»Wir sind nicht China!« |
![]() |
|
Torsten Frehse, Geschäftsführer des Filmverleihs »Neue Visionen« | ||
(Foto: Torsten Frehse) |
Seit 1997 ist Torsten Frehse, geboren 1973, Geschäftsführer des von ihm gemeinsam mit Wulf Sörgel gegründeten Berliner Filmverleihs Neue Visionen. Zuvor arbeitete Frehse als Disponent und Geschäftsführer für verschiedene Kinobetriebe. Nach 25 Jahren ist Neue Visionen einer der wichtigsten und größten Arthouse Filmverleihe in Deutschland. Seit einigen Jahren ist Frehse auch Vorstandsmitglied des unabhängigen Film-Verleiherverbandes »AG Verleih«.
Das Gespräch führte Rüdiger Suchsland
artechock: Wie geht es eurem Verleih »Neue Visionen«, und wie geht es aus deiner Sicht überhaupt dem Kino, seitdem die erste Phase der Corona-Lockdowns im vergangenen Sommer vorbei war, und die Kinos wieder öffneten?
Torsten Frehse: Das, was uns Verleiher fertig macht, ist die Unplanbarkeit, die Kurzatmigkeit und Unsicherheit der Situation. Jeder Kinostart ist ein großes Investment. Das kann bei »Neue Visionen« auch mal eine halbe Million oder mehr sein.
Wir sind während der gesamten Pandemie mit drei Filmen gegen den Baum gefahren. Und natürlich gibt es die Angst, dass uns mit dem nächsten Film so etwas wieder passiert. Das prägt einen. Wir sind
als »Neue Visionen« zwar ein recht stabiles Unternehmen – es wird uns nicht kaputtmachen – aber neben dem eigentlichen Pandemiegeschehen habe ich anderes beobachtet, was mich besonders erschüttert hat: Man kann auf bestimmte Sachen nicht mehr vertrauen. Auf die ich jedenfalls zuvor vertraut habe: Ich habe den Politikern vertraut, dass es tatsächlich Öffnungen geben wird, wenn ausreichend Leute geimpft sind – zumindest für diejenigen die geimpft sind. Insofern
haben mich der nächste Lockdown und die extremen Einschränkungen für das Kino im November 2021 auch sehr unvorbereitet getroffen. Das kam so plötzlich, dass wir überhaupt keine Zeit hatten, darauf zu reagieren oder uns etwa vorher darauf einzustellen. Das war sehr hart.
Zumal es ja nicht nur um den Verleih und die dort Beschäftigten geht, sondern auch um die ganzen Talente unter den Filmemachern Filmemacherinnen – was da an Arbeitskraft und Energie verloren ging! Das ist
fast das größere Problem, das einen auch psychologisch fertig macht.
An und für sich ist der Kinomarkt schon ein spekulatives Geschäft. Aber jetzt ist eine Größenordnung an Spekulativem hinzugekommen, die die normale Arbeit fast unmöglich macht.
artechock: Du hast früher selber Kino gemacht, du bist auch mit vielen Kinobetreibern aus ganz Deutschland befreundet. Ihr arbeitet mit denen ja auch zusammen. Ich hatte den Eindruck, dass die Kinos grundsätzlich besser durch die Pandemie gekommen sind, weil sie auch von der öffentlichen Hand viel, viel besser behandelt wurden, als die Verleiher. Weil sie als Kulturort angesehen und wertgeschätzt wurden, die Verleiher eher als eine normale Vertriebsagentur, als Händler betrachtet wurden.
Frehse: Naja, es gab vom BKM auch Maßnahmen für Verleiher. Das kann nicht für jeden alles ausgleichen, für einige kleinere war es ein sehr guter Ausgleich, für einige größere nicht so sehr. Es gab dann auch noch andere Hilfen.
Ich denke, dass es umgekehrt auch für die Kinos zwar öffentlich Unterstützung gab, aber die Folgen trotzdem schlimm sind: Mir kommen viele Maßnahmen in Bezug auf das Kino übertrieben vor.
Und ich habe Angst,
wenn ich sehe, wie viele Pandemie-Maßnahmen auf das Kino wirken. Ich habe Angst, dass dies vielen Menschen nachhaltig das Kino verdirbt. Wenn ich allein sehe, wie kompliziert es ist, ins Kino hinein zu kommen. Wie lange es dauert. Weil es sehr viele Kontrollen gibt.
Ich bin sehr dankbar, dass in Berlin jetzt immerhin die Kontaktverfolgung offiziell aufgegeben wurde. Wir haben ja schon lange geahnt, dass diese Kontakte nicht richtig verfolgt werden konnten, und dass diese ganzen Daten
auch nicht viel genutzt haben. Für die Kinos war es aber viel Aufwand, allein diese ganzen Daten zu sammeln und zu verwalten.
Und dann natürlich die 2G + Regelung. Am Anfang brauchte man sogar dann noch ein Tages-Test, wenn man geboostert war. Das war in vielen Städten den Leuten viel zu kompliziert. Und wenn man dann im Kino trotz Abständen auch noch mit Maske sitzen muss, dann ist das für viele Menschen nicht mehr das Kinoerlebnis, das sie sich vorstellen. Vor allen Dingen war es nicht
mehr das spontane Erlebnis, das sich viele wünschen. Dass am Abend Stefan zu Stefanie sagt: Lass uns mal ins Kino gehen. Das war unmöglich. Jetzt muss man sich am besten drei Tage vorher online anmelden. Für die Cinephilen ist das nicht schlimm, aber für die breite Masse, für die unterschiedlichen Schichten der Bevölkerung spielt es eine Rolle. Die verlieren die Lust auf Kino. Das ist aber das Publikum, das wir auch erreichen wollen.
Man sieht, dass die Sachen immer noch
funktionieren, die eine sehr starke »Marke« haben: James Bond, Dune, im Arthousebereich preisgekrönte Filme wie Nomadland und Der Rausch.
Aber unsere Filme sind auch andere. Wir bauen eher aus unbekannten Sachen mit einer guten Kampagne etwas auf. Und diese Möglichkeiten verlieren wir gerade vollkommen.
artechock: Wir haben ja in den letzten zwei Jahren gelernt, dass Kinos angeblich ein besonders gefährlicher Ort sind. Sie wurden als besonders gefährlich behandelt. Und gleichzeitig haben die Menschen gelernt, dass man auch wochenlang zu Hause auf dem Sofa sitzen kann, und Filme im Stream gucken. Ist das nicht genauso schön?
Frehse: Dazu möchte ich Karl Lauterbach zitieren. Der hat öffentlich gesagt: Gehen Sie ruhig ins Kino. Das Kino ist ein sicherer Ort. Wir sehen es ja auch beim RKI. Das Kino kommt in deren Datensätzen statistisch als Übertragungsart gar nicht vor.
Wenn wir in der Pandemie eine einzige Sache gelernt haben, dann, dass wir mehr auf die Wissenschaft hören sollten. Wenn wir der Wissenschaft folgen, dann sehen wir, dass das Kino kein
Pandemie-Treiber ist. Natürlich möchte man manchmal neben dem einen oder anderen nicht zu eng sitzen – aber das mochte man auch vorher nicht.
artechock: Aber Öffentlichkeit und Medien funktionieren nun mal nicht wissenschaftlich, sondern über Emotionen. Und den Deutschland bedeutet das oft: über Angst...
Frehse: Ich fand Angst zu Beginn und während des ersten Lockdowns verständlich und nachvollziehbar. Danach kamen dann die Widersprüche auf: Für mich war am meisten unverständlich, warum Gottesdienste stattfinden durften, zum Teil sogar im Kino, auch Lehrveranstaltungen – aber Filme durften nicht gezeigt werden, weil sie amtlich anders definiert wurden. Kulturveranstaltungen waren geschlossen und auch Fußballspiele mussten
unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, obwohl man dann im Freien sitzt.
Man kann da manchen Entscheidungen in der Politik Unwissenheit unterstellen – aber nicht über Monate. Die Fakten lagen irgendwann auf dem Tisch. Ich spreche hier nicht nur als jemand, der vom Kino lebt, sondern auch als Staatsbürger, als einer, der davon überzeugt ist, dass Kinos und Theater wichtige Orte für den sozialen Zusammenhalt und für die gesellschaftliche Verständigung
sind.
Ich verstehe, warum es Beschränkungen gibt, aber spätestens wenn ein Großteil der Bevölkerung geimpft ist, dann muss es zumindest für diese Geimpften Lockerungen und Öffnungen geben. Auch im Kino.
Deutschland unterscheidet sich von vielen anderen Ländern darin, dass man jedem Menschen in allen Lebensbereichen die persönliche Entscheidung abnehmen will.
Man muss aber bestimmte Lebensrisiken in Kauf nehmen, und Selbstverantwortung zulassen. Böse gesagt: Wenn ich
höre, dass in Thüringen in einem Altenheim 27 Menschen sterben, und 21 davon sind nicht geimpft, dann tut es mir vor allem für die sechs Geimpften leid. Wer aber zu unvorsichtig ist, sich nicht impfen zu lassen, mit dem habe ich relativ wenig Mitleid.
artechock: Hat man in Deutschland eine Furcht vor der Freiheit?
Frehse: Das Problem ist, dass alle anderen Menschen für die Blödheit von Wenigen in Haftung genommen werden, und Einschränkungen über Wochen und Monate in Kauf nehmen müssen. Das ist für mich nicht in Ordnung.
Bestimmte Sachen sind für mich nicht nachvollziehbar. Die Reduzierung von Intensiv-Betten, der Kostenaufwand, der in diesem Bereich gescheut wird – während man ein Vielfaches davon ausgibt, um Einschränkungen zu
finanzieren. Da stehen Maßnahmen in keinem Verhältnis zum übrigen gesellschaftlichen Schaden.
Da sind es nicht wir Kinomacher, die die Gefahr nicht ernst nehmen, sondern die Politik, die das nicht ernst nimmt. Ich habe den Eindruck, dass es sich hier zum Teil um Staatsversagen handelt.
artechock: Aber es gibt viele Menschen, gerade unter den wohlhabenden saturierten Bildungsbürgern, die in Berlin-Mitte sitzen, wo wir uns gerade treffen, auch zum Beispiel unter den Angehörigen der Berliner Medienblase, die scheinen es sich in und mit der Pandemie gut eingerichtet zu haben...
Frehse: Ja genau! Auch in Teilen meines eigenen Freundeskreises merke ich, dass sich hier eine neue Bequemlichkeit entwickelt.
Etwa die Hälfte der Bevölkerung geht in der Regel sowieso nicht auf Kulturveranstaltungen. Die sitzen gern zu Hause auf dem Sofa. Und für die war die Pandemie eine regelrechte Entlastung. Man musste sich nicht mehr rechtfertigen dafür, dass man zu Hause sitzen bleibt, und eine dumme Serie guckt.
Unter
dieser Gruppe Menschen gibt es jetzt zunehmend eine Stimmungslage, die geradezu kulturfeindlich ist. Zu dieser Gruppe gehören natürlich Teile des normalen Publikums, aber nach meiner Beobachtung nicht so sehr viele Kinoverleiher und Kinobetreiber und auch nicht viele Filmemacher, dagegen aber schon weitaus häufiger Medienmenschen und Filmkritiker. Das findest Du also auch?
artechock: Ja, ich habe auch den Eindruck, dass es unter den deutschen Kollegen gar nicht so wenige gibt, die am liebsten zu Hause bleiben und Filme auf dem Computer als Stream gucken. Und sie wünschen sich am liebsten alles immer online.
Aber das passt jetzt gut, denn wir müssen jetzt sowieso auf die Berlinale kommen, die nächste Woche beginnt. Um Dich als Einkäufer und Verleiher zu fragen: Der Markt wurde ja komplett abgesagt. Obwohl viele Marktteilnehmer und Filmhändler vor allem aus dem Ausland gern gekommen wären.
Was ich daran nicht verstehe ist zum einen wieder der Punkt der Freiheit: Dass Berlinale und ihre Träger den Menschen nicht selbst die Entscheidung überlassen, sondern sie ihnen zwangsweise abnehmen.
Zum Zweiten, dass die konkret menschliche Dimension, die Frage wie Menschen nun mal handeln, auch wenn man sie gern anderes erziehen würde, wieder mal vollkommen vergessen wird. Menschen lassen sich nicht steuern, auch nicht von der Berlinale. Die Folge: Der Markt findet jetzt natürlich trotzdem statt, nur eben auf Hotelzimmern und im Café, wo alles weitaus infektiöser und unkontrollierter ist. Außerdem – und das ist wirklich der Gipfel des Irrsinns – bietet die Berlinale jetzt den Marktakkreditierten doch noch Slots zum Treffen an und organisiert dies aktiv. Das heißt: Man kann Tische buchen, die im Gropiusbau stehen, wo sonst der Markt stünde.
Wie handhabst Du das selber? Und hat es für Dich eine Logik, dass das Virus im Gropiusbau gefährlich ist, 100 Meter weiter in Berlinale-Palast nicht?
Frehse: Nein, hat es nicht. Natürlich hätte ich es schön gefunden, wenn der Markt stattfinden würde. Ich hätte es schön gefunden, mit den Kolleginnen und Kollegen aus der ganzen Welt persönlich verhandeln zu können. Es ist jetzt gar keine Trotzreaktion oder ein Protest, aber wir vom Verleih haben unsere EFM-Akkreditierung bis auf eine Ausnahme zurückgegeben.
Denn es ist schlicht und einfach – wie du sagst –
unpraktisch. Wenn ich zwei Filme am Tag physisch gucke, dann werde ich nicht zwischendurch nach Hause fahren, um dort einen Film auf dem Handy anzusehen. Und ich bin auch ziemlich sicher, dass mir die Welt-Vertriebe, die wollen, dass ich den Film im Kino sehe, diesen auch zugänglich machen. Der EFM war im vergangenen Jahr sehr gut organisiert. Aber ich bin einfach persönlich müde, Filme online zu gucken. Und ich glaube auch nicht, dass mir der eine oder andere Film wegläuft, den ich
jetzt im Stream sehen könnte.
Insofern werde ich Filme wie in Cannes und Venedig physisch im Kino erleben, und die Menschen treffen, die ich treffen will, dann eben ohne Marktstände, und darauf freue ich mich auch.
artechock: Wäre es nicht konsequenter gewesen, eine Berlinale ausnahmsweise nur für die Profis zu machen, das heißt für Marktteilnehmer für Filmemacher und für die Presse? Von denen hätte man alle Daten, man könnte sicherstellen, dass sie geimpft und geboostert sind, und es wäre insgesamt überschaubar.
Findest du es logisch, dass sich die Berlinale anders entschieden hat?
Frehse: Natürlich wäre mir eine solche Gästevariante die bequemste gewesen. Ich kenne die Berlinale auch nur so. Man sieht die Menschen nur, wenn man einmal durch die Arkaden läuft und sie dort stundenlang anstehen. Auf der anderen Seite hat die Berlinale eine lange Tradition als Festival mit Publikum. Und für mich als Verleiher ist es wichtig zu sehen, wie ein Film bei dem richtigen Publikum ankommt.
artechock: Wir haben aber keine normalen Zustände. Es geht ja im zweiten Jahr der Pandemie auch darum: wie macht man ein Festival? Es geht auch darum, dass die Berlinale nicht grundsätzlich beschädigt wird.
Nun gibt es ja dieser Tage ausgerechnet von Seiten einiger vor allem Berliner Filmkritiker die Forderung, dass die Berlinale ganz abgesagt wird. Aus Angst vor Infektion. Und wohl auch aus Bequemlichkeit.
Nach diesen Stimmen sei es auch unter den jetzt geplanten massiven Einschränkungen unverantwortlich, dass die Berlinale durchgeführt wird.
Gleichzeitig kann man ein paar hundert Meter weiter, im gleichen Cinemaxx Kino, oder auf den Kinos der Kantstraße und am Kudamm und im Cubix selbstverständlich ins Kino gehen, wenn es sich um normalen Kinobetrieb handelt. Und zu den entsprechenden normalen Pressevorführungen kommen die gleichen Kritiker, die sich jetzt durch die Berlinale gefährdet sehen. Das hat überhaupt keine Logik für mich...
Frehse: Das ist für mich auch unverständlich. Wir haben Gesetze und Verordnungen in unserem Land. Und wenn eine Veranstaltung entsprechend all dieser Verordnungen und Gesetze stattfindet, oder im Fall der Berlinale sogar noch unter zusätzlichen schärferen Sicherheitsmaßnahmen, dann finde ich die Forderung nach Absage kulturfeindlich.
Mich macht das auch traurig, weil ich dahinter eine erschreckende Gleichgültigkeit
gegenüber dem Kino und ein Banausentum sehe, ausgerechnet bei Filmkritikerinnen und Filmkritikern. Und wenn eine davon auch noch die Film-Redakteurin von „Zeit-online“ ist, dann bin ich entsetzt.
artechock: Du hast eine zu hohe Meinung von der „Zeit“.
Frehse: Möglicherweise. Ich bin da vielleicht naiv genug, dass es mich schockiert. Ich finde es auch übergriffig: Die politische Diskussion geht ja im Gegensatz dazu in Richtung Öffnung. Jede Gesellschaft möchte gerade öffnen.
Darum erschrecken mich solche Forderungen, gerade wenn sie aus dem Kulturbereich kommen. Wir sind nicht China.