USA/GB/China/S 2021 · 112 min. · FSK: ab 16 Regie: Paul Schrader Drehbuch: Paul Schrader Kamera: Alexander Dynan Darsteller: Willem Dafoe, Oscar Isaac, Tye Sheridan, Tiffany Haddish, Ekaterina Baker u.a. |
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Zählen, um zu überleben - Oscar Isaac als William Tell | ||
(Foto: Weltkino) |
»We live as we dream – alone. While the dream disappears, the life continues painfully.« – Joseph Conrad, Heart of Darkness
»Loneliness has followed me my whole life. Everywhere. In bars, in cars, sidewalks, stores, everywhere. There’s no escape. I’m God’s lonely man.« – Travis Bickle in Taxi Driver
Es ist faszinierend, wie unterschiedlich ein ähnliches Thema filmerzählerisch und -ästhetisch erschlossen werden kann. Mehr noch, wenn zwei Filme so zeitnah nacheinander starten wie Paul Schraders The Card Counter (3.3.2022) und Andreas Dresens auf der diesjährigen Berlinale auch mit Preisen bedachter Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush (28.4.2022). Beide Filme beschäftigen sich mit der Rechtlosigkeit und den an Gefangenen begangenen Verbrechen in amerikanischen Gefangenenlagern der Post-9/11-Zeit. Dresen fokussiert auf ein deutsches Guantanamo -Opfer und explizit auf dessen Mutter, die ihrem Sohn rechtlich beizustehen versucht, Schrader stellt das gleichfalls traumatisierte Täterumfeld von Abu Ghraib ins Zentrum. Dresen schwankt zwischen Drama und deutscher Komödie unentschlossen hin und her, garniert abstoßende und zu Recht kritisierte Lokal- und Weltpolitik mit Klischee und plumpem TV-Witz, der selten witzig ist und kaum Biss hat und am Ende eigentlich nur eine beunruhigende Frage aufwirft: was hätte ein amerikanischer Regisseur wie Steven Soderbergh damit gemacht, der mit Erin Brockovich ja einen vergleichbaren Stoff umgesetzt hat. Oder halt Paul Schrader.
Anders als Dresen entscheidet sich Schrader für einen Film aus einem Guss, nichts zerfällt hier, sondern vibriert unter der Kraft von Schraders Inszenierung, der auf der Oberfläche klassisches Genre anbietet, einen Spielerfilm. Das erinnert zu Anfang noch stark an Martin Scorseses Die Farbe des Geldes, in der Paul Newman und Tom Cruise ein ähnlich ungleiches Vater-Sohn-Paar abgeben, wie es in Schraders Card Counter für Wilhelm Tell (Oscar Isaac) und Cirk (Tye Sheridan) angelegt ist. Doch statt in der Welt des Pool Billards befinden wir uns bei Schrader in der des Pokers, denn Tell ist nach ein paar Jahren Militärgefängnis zu einem Spieler geworden, der das Kartenzählen souverän beherrscht. Er zieht von Stadt zu Stadt, von Casino zu Casino, übernachtet aber nicht in den Casinohotels, sondern mietet in der Nähe günstige Motelzimmer an und unterliegt auch sonst Ritualen, die seine Traumatisierung erahnen lassen. Eines Tages wird er von dem jungen Cirk angesprochen. Dessen Vater folterte zusammen mit Major John Gordo (Willem Dafoe) Gefangene in Abu Ghraib, und landete genau wie William, der ebenfalls unter Gordo diente, dafür im Gefängnis, nahm sich jedoch danach das Leben. Cirk möchte Gordo, der damals ungeschoren davonkam, zur Strecke bringen. William, der weiß, wie Gewalt korrumpiert, versucht das Unheil aufzuhalten und bietet stattdessen Cirk an, mit ihm zu reisen, und gemeinsam planen sie, die World Series of Poker in Las Vegas zu gewinnen.
Ähnlich wie in den großen Pokerfilmen der letzten Jahrzehnte, etwa Aaron Sorkins tollem Molly’s Game (2017), Casino Royale (2006), Richard Donners und Mel Gibsons Maverick (1994) und einem Klassiker wie The Cincinnati Kid (1965), lernen wir auch hier schnell die Spielregeln, Risiken und Nebenwirkungen des Pokerns kennen und worauf es ankommt, um damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Doch schon schnell wird deutlich, dass für Schrader das Spiel nicht allein im Zentrum steht, sondern immer mehr die Charakterstudie von Tell ins Zentrum rückt. Und das, was ein traumatisiertes Leben ausmacht, das über strenge Regeln und Reglementierungen nicht nur im Pokerumfeld versucht, so etwas wie Normalität zu erreichen. Diese Gratwanderung wird von Oscar Isaac mit präzise kontrollierter Wucht interpretiert, sei es in der privaten Leere seiner Motel-Zimmer oder den öffentlichen Casino-Auftritten.
Gleichzeitig bettet Schrader zunehmend Flashbacks von Folterszenen ein, die in ihrer hyperreal-surrealen Ästhetik an Egoshooter-Spiele erinnern und von einem wummernden Heavy-Metal-Soundtrack unterlegt sind, der aber auch tatsächlich Teil des Folterszenarios der amerikanischen Armee war. Schrader spielt diese Erinnerungen und Tells Versuche, sie zu kontrollieren, so dezidiert gegen den kontrollierten Spieleralltag aus, dass The Card Counter schon sehr schnell in mehrere Filme zerfällt – im Grunde nicht viel anders als bei Dresen. Und so vorhersehbar Dresens Plot ist, so ist er das auch bei Schrader. Allerdings gelingt es Schrader, seine Fragmente, nämlich Spielerfilm, Kriegsfilm, Rache- und Coming-of-Age-Elemente mit einer ähnlichen Konzentration zu zügeln wie Tell seine Karten zählt, um mit ihnen am Ende zu gewinnen.
Denn den Trumpf, den Schrader immer wieder ausspielt, ist der des Bluffens. Es geht hier nicht um das Ziel, sondern den Weg und der hat fast schon meditativen Charakter. Schrader bricht in diesem Sinn mit jeder Erwartungshaltung, die der Zuschauer entwickelt. Befindet er sich in einem Moment noch in einem klassischen Spielerfilm, der ähnlich packend erzählt wird wie das Schachspiel im Damengambit oder den oben erwähnten Poker-Klassikern, lässt Schrader diesen Ansatz auch gleich wieder fallen. So häutet sich Schraders Film gleich mehrere Male und zitiert damit auch sein eigenes Werk, angefangen vom Drehbuch für Scorseses Taxi Driver (1976) bis zu seinem letzten preisgekrönten Werk First Reformed (2017). Alle schraderschen Helden, diese in klaustrophobischen gesellschaftlichen Räumen mal lauter und leiser heulenden, sich zu befreien suchenden Wölfe der Einsamkeit, ziehen in The Card Counter vorbei, bevölkern ihn wie Gespenster, um schließlich in einem kammerspielartigen Duell gegeneinander anzutreten und mit einer Schlusssequenz zu enden, die fast schon buddhistischen Charakter hat. Aber dennoch und nicht nur durch die Folterszenen und die Darstellung militärischer Korruption weiterhin politisch Stellung bezieht und auf so unheimliche wie ernüchternde Weise deutlich macht, dass jeder Täter eines Krieges am Ende und vor allem dann in Friedenszeiten Opfer sein wird.
Das ist in seiner Verdrechselung von alten und neuen Motiven seines Œuvres für einen Altmeister wie Schrader schon fast so etwas wie ein Schwanengesang, doch der ist so lebendig, wild, politisch und zärtlich und gleichzeitig so kongenial kontrolliert, dass es schon ein fliegender Wolf sein muss, der hier sein großes und hoffentlich nicht letztes Lied angestimmt hat.