78. Filmfestspiele Cannes 2025
Strandgut |
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Chillen im Trainingsraum: La danse des renards | ||
(Foto: Filmfestspiele Cannes | Valéry Carnoy) |
Von Dunja Bialas
Badewetter. Zum allerersten Mal in diesen jetzt fast schon zehn Tagen von Cannes. Am Strand kann man mal wieder die Gedanken schweifen lassen, die Augen dürfen, ohne irgendetwas verstehen zu müssen, in die Ferne blicken, den Horizont anstarren. Ein vermutlich kleines Kreuzschiff offshore, gelbe Bojen im blauen Wasser, das sich endlich beruhigt hat nach dem stürmischen Tag zuvor, als selbst die Terrasse des Journalistes aus Sicherheitsgründen gesperrt war. Die Palmen schwankten beträchtlich im Wind, hatten Mühe, sich wieder aufzurichten, und ich musste an die Schlagzeile der letzten Tage denken, als eine Palme an der Croisette umstürzte und einen Produzenten unter sich begrub. Zum Glück ist sonst nichts passiert, aber die Rufe wurden laut, sich besser um die Palmen in Cannes zu kümmern. Was hier ja immer sehr zweideutig ist.
Ein ziemlicher Endspurt wird Cannes in diesen letzten Tagen. Heute, am Finaltag vor der Preisverkündung, stehen mit den Dardenne-Brüdern und Kelly Reichardt noch einmal große, sehr große Namen im Programm. Luc und Jean-Pierre Dardenne hatten 1999 mit Rosetta den Wettbewerb noch einmal von hinten aufgerollt, haben zwei Mal die Goldene Palme gewonnen und sieben weitere
Cannes-Preise. Jetzt zeigen die Belgier Jeunes mères, in dem es, wie der Titel sagt, um junge Mütter geht. Klingt vorhersehbar, man darf aber gespannt sein, was die Brüder daraus machen.
Die US-Independent-Ikone Kelly Reichardt hat bis auf einen unbedeutenden Nebenpreis bislang in Cannes nichts gewonnen. Sie ist zum zweiten Mal im Wettbewerb vertreten und zeigt mit The Mastermind ein Heist-Movie in Ohio der 1970er Jahre. Es spielt mit:
Arthouse-Superstar Josh O’Connor, der im Wettbewerb auch in Oliver Heramus’ The History of Sound zu sehen ist. Allerdings in einer mehr als faulen Performance.
Diese beiden letzten Filme gilt es unmittelbar hintereinander anzusehen, mit sehr kurzer Umstiegszeit von einer Vorstellung zur nächsten, in zwei unterschiedlichen Kino-Palästen, an den Einlasskontrolleuren vorbei.
Diese werden auch immer formeller und gleichzeitig forscher, stellen sich bei der Leibesvisite unangenehm breitbeinig vor einem auf. »Ça va?«, fragt der eine noch.
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Oui, ça va, heureusement, komme ja gerade tiefenentspannt von einem kühlen Bad im Meer. Selbst mein Buch habe ich aufgeschlagen und ein wenig darin gelesen: Leïla Slimanis »J’emporterai le feu«. Der Titel verdankt sich einem Zitat von Jean Cocteau, der, als er gefragt wurde, was er mitnehmen würde, wenn sein Haus in Flammen steht, antwortete: Ich würde das Feuer mitnehmen.
Leïla Slimani ist dieses Jahr in der großen Jury, unter dem Vorsitz von Juliette Binoche. Allmählich wird es Zeit, sich hineinzuhirnen, und sich augurisch zu überlegen, welche Filme ihnen wohl gefallen könnten: Halle Berry, der X-Men-Regisseurin, Payal Kapadia, der Regisseurin somnambuler Werke, der Schauspielerin Alba Rohrwacher, der Autorin Leïla Slimani, dem kongolesischen Dokumentarfilmer Dieudo Hamadi, dem Koreaner Hong Sangsoo, dem Mexikaner Carlos Reygadas und schließlich dem amerikanischen Schauspieler Jeremy Strong.
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Von den letzten Tagen noch gut in Erinnerung geblieben sind die kleineren Filme, wie Ma frère (Summer Beats) von Lise Akoka und Romane Gueret in Cannes Première. Das Regie-Duo hatte mit Les pires (Die Schlimmsten) 2022 »Un certain regard« mit ihrem unorthodoxen, kraftvollen Banlieue-Debüt in Aufregung versetzt und den Hauptpreis gewonnen. Jetzt sind sie wieder da, und zeigen in der speziellen Thierry-Frémaux-Reihe ihr Experiment, Dreharbeiten in einer »colonie de vacances« zu machen, in einem Ferienlager, mit einem Dutzend halbwüchsiger Protagonisten und Protagonistinnen, die sie in der Banlieue gecastet haben. Nicht nur produktionstechnisch, auch auf der Leinwand nimmt sich der Film über weite Strecken wie ein Sozialprojekt aus. Allerdings keines, das den Amtstuben entsprungen ist, sondern eines voller Zärtlichkeit, Wärme, Humanität, Ehrlichkeit, Witz. Man will einfach alle, die in diesem Film auftreten, die sich offenbaren und verletzbar zeigen, all diese heranwachsenden Jungen und Mädchen ganz fest umarmen.
Erzählt wird auch von den Animateuren, die die Pubertät hinter sich haben und sich auf der Schwelle zum Erwachsenenalter befinden. Sie sollen mal sagen, wie sich das anfühlt, wenn sie die Kindperspektive einnehmen, und wie, wenn sie sich als Erwachsene verhalten, ist die Vorgabe für ein Rollenspiel der Betreuer. Shia (Shirel Nataf) und Djeneba (Mouctar Diawara) sind 19, sie befinden sich genau auf dieser Schwelle. »Weißt du noch, wir damals«, sagt Shia spontan, als sie die Kinder sieht. Erinnerungen an das eigene Aufwachsen machen empathisch, Entscheidungen zu treffen, die schmerzhaft sind, lässt einen erwachsen werden. Letztlich machen alle, Kinder wie Betreuer, während der Ferien ihre éducation sentimentale und Initiationserfahrung durch. Auch wenn bisweilen die Lektion etwas zu sehr in den Vordergrund rückt, ist Ma frère ein Film, der einen immer wieder anfasst. Ach ja, der Titel: Alle nennen sich untereinander nur »frère«, mit dem Banlieue’schen »Bruder«, Mädchen wie Jungen. Den Titel »Soeur« bekommt nur eine*r, am Ferienende, als Zeichen der Akzeptanz.
»Hors compétition« war Rebecca Zlotowskis Vie privée mit Jodie Foster als Psychoanalytikerin und Daniel Auteuil als ihrem Ex-Mann zu sehen. Rebecca Zlotowski kennt man von Une fille facile (Ein leichtes Mädchen, 2019), 2013 lief zuletzt ein Film von ihr in »Un certain regard«: Grand Central mit Tahar Rahim, der dieses Jahr in Julia Ducournaus Alpha in der extremsten Rolle des diesjährigen Wettbewerbs zu sehen ist, und mit Léa Seydoux. Apropos: Wo ist eigentlich Léa Seydoux in diesem Cannes 2025?
Wie alle Filme mit Psychoanalytikern zeigt auch Rebecca Zlotowski die Therapeutin in der Krise. Eine ihrer Patientinnen stirbt, die Tochter macht der Therapeutin Vorwürfe. Jodie Foster ist umwerfend in der Rolle der kontrollierten Therapeutin, es braucht eine Hypnose-Sitzung, um sie wieder in die Spur zu bringen und dem Leben zurückzuführen. Um endlich einmal ihren Patienten zuzuhören. Um endlich ihren Sohn zu umarmen. Um endlich sein Baby hochzuheben. Um endlich ihren Ex-Mann wieder zu küssen. Wie diese Skizze schon verrät, durchläuft Vie privée alle Standardsituationen der kultivierten Komödie. Interessant ist die Hauptfigur dennoch, und auch dies ist typisch für das französische Kino, das noch einmal ganz andere Rollen für Frauen im fortgeschrittenen Alter bereithält und auch eine andere Ideologie, nach der auch ältere Frauen aktiv sind, gedanklich, sexuell, professionnell: In Frankreich, so wollen wir es gerne glauben, hadern die Frauen mit der Oma-Rolle, kommen gut ohne Mann klar und sind unabhängige Freigeister, die sie auch dann bleiben, wenn sich alles zurechtrückt. Age & Gender formuliert sich hier zumeist nicht als apfelkuchenbackende Betulichkeit.
Einer der eindruckvollsten Filme in den Nebenreihen war La danse des renards des Belgiers Valéry Carnoy in der »Quinzaine des cinéastes«, der mit dem Label Europa Cinemas und dem SACD (Coup de cœur des auteurs) ausgezeichnet wurde. In seinem Debüt erzählt er von jungen Boxern in einem Sportgymnasium, die sich mit ihrer eigenen Angst auseinandersetzen, ihrer Angst im Kampf und davor, dem anderen weh zu tun. »Ich wollte mich nur verteidigen können«, sagt Champion Camille einmal, nur deshalb habe er mit dem Boxen begonnen. Die titelgebenden »Füchse«, das sind diese Jungs, denen der Coming-of-Age-Film ganz nahe kommt, wenn er von den Jungswitzen erzählt, den chaotischen Zimmern, den auf den Gängen schlurfenden Adiletten nach dem Chillen und vor dem Training, den unausgeschlafenen Blicken und den hängenden Schultern, weil eine Last auf einem liegt. Die Füchse, das sind aber auch ganz real die Füchse, die sich im angrenzenden Wald tummeln, und von den Freunden Camille und Matteo mit rohem Fleisch gefüttert werden, das sie aus der Vorratskammer klauen.
Umwerfend spielt Samuel Kircher Camille, den Champion des Internats, sein bester Freund Matteo (Faycal Anaflous) hat ihn zum Boxen gebracht. Der droht aber permanent von der Schule zu fliegen, ist kein Superstar wie Camille und hat auch viel Blödsinn im Kopf. Valéry Carnoy erzählt in seinem Debütfilm auch den Unterschied von Class und Race, der sich im weißen Europäer und im nordafrikanischen Migranten manifestiert und wesentlich ihre Karrieren durch die (mangelnde) Protektion der Eltern beeinflusst. Und schließlich ist La danse des renards auch eine Challengers-Geschichte, von einer Freundschaft im Sport, die länger hält als eine Runde im Boxkampf.
Was von dem Strandgut übrig bleibt? Wir hoffen sehr auf ein paar Kinostarts in Deutschland, zumindest der letzte sollte zu sehen sein. Und Ma frère wird es sicherlich schwer haben, denn wie bitte schön soll man nur das Sprech-Stakkato der Heranwachsenden in eine deutsche Fassung bringen?
Jetzt aber auf zu Dardenne und Reichardt.