23.05.2025
78. Filmfestspiele Cannes 2025

Strandgut

Danse des renards
Chillen im Trainingsraum: La danse des renards
(Foto: Filmfestspiele Cannes | Valéry Carnoy)

Was sich in Cannes alles so ansammelt: Ein Schnelldurchgang durch ein paar bemerkenswerte Filme

Von Dunja Bialas

Bade­wetter. Zum aller­ersten Mal in diesen jetzt fast schon zehn Tagen von Cannes. Am Strand kann man mal wieder die Gedanken schweifen lassen, die Augen dürfen, ohne irgend­etwas verstehen zu müssen, in die Ferne blicken, den Horizont anstarren. Ein vermut­lich kleines Kreuz­schiff offshore, gelbe Bojen im blauen Wasser, das sich endlich beruhigt hat nach dem stür­mi­schen Tag zuvor, als selbst die Terrasse des Jour­na­listes aus Sicher­heits­gründen gesperrt war. Die Palmen schwankten beträcht­lich im Wind, hatten Mühe, sich wieder aufzu­richten, und ich musste an die Schlag­zeile der letzten Tage denken, als eine Palme an der Croisette umstürzte und einen Produ­zenten unter sich begrub. Zum Glück ist sonst nichts passiert, aber die Rufe wurden laut, sich besser um die Palmen in Cannes zu kümmern. Was hier ja immer sehr zwei­deutig ist.

Ein ziem­li­cher Endspurt wird Cannes in diesen letzten Tagen. Heute, am Finaltag vor der Preis­ver­kün­dung, stehen mit den Dardenne-Brüdern und Kelly Reichardt noch einmal große, sehr große Namen im Programm. Luc und Jean-Pierre Dardenne hatten 1999 mit Rosetta den Wett­be­werb noch einmal von hinten aufge­rollt, haben zwei Mal die Goldene Palme gewonnen und sieben weitere Cannes-Preise. Jetzt zeigen die Belgier Jeunes mères, in dem es, wie der Titel sagt, um junge Mütter geht. Klingt vorher­sehbar, man darf aber gespannt sein, was die Brüder daraus machen.
Die US-Inde­pen­dent-Ikone Kelly Reichardt hat bis auf einen unbe­deu­tenden Neben­preis bislang in Cannes nichts gewonnen. Sie ist zum zweiten Mal im Wett­be­werb vertreten und zeigt mit The Master­mind ein Heist-Movie in Ohio der 1970er Jahre. Es spielt mit: Arthouse-Superstar Josh O’Connor, der im Wett­be­werb auch in Oliver Heramus’ The History of Sound zu sehen ist. Aller­dings in einer mehr als faulen Perfor­mance.

Diese beiden letzten Filme gilt es unmit­telbar hinter­ein­ander anzusehen, mit sehr kurzer Umstiegs­zeit von einer Vorstel­lung zur nächsten, in zwei unter­schied­li­chen Kino-Palästen, an den Einlass­kon­trol­leuren vorbei.

Diese werden auch immer formeller und gleich­zeitig forscher, stellen sich bei der Leibes­vi­site unan­ge­nehm breit­beinig vor einem auf. »Ça va?«, fragt der eine noch.

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Oui, ça va, heureu­se­ment, komme ja gerade tiefen­ent­spannt von einem kühlen Bad im Meer. Selbst mein Buch habe ich aufge­schlagen und ein wenig darin gelesen: Leïla Slimanis »J’emporterai le feu«. Der Titel verdankt sich einem Zitat von Jean Cocteau, der, als er gefragt wurde, was er mitnehmen würde, wenn sein Haus in Flammen steht, antwor­tete: Ich würde das Feuer mitnehmen.

Leïla Slimani ist dieses Jahr in der großen Jury, unter dem Vorsitz von Juliette Binoche. Allmäh­lich wird es Zeit, sich hinein­zu­hirnen, und sich augurisch zu überlegen, welche Filme ihnen wohl gefallen könnten: Halle Berry, der X-Men-Regis­seurin, Payal Kapadia, der Regis­seurin somnam­buler Werke, der Schau­spie­lerin Alba Rohr­wa­cher, der Autorin Leïla Slimani, dem kongo­le­si­schen Doku­men­tar­filmer Dieudo Hamadi, dem Koreaner Hong Sangsoo, dem Mexikaner Carlos Reygadas und schließ­lich dem ameri­ka­ni­schen Schau­spieler Jeremy Strong.

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Von den letzten Tagen noch gut in Erin­ne­rung geblieben sind die kleineren Filme, wie Ma frère (Summer Beats) von Lise Akoka und Romane Gueret in Cannes Première. Das Regie-Duo hatte mit Les pires (Die Schlimmsten) 2022 »Un certain regard« mit ihrem unor­tho­doxen, kraft­vollen Banlieue-Debüt in Aufregung versetzt und den Haupt­preis gewonnen. Jetzt sind sie wieder da, und zeigen in der spezi­ellen Thierry-Frémaux-Reihe ihr Expe­ri­ment, Dreh­ar­beiten in einer »colonie de vacances« zu machen, in einem Feri­en­lager, mit einem Dutzend halb­wüch­siger Prot­ago­nisten und Prot­ago­nis­tinnen, die sie in der Banlieue gecastet haben. Nicht nur produk­ti­ons­tech­nisch, auch auf der Leinwand nimmt sich der Film über weite Strecken wie ein Sozi­al­pro­jekt aus. Aller­dings keines, das den Amtstuben entsprungen ist, sondern eines voller Zärt­lich­keit, Wärme, Humanität, Ehrlich­keit, Witz. Man will einfach alle, die in diesem Film auftreten, die sich offen­baren und verletzbar zeigen, all diese heran­wach­senden Jungen und Mädchen ganz fest umarmen.

Erzählt wird auch von den Anima­teuren, die die Pubertät hinter sich haben und sich auf der Schwelle zum Erwach­se­nen­alter befinden. Sie sollen mal sagen, wie sich das anfühlt, wenn sie die Kind­per­spek­tive einnehmen, und wie, wenn sie sich als Erwach­sene verhalten, ist die Vorgabe für ein Rollen­spiel der Betreuer. Shia (Shirel Nataf) und Djeneba (Mouctar Diawara) sind 19, sie befinden sich genau auf dieser Schwelle. »Weißt du noch, wir damals«, sagt Shia spontan, als sie die Kinder sieht. Erin­ne­rungen an das eigene Aufwachsen machen empa­thisch, Entschei­dungen zu treffen, die schmerz­haft sind, lässt einen erwachsen werden. Letztlich machen alle, Kinder wie Betreuer, während der Ferien ihre éducation senti­men­tale und Initia­ti­ons­er­fah­rung durch. Auch wenn bisweilen die Lektion etwas zu sehr in den Vorder­grund rückt, ist Ma frère ein Film, der einen immer wieder anfasst. Ach ja, der Titel: Alle nennen sich unter­ein­ander nur »frère«, mit dem Banlieue’schen »Bruder«, Mädchen wie Jungen. Den Titel »Soeur« bekommt nur eine*r, am Feri­en­ende, als Zeichen der Akzeptanz.

»Hors compé­ti­tion« war Rebecca Zlotow­skis Vie privée mit Jodie Foster als Psycho­ana­ly­ti­kerin und Daniel Auteuil als ihrem Ex-Mann zu sehen. Rebecca Zlotowski kennt man von Une fille facile (Ein leichtes Mädchen, 2019), 2013 lief zuletzt ein Film von ihr in »Un certain regard«: Grand Central mit Tahar Rahim, der dieses Jahr in Julia Ducournaus Alpha in der extremsten Rolle des dies­jäh­rigen Wett­be­werbs zu sehen ist, und mit Léa Seydoux. Apropos: Wo ist eigent­lich Léa Seydoux in diesem Cannes 2025?

Wie alle Filme mit Psycho­ana­ly­ti­kern zeigt auch Rebecca Zlotowski die Thera­peutin in der Krise. Eine ihrer Pati­en­tinnen stirbt, die Tochter macht der Thera­peutin Vorwürfe. Jodie Foster ist umwerfend in der Rolle der kontrol­lierten Thera­peutin, es braucht eine Hypnose-Sitzung, um sie wieder in die Spur zu bringen und dem Leben zurück­zu­führen. Um endlich einmal ihren Patienten zuzuhören. Um endlich ihren Sohn zu umarmen. Um endlich sein Baby hoch­zu­heben. Um endlich ihren Ex-Mann wieder zu küssen. Wie diese Skizze schon verrät, durch­läuft Vie privée alle Stan­dard­si­tua­tionen der kulti­vierten Komödie. Inter­es­sant ist die Haupt­figur dennoch, und auch dies ist typisch für das fran­zö­si­sche Kino, das noch einmal ganz andere Rollen für Frauen im fort­ge­schrit­tenen Alter bereit­hält und auch eine andere Ideologie, nach der auch ältere Frauen aktiv sind, gedank­lich, sexuell, profes­si­on­nell: In Frank­reich, so wollen wir es gerne glauben, hadern die Frauen mit der Oma-Rolle, kommen gut ohne Mann klar und sind unab­hän­gige Frei­geister, die sie auch dann bleiben, wenn sich alles zurech­trückt. Age & Gender formu­liert sich hier zumeist nicht als apfel­ku­chen­ba­ckende Betu­lich­keit.

Einer der eindruck­vollsten Filme in den Neben­reihen war La danse des renards des Belgiers Valéry Carnoy in der »Quinzaine des cinéastes«, der mit dem Label Europa Cinemas und dem SACD (Coup de cœur des auteurs) ausge­zeichnet wurde. In seinem Debüt erzählt er von jungen Boxern in einem Sport­gym­na­sium, die sich mit ihrer eigenen Angst ausein­an­der­setzen, ihrer Angst im Kampf und davor, dem anderen weh zu tun. »Ich wollte mich nur vertei­digen können«, sagt Champion Camille einmal, nur deshalb habe er mit dem Boxen begonnen. Die titel­ge­benden »Füchse«, das sind diese Jungs, denen der Coming-of-Age-Film ganz nahe kommt, wenn er von den Jungs­witzen erzählt, den chao­ti­schen Zimmern, den auf den Gängen schlur­fenden Adiletten nach dem Chillen und vor dem Training, den unaus­ge­schla­fenen Blicken und den hängenden Schultern, weil eine Last auf einem liegt. Die Füchse, das sind aber auch ganz real die Füchse, die sich im angren­zenden Wald tummeln, und von den Freunden Camille und Matteo mit rohem Fleisch gefüttert werden, das sie aus der Vorrats­kammer klauen.

Umwerfend spielt Samuel Kircher Camille, den Champion des Internats, sein bester Freund Matteo (Faycal Anaflous) hat ihn zum Boxen gebracht. Der droht aber permanent von der Schule zu fliegen, ist kein Superstar wie Camille und hat auch viel Blödsinn im Kopf. Valéry Carnoy erzählt in seinem Debütfilm auch den Unter­schied von Class und Race, der sich im weißen Europäer und im nord­afri­ka­ni­schen Migranten mani­fes­tiert und wesent­lich ihre Karrieren durch die (mangelnde) Protek­tion der Eltern beein­flusst. Und schließ­lich ist La danse des renards auch eine Chal­len­gers-Geschichte, von einer Freund­schaft im Sport, die länger hält als eine Runde im Boxkampf.

Was von dem Strandgut übrig bleibt? Wir hoffen sehr auf ein paar Kinostarts in Deutsch­land, zumindest der letzte sollte zu sehen sein. Und Ma frère wird es sicher­lich schwer haben, denn wie bitte schön soll man nur das Sprech-Stakkato der Heran­wach­senden in eine deutsche Fassung bringen?

Jetzt aber auf zu Dardenne und Reichardt.