denkt sich gerne Geschichten aus. Sie erzählt sie ihrem Mann: Ihre Worte werden lebendig und verflechten sich mit dem Augen­blick. Es geht dabei um blinde Flecken der Figuren. So entspinnt sich ein Spiel aus Schicksal und Phantasie, das zu einem mit der Erzählung des Films verwo­benen Akt wird, zu einem imaginären Faden, der alle Schick­sale hier verbindet.
In diese intimen Momente schlei­chen sich auch Melan­cholie und der Hauch des Todes ein. Zunächst nur in die erzählten Geschichten. Oto vergisst die Geschichten, die sie erfindet, sofort wieder; sie lässt sie sich von ihrem Mann Yusuke, der eigent­li­chen Haupt­figur des Films später erzählen. Yusuke, Thea­ter­re­gis­seur und Auto­lieb­haber, ist etwa Mitte 40.
Der Hauch des Todes kommt auch durch die Erin­ne­rung an die Tochter der beiden, die vor vielen Jahren starb, und deren Tod die Beziehung prägte, die Eltern zu »Über­le­benden« machte. Jeder ist auf seine Art blind für die Zukunft, für das Leben.
Eines Tages entdeckt er zufällig, dass seine Frau ihn betrügt, aber er konfron­tiert sie nicht damit. Als Oto einige Zeit später dann plötzlich stirbt, mischt sich die Last dieser unge­klärten Ereig­nisse schmerz­haft mit der des Verlusts. Viel­leicht hat wer seine gestor­bene Frau nie wirklich verstanden. Um so schmerz­hafter arbeitet er sich am Verlust ab.
Zugleich ist dieser erste Teil fast nur der Prolog zur eigent­li­chen Geschichte und den wahren Prot­ago­nisten.

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Einige Zeit später arbeitet Yusuke an einer Insze­nie­rung von Tsche­chows »Onkel Wanja« bei einem Thea­ter­fes­tival in Hiroshima: Die Orga­ni­sa­toren des Theaters beauf­tragen eine junge, recht schüch­terne Mitar­bei­terin namens Misaki, die aber sehr gut Auto fahren kann, als seine Fahrerin. Denn Yusuke leidet seit einiger Zeit unter einer Sehschwäche, blinden Flecken anderer Art, die es ihm verbietet, weiterhin selbst seinen doch so geliebten Wagen, einen alten knall­roten Saab 900, den dritten Haupt­dar­steller des Films, zu steuern.

Diese langen Fahrten der beiden Fremden bilden das drama­tur­gi­sche Gerüst der zweiten Hälfte des Films. Zwischen der Chauf­feurin und dem Regisseur bildet sich eine stille unge­wöhn­liche Freund­schaft, die sich in kurzen persön­li­chen Gesprächen und kleinen Abste­chern, in kurzen gegen­sei­tigen Hilfe­stel­lungen ganz allmäh­lich, von Fahrt zu Fahrt, zu einer neuen Liebe entwi­ckelt. Zudem auch Misaki ganz eigene Traumata aufzu­ar­beiten hat. Beide unter­nehmen Ausflüge, bei denen natürlich auch Hiroshima, ein für die japa­ni­sche Geschichte und nicht nur sie, symbo­li­scher Ort, eine zentrale Rolle spielt.

Dazu kommt Tschechow. Denn während Yusuke zum Theater gefahren wird, arbeitet er; das heißt, er rezitiert Tsche­chows Text, den er probt, wie ein Mantra, im Duett mit der Stimme seiner Frau, die er auf einer Audio­kas­sette aufge­nommen hat, und die so, als Tote, unsichtbar anwesend bleibt.
So mischt sich in die Intimität zwischen der jungen Chauf­feurin, die ungefähr so alt ist, wie Yusukes Tochter heute wäre, auch die Intimität dieser toten Tochter, und ihrer der toten Mutter.

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Was kompli­ziert und verwir­rend klingt, ist im Film geschmeidig, elegant insze­niert und unglaub­lich verfüh­re­risch insze­niert. Und mit viel Humor. Ein stiller Gefühls­thriller, bei dem es im Kern um das Geschich­ten­er­zählen geht. Und um das Verhältnis der Gefühle zu diesen Geschichten und zum Erzählen.

Dieser Film basiert auf einer gleich­na­migen Kurz­ge­schichte von Haruki Murakami. Zugleich intel­li­gent und sinnlich verwebt Regisseur Ryusuke Hamaguchi in fast drei Stunden eine Handlung über Sex und Tod, die zugleich eine Reflexion über die Rolle des Theaters ist, über die Macht der Worte und der Darstel­lungs­kunst – nicht nur in der sprach­li­chen Vielfalt der Schau­spieler auf der Bühne, sondern auch in der Über­set­zung der Gebär­den­sprache, die von einer der Schau­spie­le­rinnen verwendet wird.
Gesten und Schweigen, Phantasie und Vorahnung fließen inein­ander. Das Ergebnis ist eine Reflexion über die Liebe, die Treue »zum Text« und über das Bedürfnis, sich über die Sprache hinaus zu verstehen.

Der rote Saab 900 stammt aus der selben anderen analogen Ära, aus dem auch die Tonkas­setten kommen. »Made­leines« aus der kollek­tiven Vergan­gen­heit. Drive My Car bündelt solche zu einem Roadmovie der Seele, der durch die dunklen Ecken unseres Geistes führt, in denen der Regisseur mit den Rhythmen von Sprache und Musik spielt und immer aus der Distanz agiert.

Die Verar­bei­tung der Trauer bringt die Menschen, die Über­le­benden einander näher; und so strecken sich, in Anlehnung an den japa­ni­schen Regisseur Ozu, die Hände von Kafuku und Misaki, während sie jeweils eine Zigarette umgreifen, in einer synchronen Bewegung vom Autodach in den Nacht­himmel, die von Verbun­den­heit und einem gemein­samen Gefühl spricht.

Die Reise zwischen dem Realen und dem Imaginären, zwischen Darstel­lung und Reflexion, kommt zu einer Art Abschluss: die Konfron­ta­tion mit dem Verlust, das wieder­ge­fun­dene Leben. Mit dem Wissen um die unver­meid­li­chen, undurch­schau­baren blinden Flecken.