DOK.fest-Marathon |
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In Kooperation mit der LMU München.
Wasser, Erde, Wind — und alles verbunden durch das Licht. Diese fast schon meditativ anmutende Erfahrung spielt mit dem Schein und dem Sein der Dinge: extreme Nahaufnahmen, Antäuschungen, Abstraktion hin zu einnehmenden Farbflächen und Mustern, die ineinander fließen. Getragen von einem Klangteppich aus Rauschen, Tiergeräuschen und atmosphärischer, aber zurückhaltender Musik. Gebrochen nur von museal anmutender Präsentation einzelner Objekte aus der Natur, losgelöst von jeder Bindung an Realität und Umgebung, die teilweise fast eine klinische Distanz entwickelt. Hohe Kontraste in Farbe und Belichtung erzeugen nahezu unwirkliche Bilder einer fast fremdartig wirkenden Welt, die dennoch eindeutig die unsere ist — und am Ende in Smok und grell blendendem Licht verschwindet. – Anna Schellkopf, LMU München
Draufsicht. An der menschenleeren, schroffen Küste Québecs erkundet Sylvain L’Espérance die Oberflächen der Natur. Licht streift in allen Spektren von grau und braun mal behutsam mal reflexartig über Grashalme, Wasser und Felswände und macht deren Äußeres zum zentralen Gegenstand der Bildsprache, variantenreich montiert auf die glatte Leinwandfläche. Die detailversessenen Nahaufnahmen könnten fotografisch wirken – Seiten eines Bildbandes – doch in Bewegung, Dauer und Ton sticht das Filmische praktisch plastisch hervor. Zwischen Dröhnen und Flüstern von Windrauschen und Wellenschlägen wird das Publikum Teil der auralen Landschaft im Kinosaal. Jedes Räuspern hallt doppelt in der Wahrnehmung, verschmilzt zum Gesamten. Akribisch legt Archeology of Light Sinneswahrnehmungen und die Patina des Augenblicks frei. – Lee Redepenning, LMU München
Strahlkraft des Kinos. In kontemplativen Bildern fertigt Sylvain L’Espérance eine Phänomenologie des Lichts an, beobachtet, wie es sich in Reflexionen auf dem Wasser, in Konkurrenz mit den Wolken, im Spiel mit Blumen und Ästen verhält. Ohne Voice-Over nehmen wir dieses Naturschauspiel wahr, bleiben an grünen Polarlichtern hängen, sehen uns mit einem psychedelischen Tanz konfrontiert, dann, wenn sich die Strahlen nicht mehr kontrollieren lassen, in zittrige,
fahrige Lichtpunkte zerfallen. Das wirkt bedrohlich, später beruhigend; bleibt immer faszinierend und schön.
L’Espérance montiert nicht nach Kontrapunkten, ist Beobachter, verweigert sich, die Kontrolle über das Licht zu erlangen. Wie auch, besitzt es doch selbst keine Autonomie, geht von der Sonne aus, diesem hellsten aller Punkte, der schließlich auch die Kamera besiegt: Was ist Licht ohne Bezugspunkt, was sehen wir, wenn wir in die Sonne starren? – Benedikt
Guntentaler
Was können wir tun, um unsere Kinder zu schützen? Kaum ein Thema beschäftigt die US-amerikanische Gesellschaft so sehr, wie die immer häufiger passierenden Amokläufe an Schulen. Louise van Assche stellt Nachforschungen an, wie sich diese auf Notfälle vorbereiten. Sie selbst sieht mit Sorge der Schulzeit ihrer Tochter entgegen. Dabei gelingt es ihr jedoch leider nicht, dieses große Thema in ein neues Licht zu rücken. Endlose Interviews und deplatzierte Thrillermomente können zu keiner Sekunde etwas zum Diskurs beitragen. Schließlich bricht der Film ein Stück weit unter der Last seines schweren Themas ein. Am Ende bleibt nur das hängen, was man ohnehin schon vorher wusste: Amokläufe sind eine Tragödie, die auch mit der Bewaffnung von Lehrern nicht zwangsläufig entschärft werden können. Irritierend ist, dass sich die Doku kaum damit befasst, ob das Waffengesetz in Texas ein Faktor für jene tragischen Vorfälle sein könnte. – Christian Schmuck
Ungläubig starrt die US-Teenagerin – ihre Augen groß, als würden sie halb in die Vision schauen einer Welt, wo sowas denkbar ist. »That’s crazy!«, sagt sie. Was sie so erstaunt? Dass in anderen Ländern in der Schule nicht regelmäßig verpflichtende Drills zum Verhalten bei Amokläufen stattfinden. Weil Amokläufe keine Alltags-Normalität sind. Der Film beginnt etwas ungelenk: Merklich zur Informationsmitteilung inszenierte Szenen, zuviel Musik. Doch dass die (Co-)Regisseurin eine aus Belgien nach Texas gezogene junge Mutter ist, macht bald einen unüblicheren, wenig an Thesen interessierten Zugang zum Thema auf. Und man staunt mit ihr frustiert darüber, wie die USA sich in eine selbstverstärkende Spirale manövriert hat der Normalisierung des Ausnahmezustands. – Thomas Willmann
Wer ist schuld? Ein beliebtes Spiel. Doch was passiert, wenn Forschende am digitalen Pranger vorverurteilt werden, wenn in offiziellen Anhörungen die Ankläger gleich die Antworten geben und die Angeklagten nicht mehr zu Wort kommen lassen? In Blame zeigt Regisseur Christian Frei in einer Mischung aus Thriller und Langzeitbeobachtung, wie die Grundlagen eines demokratischen und wissenschaftsbasierten Diskurses verschwinden und Verschwörungstheorien wissenschaftliche Ergebnisse sabotieren. Erzählt wird die Geschichte von zwei Wissenschaftlern und einer Wissenschaftlerin aus den USA, Singapur und China, die schon lange zu Sars-Viren forschen. Die drei geraten in einen Strudel von Desinformation und Diffamierung. Dumm nur, dass solche Machspiele Viren nicht interessieren und die nächste Pandemie nur einige Mutationen entfernt lauert. – Ingrid Weidner
Widerständiges Filmen. Über 3 Jahre hinweg verfolgt Boalândia verschiedene Kunstformen in den Städten und Provinzen Brasiliens. Im Amazonas dokumentieren indigene Völker ihre Lebensweise, um ihre eigene Existenz zu sichern: »By us, for us«, heißt es. In den Städten hingegen leisten Filmkollektive politischen Widerstand. Beiden Räumen wird in Boalândia internationale Sichtbarkeit verliehen. Was den Film zudem begleitet, ist die unmittelbare Auseinandersetzung mit dem eigenen Medium: Die Regisseure Patrik Thomas und Mathias Reitz Zausinger beobachten das Filmen anderer. Die Kraft des Filmemachens wird in dieser Beziehungsarbeit hervorgehoben, indem die Aufnahmen der Akteure zeitweise auch zu denen werden, die wir sehen. So erscheint jede dokumentierte Wirklichkeit als relevant. – Amelie Hochhäusler, LMU München
Mit der konzentrierten Kraft reiner Beobachtung widmet sich der Österreicher Thomas Fürhapter dem Putzen und der Säuberung. Es geht ihm nicht um neurotische Verhaltensweisen wie Waschzwang, auch nicht um technische Details von Laugen und Gerätschaften, sondern um das Saubermachen im öffentlichen Raum, ob das nun Krankenhäuser, Schulen, Großwäschereien, Museen oder U-Bahnhöfe sind. Er interessiert sich für die pure Phänomenologie des Putzens. Sein Blick ist wohltuend klar, manchmal auch schmerzhaft genau: krude Fleischreste im Schlachthof, Blutflecken im Kreißsaal, die Tötungsstätten des KZ Mauthausen. Die durch die Montage ungerührt herausgestellte Ähnlichkeit der verschiedenen Säuberungsakte ist bei aller Gelassenheit der Kamera das Aufregende an diesem Film. Fürhapter fügt Szenen ritueller Waschungen im religiösen Kontext oder auch die christliche Taufe ein. So werden die Grenzen zwischen Profanierung und Sakralisierung der Reinigung listig aufgehoben. – Wolfgang Lasinger
Sauber machen: Wischen, Fegen, Saugen, Kratzen in Schulen, Krankenhäusern, Museen, KZ-Gedenkstätten und Moscheen. Cleaning & Cleansing zeigt Menschen bei der Arbeit. Unabdingbare, gesellschaftlich unterbewertete Arbeit. Der Film leistet mit unaufgeregten, klaren Totalen, die Platz für die Personen und nicht nur die Tätigkeit lassen, einen Beitrag zur überfälligen Wertschätzung. Weniger clean wird es mit dem Exkurs in die spirituelle Säuberung – die titelgebenden Begriffe können ja mehr meinen, als das reine Reinigen. Andere, weitaus problematischere Konnotationen von »Reinheit« bleiben mit der begrifflichen Öffnung impliziert aber nicht thematisiert und die deutliche qualitative und quantitative Bevorzugung christlicher Rituale trübt den Fokus schließlich eher, als klare Sicht zu schaffen. – Lee Redepenning, LMU München
Rekonstruktion der »Kostbaren«. Die Künstlerin und Filmemacherin Constanze Ruhm nähert sich in ihrem soghaften Essay den »Preziösen« an, einer Frauenbewegung der Pariser Salonkultur. Abwehrstrategien ließen nicht auf sich warten: Molière gab die streitenden Intellektuellen in »Précieuses ridicules« der Lächerlichkeit preis. Auf den Spuren der italienischen Feministin Carla Lonzi inszeniert Ruhm Bilder und Schriften des 17. Jahrhunderts und erzählt von der langen Geschichte der Gewalt gegen Frauen. Nachrichten über Vergewaltigungen laufen über den fiktiven feministischen Radiosenders »Radio Dafne«, ein zersplitterter Spiegel reflektiert leitmotivisch den Übergriff auf die Frauen. Ruhm arbeitet suggestiv und verführerisch, versagt sich Gewissheiten und Aktivismus und kann doch mit den Mitteln der weiblichen Kunst wunderbar aufrütteln. – Dunja Bialas
»Erinnerung beginnt in einer imaginierten Welt.« Constanze Ruhm setzt in ihrem Essayfilm die feministischen Auseinandersetzungen der italienischen Kunstkritikerin Carla Lonzi fort – und begibt sich damit thematisch auf die Spuren der Frau in der Geschichtsschreibung. Ruhm lässt die Vergangenheit über echohafte Bilder und Gesänge aufleben. Die Treffen der protofeministischen Gruppe »Die Preziösen« sowie Zusammenkünfte aus Lonzis Zeit werden rekonstruiert und damit unmittelbar in die Gegenwart gerufen, wodurch das Gefühl einer geteilten Erfahrungswelt entsteht. Der Wechsel zwischen Schwarzweiß und intensiver Farbgebung der Bilder kreiert eine zeitübergreifende Ordnung, in der sich Kontinuitäten mitteilen. Der Film gestaltet eine kollektive Kunstform des Erinnerns, in die auch die Zuschauer:innen über die in die Kamera gehalten Spiegel einfügt werden. – Amelie Hochhäusler, LMU München
Clouds and Monopoly. Was wäre, wenn jeder einen eigenen Server hätte und sich vom großen, weltweiten Netzwerk abkoppeln könnte? Genau solche Projekte in Spanien, Berlin und den USA stellt der Dokumentarfilm vor und erklärt auch, weshalb das dringend notwendig sein könnte, um der Macht der großen Tech-Giganten zu entkommen. Ein historischer Abriss zeigt die Geschichte des Internets auf. Angefangen mit dem Informatiker Paul Baran, der in den 1950er Jahren in den USA den theoretischen Grundstein des Internets legte und später vor seinen Forschungen warnte. Natürlich darf Tim Burners-Lee nicht fehlen, der die Programmiersprache Hypertext Markup Language (HTML) entwickelte und als Begründer des World Wide Web gilt. Auch seine Euphorie ist verflogen. Wäre es also eine Option, das Internet, so wie wir es kennen, einfach abzuschalten? – Ingrid Weidner
Der Krieg in geschlossenen Räumen. Tommy Gulliksen begleitet Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in seinem letzten Amtsjahr. Zeitweise gelingt es dem Regisseur, ein intimes Porträt zu erschaffen, das auch das Bild des Politikers dekonstruiert. Es ist ein Jahr, in dem der Ukraine-Krieg weiter geht, neue Nato-Mitglieder aufgenommen werden sollen und der mediale Druck sowie ein Ende des homogenen Westens den Generalsekretär konfrontieren. Kleine Momente im Auto oder ein Händeschütteln bewegen. Zwischen Politthriller und Porträt erschafft Gulliksen eine düstere Wechselseitigkeit, die Stoltenberg zugleich menschlicher und doch auch weniger greifbar macht. Momente mit zu vielen ästhetischen wirken ablenkend und lassen den Zuschauer abschweifen. Unterm Strich aber ist Facing War, wenn auch alles andere als ein Meisterwerk, ein wichtiger Beitrag im Diskurs zum aktuellen politischen Geschehen und ein selten naher Blick auf einer der Hauptakteure. – Christian Schmuck
»If God is male, then male is god.« Sind monotheistische Religionen mit Feminismus vereinbar? Diese Frage stellt sich die ukrainische Aktivistin Inna Shevchenko – und der Film eröffnet eine vielstimmige Debatte: Ein transgender Rabbi, weibliche katholische Priesterinnen, eine muslimische Pride-Moschee, iranische Exilantinnen, Pro-Life-Demonstranten, Debattierer, eine Karikaturistin von Charlie Hebdo und viele mehr kommen zu Wort. Wann spricht der Glaube, wann nur das Patriarchat? Ist das Kopftuch Symbol der Selbstermächtigung oder der Unterdrückung? Girls and Gods stellt keine einfachen Antworten bereit – aber die richtigen Fragen. – Mona Mezhoud, LMU München
»A clock without hands – that’s my thing.« Fundstücke – von der Norm verstoßen. Wirken die zügigen Bildwechsel, die Dynamik ihrer Handkamera, die Stimmen der Protagonist*innen zunächst willkürlich arrangiert, offenbart die Filmemacherin in der Verwendung dieser Technik ihr außergewöhnliches Talent. Regisseurin und Zuschauer*innen scheinen zeitgleich Leben zu entdecken und zu erleben. Spontan, unverstellt, gleichzeitig wohl komponiert, erntet dieses Werk Geschichten über das Sammeln, Suchen und Finden. Kein erhobener Zeigefinger, ganz im Gegenteil, mit viel Humor, kindlicher Neugierde und Fingerspitzengefühl schafft Varda es sich selbst und das Publikum zu Sammler*innen werden zu lassen. – Sinem Arslan, LMU München
Vielfalt des Sammelns. Eine herzförmige Kartoffel nach der Ernte, ausrangierte Haushaltsgeräte, das Musée d’Orsay, ein Lastwagen, abgelaufene Lebensmittel, kostenloser Sprachunterricht oder Mitbringsel aus Japan – was all diese scheinbar willkürlichen Dinge verbindet, ist der neugierige, solidarische Blick der Regisseurin Agnès Varda auf ihre Mitmenschen. Manche sammeln, um zu überleben, andere aus Überzeugung. Vardas Les glaneurs et la glaneuse zeigt Menschen, die dem Übersehenen und Weggeworfenen Wert geben. Allen gemeinsam ist das Gefühl gesellschaftlicher Ungleichheit und der Wunsch, Dinge zu verändern. Varda entwirft nicht nur ein liebevolles Porträt von Sammler:innen aller Art, sondern legt zugleich Missstände im sozialen Gefüge Frankreichs offen. – Alevtina Kler, LMU München
Historischer Exkurs meets Detektivgeschichte. Das Jahr ist 1973. Zum ersten Mal seit langer Zeit treffen West- und Ostblock in einem gemeinsamen Verhandlungsforum aufeinander. 2025 führt die Stimme des Regisseurs Arthur Franck in The Helsinki Effect durch die verworrene Diplomatie der KSZE-Konferenz. Dabei verwandeln puzzleartig montierte Archivaufnahmen und alberne Witze trockene Diskussionsrunden in anschauliche Geschichtslektionen. Dem essayistischen Dokumentationsfilm gelingt so eine delikate Balance zwischen kreativen Experimenten und emotionaler Ernsthaftigkeit: Die Unterzeichnung der Helsinki-Schlussakte bringt zahlreiche Menschenrechtsbegehren ins Rollen, die das Ende der Sowjetunion einläuten. Ein Schmetterlingseffekt, den Franck erfrischend hoffnungsvoll festhält. – Jaël Gallert, LMU München
Wie funktioniert Dekolonialisierung? Diese Frage steht im Zentrum für Shiro und Angela, die eine britische Bibliothek in Nairobi renovieren wollen. Sie hinterfragen die Bücherauswahl, Gebäudenamen und Sortiersysteme, während sie immer wieder mit lokalpolitischen, finanziellen und persönlichen Rückschlägen kämpfen müssen. Der sich fortsetzende Einfluss der ehemaligen Kolonialmacht erschwert die Situation nur weiter.
Immer wieder wird in der Bibliothek
gefundenes Archivmaterial im Zwischenschnitt mit der Restaurierung gezeigt. So sehen wir zugleich Konstruktion und Rekonstruktion, Kolonialisierung und Dekolonialisierung. Nur die anfangs langen Aufnahmen der leeren, chaotischen Bibliothek erhalten am Ende jedoch kein symmetrisches Bild: der Film bietet weder einfache Antworten, noch ein einfaches Ende. – Nicolai Meußling, LMU München
Der letzte von ihnen – umgeben von eisiger Leere, zwei Leichen neben sich – muss vier lichtlosen Monaten entgegen gestarrt haben. Und nahm, ob mit Absicht oder nicht, vor Einbruch der Polarnacht den Ausweg ins endgültige Nichts. Zuvor waren sie drei proppere Herren mit gesteiften Krägen und viktorianischen Bärten, die 1896 voll Entdeckereifer glaubten, mit einem Wasserstoffballon den Nordpol bezwingen zu können – und verschollen. Erst 1930 wurden ihre Überreste, Aufzeichnungen, Fotos gefunden. Auf deren Basis montiert Hunzinger eine Historie der Expedition, eine Skizze der Männer – und der Menschen, die heute ihr Schicksal erforschen. Was nebenher eine tragische Liebesgeschichte mit melodramatischer Pointe wird. Und eine erstaunlich berührenden Reflexion über die zusehends zerschleißenden Fragmente, die von einem Menschenleben bleiben. – Thomas Willmann
Besen, bücken, bleichen – drei Worte, die für Rosalba, Gregoria, und Claudia einen erbarmungslosen Berufsalltag bedeuten. Denn Dienstverträge im mexikanischen Reinigungssektor sind nicht nur unsichtbar: In den meisten Fällen existieren sie nicht. Damit öffnet der Jobmarkt ausbeuterischen Arbeitsbedingungen Tür und Tor. Verschleiert werden die Lebensrealitäten unzähliger Putzkräfte. Lebensrealitäten, die Luciana Kaplan zwischen schockierenden Erlebnisberichten und herzerwärmenden Close-Ups in den Vordergrund rückt. The Invisible Contract ist eine einfühlsame Dokumentation in schwarz-weiß, die sprachlos, ratlos und nicht selten fassungslos macht. Weil sie unbeugsame Frauen zeigt, die ihre Menschlichkeit immer wieder dort unter Beweis stellen müssen, wo andere nur Müll vermuten. – Jaël Gallert, LMU München
Wir können nicht mehr wegsehen! Der gelernte Fotograf Georg Lembergh lässt vier Frauen aus Süd- und Nordtirol ihre niederschmetternde Geschichte von sexuellem Missbrauch erzählen. Die Frauen sitzen vor der Kamera und schildern die erlittenen Übergriffe bis ins kleinste Detail, nur unterbrochen von atemberaubenden Aufnahmen des wunderschönen Tirols. Ohne unnötig aufgeladene Spannungsbögen oder andere Ablenkungen setzt uns Lembergh diesen Geschichten aus und lässt die Frauen in eigenen Worten erzählen – es ist eine Konfrontation mit der Abscheulichkeit des Menschen, welcher man im Kinosaal nicht aus dem Weg gehen kann. Die Kontrastierung von traumhaften Landschaftsaufnahmen und den zutiefst erschütternden Schilderungen erschafft ein Gefühl der traurigen Melancholie. Ein Beitrag zu einem sehr wichtigen Thema, der sich anfühlt wie ein Schlag ins Gesicht. – Christian Schmuck
Von Eintönigkeiten und dem Patriachat. Ana Ts'uyeb zeigt einen sehr persönlichen Debütfilm. Es geht um den Kampf der Frauen des indigenen Tzozil-Stammes um Autonomie und Eigenermächtigung. Im ersten Teil des Films sehen wir die Frauen die tägliche Arbeit erledigen, während sie von der Unterdrückung der Männer und dem Fehlen der eigenen Rechte berichten. Die arbeitenden Frauen zu sehen und gleichzeitig zu hören, wie sie selbst ohne eigenen Besitz oder Rechte unterdrückt werden, hat eine starke Wirkung. Leider verlässt Ts'uyeb alsbald diese Form des Erzählens und verliert den Fokus auf ihren – sehr ausdrucksstarken – Kern der Geschichte. So fällt der Film formal sowie narrativ langsam auseinander, ohne am Ende die wahre Kraft hinter dieser emanzipatorischen Geschichte klar gemacht zu haben. – Christian Schmuck
Väter brauchen Söhne. Eine urpatriarchale Überzeugung, die Juana, Margarita und Faustina früh an ihrem eigenen Leib zu spüren bekommen. Als Töchter werden sie systematisch übergangen – und bahnen sich in Li Cham deshalb ihren eigenen Weg. Mit ihrem ersten Langfilm fängt Ana Ts‘uyeb in nur 74 Minuten drei außerordentliche Emanzipationsgeschichten ein. Lange Kameraeinstellungen und immersive Ambient-Sounds bilden das Vokabular einer Bildsprache, die die drei Tzotzil-Frauen berührend frei über ihre Schicksale sprechen lässt: von verwehrten Schulabschüssen bis zu traumatischen Kindheitserinnerungen. Trotzdem bleibt nach dem Filmerlebnis kein bedauerndes Mitleid. Sondern ein Credo, das kommende Generationen in eine gerechtere Zukunft führen soll: »Men are not superior. They are the same as women.« – Jaël Gallert, LMU München
An institution entering your bedroom. Für viele indische Frauen ist die von Frauen betriebene Dehradun Women’s Helpline oft die einzige Möglichkeit, ihre Ehe zu retten. In wertfreier Atmosphäre beraten Polizistinnen Frauen in Beziehungskrisen unabhängig von Status, Bildung oder Eheform. Doch die Beziehungsprobleme ähneln sich: Misstrauen, familiäre Einmischung, häusliche Gewalt u.s.w. Die »Marriage Cops« versuchen, diese Fälle (ordentlich handschriftlich dokumentiert und in Papierakten abgelegt) mit praktischer Lebenserfahrung zu lösen. Mit Humor zeigt Regisseurin Talukdar nicht nur den Alltag der Hotline, sondern auch die bürokratische Realität einer postkolonialen indischen Gesellschaft. Ein berührender Film, der den Wunsch weckt, das Schicksal dieser Frauen weiterzuverfolgen – in ihrem Kampf für ihre Familien. – Alevtina Kler, LMU München
Respectfully, I can’t live with her anymore! Anwälte, Psychologen und die freiwilligen Marriage Cops machen sich die Rettung der Institution Ehe zur Aufgabe. Ohne einen Hauch von Privatsphäre sind in Nordindien Eheprobleme eine Angelegenheit für das ganze Dorf. Seit 2004 bearbeitet diese Beratungsstelle für Frauen rund 1000 Fälle pro Jahr. Drei Paare werden über ein Jahr hinweg bei den verhörähnlichen Terminen und in Einzelinterviews begleitet. Die Situationen werden nicht dramatisiert, sondern in ihrer Alltäglichkeit gezeigt; zwischen den Zeilen treten das postkoloniale Erbe in Form deckenhoher Aktenstapel und die Abgründe geschlechtlicher Ungleichheit deutlich hervor. – Mona Mezhoud, LMU München
»Nowhere to go from here.« Wenn im Abspann die Namen der Kühe aufgeführt werden, weiß man, wie abgelegen die Brüder Zekir, Zarif und Zani leben. Seliskar bietet uns durch verschwommene Gräser hindurch scharfe Aufnahmen aus den nordmazedonischen Bergen, wo die drei Jugendlichen ihre 500 Schafe hüten. Fernab von gutem Handyempfang und geteerten Straßen ist die Arbeit hart und der Umgangston noch härter. Die treuesten Freunde sind die Geschwister und die Hunde. In einem Spiel aus Licht und Dunkelheit, das an Caravaggio erinnert, liegt auch die Frage eingeschrieben, wohin man gehen soll, wenn es von hier aus keinen Weg gibt. – Mona Mezhoud, LMU München
Aufwachsen im Krieg ist auch abseits der in der Berichterstattung präsenten Kriegsgebiete bittere Realität. My Sweet Land stellt die seit Jahrzehnten zwischen Armenien und Aserbaidschan umkämpfte Region Bergkarabach ins Zentrum und erzählt über zwei Jahre hinweg das Aufwachsen des anfangs elfjährigen Vrej. Seine Kindheit ist von Spielen und Spaß ebenso geprägt wie von Bomben, Vertreibung, Flucht, aber auch unsicherer Rückkehr; in der Schule wird Verteidigung geübt, es gibt Camp-Urlaub im Militär-Stil inklusive Waffentrainig. Der Film ist von dem Paradoxon vom Wunsch nach Frieden und gleichzeitiger scheinbar selbstverständlicher Bereitschaft zu Verteidigung mit Waffen geprägt. Als Zuschauerin bleibt man etwas ratlos zurück: Wie soll der Kreis der gegenseitigen Gewalt je gebrochen werden? Und vor allem: Hätte der Film mehr einordnen sollen oder regt gerade diese einseitige Darstellung zum Nachdenken, Reflektieren und Recherchieren an? – Paula Ruppert
Wunderschön, aber galoppiert viel auf der Stelle. Gezeigt werden beeindruckende Aufnahmen von Wildpferden in der Natur – Bilder, perfekt für das Kino, nur erzählt wird sehr wenig. Wir sehen das fragile Ökosystem in Galicien im Norden Spaniens, das immer mehr vom Klimawandel angegriffen und von unbezähmbaren Waldbränden heimgesucht wird: ein Alltag und eine Welt, wie sie es bald so nicht mehr geben wird. Aber ohne Erzählstrang oder Erzählinstanz und mit vielen Protagonisten, die nur wenige Minuten auftauchen, fällt es schwer, eine emotionale Verbindung aufzubauen. Das mag zwar gewollt sein, kann aber nach der ersten halben Stunde auch leicht langweilig wirken, da immer nur ohne Kontextualisierung gezeigt wird, was passiert. Bis zum Ende ist das Audiovisuelle den Kinobesuch wert, aber viel hängen bleibt von der filmischen Dia-Show leider nicht. – Nicolai Meußling, LMU München
Fast, Cheap & Out of Control: So hieß einmal ein maßgeblicher Essayfilm von Errol Morris, in dem er den Ping Pong als Metapher nahm, um zu gedanklichen Höhenflügen anzusetzen. Jonas Egert hat in seinem Tischtennisfilm anderes vor. Ihm hat es der TTC Neu-Ulm angetan, der als Neugründung mittels Wild Card in die Bundesliga kam wie die Jungfrau zum Kind. Erfolgsrezept des russischen Trainers war ein internationales Team, darunter drei Russen, die wegen des Angriffskrieges jedoch gesperrt wurden. Ersatz kam aus Japan und Schweden, sportliche Rekorde in Champions League und Pokalen folgten. Großartig gefilmt ist aus nächster Nähe zu erleben, wie die flinken Protagonisten den Ball ins Visier nehmen wie ein Matador den Stier. Am Ende aber ist und bleibt dies ein Film über einen Tischtennis-Verein mit thematischer Bodenhaftung, selbst die politische Dimension, die als Steilvorlage zurückgeschmettert werden könnte, wird als flach gehaltener Ball zurückgespielt. Für einen Abschlussfilm an der HFF dennoch ein stilsicherer, konzentrierter Start. – Dunja Bialas
»Als würde ich ein Paralleluniversum beobachten.« Mit schnellen, intimen und sehr offenbarenden Bildern nimmt uns Mayer mit auf eine Entdeckungsreise ihrer ganz persönlichen Familiengeschichte. Fast schon brutal stößt die Regisseurin auf die Kindheit ihrer Mutter, ehrlich und wahrhaftig eingefangen und festgehalten durch die Super-8-Kamera des jüdischen Großvaters. Mit einem Materialmix aus Selbstportraits, Filmaufnahmen, Musik, alten Filmrollen und der eigenen Stimme als Voice Over erzählt die Filmemacherin unverblümt und direkt von der Entdeckung einer surrealen Parallelität zwischen dem Leben von Mutter und Tochter. Was verbirgt sich hinter dieser sowohl technischen als auch metaphorischen Collage? – Sinem Arslan, LMU München
Spuren der Verbindung. In ihrem Dokumentarfilmdebüt Return durchläuft Künstlerin Bar Mayer ihre Erinnerungen an die Emanzipation von ihrer ultraorthodoxen jüdischen Familie. Mit siebzehn Jahren begann sie ein neues Leben, fernab von ihrer Herkunft. Über alte Photographien und nachgestellte Szenen verfolgen wir mit Mayers Stimme aus dem Off ihre Selbstfindung. Das Medium der Photographie bringt sie schließlich wieder zurück zu ihrer Familiengeschichte, genauer gesagt zu ihrer Mutter. Der Film vollzieht eine bewegende Wende, als privates Film- und Photomaterial aus der Kindheit der Mutter gezeigt wird. Bar Mayer verfolgt auf ergreifende Weise die rätselhaften Spuren ihrer Mutter und kann ihre eigenen Sehnsüchte darin wiederfinden. Wie Tochter und Mutter für einen Moment – ein Bild – wieder zueinanderfinden, ist besonders berührend. – Amelie Hochhäusler, LMU München
Old McDonald had a farm – and still no healthcare plan. In eindringlichen Nahaufnahmen zeigt Regisseurin und Kamerafrau Britanny Shyne die Hände jener, die ernähren, aber selbst von der Hand in den Mund leben. Glaube, Feld und Familie – das ist alles, was den schwarzen Farmern von South Carolina bleibt. »I farm out of my social security check«, klagt der 89-jährige Farmer Williams. Während staatliche Subventionen klagefreudige weiße Farmer erreichen, sorgen sich die Protagonisten um die Zukunft ihrer Kinder. Jede Einstellung ein Schnappschuss zwischen ländlicher Idylle und Verlassenheit. Immer wieder durchbricht anschwellender Lärm der Erntemaschinen die langen Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Die leisesten Klänge erhalten Präsenz: Muhen, Rascheln und karge Worte. Die Gemeinschaft hält zusammen. – Mona Mezhoud, LMU München
Gletscher und Geometrie. Rote Quadrate, die zu tanzen beginnen, Eis und Gletscher in verschiedenen Formen und Farben. Erzählt wird die Geschichte der britischen Künstlerin Wilhelmina Barns-Graham, genannt Willie, anhand ihrer Werke, Notizbücher und Fotos. Regisseur Mark Cousins reist zu wichtigen Stationen ihres Lebens, etwa St. Ives in Cornwall, Schottland und in die Schweiz zu den Resten des Grindelwaldgletschers, den Willie 1949 erklomm und der ihre Kunst veränderte und prägte. Wie verwandeln sich Orte in Kunst? Trotz ihres langen und produktiven Künstlerinnenlebens (1912-2004) fehlt Willie die Aufmerksamkeit, die ihrem Œuvre gebührt. 1912 als ältestes Kind einer nicht besonders reichen, schottischen Familie geboren, wollte ihr der Vater den Besuch der Kunsthochschule in Edinburgh verbieten, doch zum Glück intervenierte eine Tante. Mit Mathematik, Geometrie und Farbe gelingt es Wilhelmina Barns-Graham, neue Welten auf Leinwände zu bannen. – Ingrid Weidner
The Artist’s Brain. Wie ein Museumsbesuch – nur ohne das lästige Museum zwischen uns und der Kunst. Der Gewinner des DOK.fest Edit Awards, Timo Langer, schafft es, uns unmittelbar in die Gemälde der Künstlerin Wilhelmina Barns-Graham zu ziehen. Durch einen humorvollen Erzähler erhalten wir einen immersiven Zugang zur Kunst, der ganz ohne komplexe Sprache auskommt. In ihrem Notizbuch entstehen Gebete aus Farben. Wir entwickeln eine Faszination für Zahlen, Farben, Formen, Gletscher und das Meer von St. Ives. Ein Film, der für die Kinoleinwand und Dolby Surround gemacht ist. – Mona Mezhoud, LMU München
Rohkost und Verblendung. Diesen verstrahlten Schwurblern, selbsternannten Heilern und rechten Reichsbürgern 108 Minuten lang zuzuhören, verursacht Schmerzen, bringt einen aber auch zum Lachen. Soldaten des Lichts leuchtet eine verquere Parallelwelt aus, indem die Regisseure einfach die Kamera draufhalten und – mit nur einer Ausnahme – keine Fragen stellen. Chapeau für diese Leistung, nicht laut zu schreien, wenn das Gesagte unerträglich wird. Im Mittelpunkt steht der Schwätzer David, der als Mr. Raw mit seinem Geschwurbel von Verschwörungstheorien, Rohkost und Pülverchen sein Geld verdient. Eigentlich alles auch ziemlich lustig, wenn er tatsächlich andere überzeugen möchte, die Erde sei eine Scheibe. Das Publikum lacht häufig und reibt sich oft verdutzt die Augen. Doch da gibt es einen jungen, sehr schmalen blonden Mann, der oft etwas abseits steht, verloren in diesem Kosmos, doch mit dem Wunsch, dazuzugehören. David hat eigentlich keine Ahnung, was Timo fehlt, möchte ihn aber mit Rohkost heilen, was bei Psychosen definitiv der falsche Therapieansatz ist. Es sind die traurigen Augen von Timo, die einen nicht mehr loslassen. – Ingrid Weidner
Toxische Kräuter. Eine Gruppe um den selbsternannten König Peter herum, vor allem der Food-Influencer David aka Mr. Raw, hat es den Filmemachern angetan. Er bekommt großen Raum, seine Orthorexie-Ideologie zu verbreiten. Krebs und Psychosen »heilt« er mit Brennnessel-Smoothies und teuren Nahrungsergänzungsmitteln, das Geschäftsmodell ist selbstentlarvend. Die Gruppe in Köln wird von Anti-Faschisten angegriffen, die Fenster sind vernagelt, die Hausfassade beschmiert. Die Gruppe muss umziehen. Wieder einmal wird deutlich, wie problematisch das Portrait derer werden kann, die einem selbst, die Filmemacher inkludierend, zutiefst suspekt sind. Ungefiltert, unwidersprochen und unsanktioniert dürfen die Protagonisten den Holocaust in Anführungszeichen setzen, und lange Diskussionen über die Erde als flache Scheibe abgehalten werden. Das wirkt nicht denunzierend, was man dem Film zugute halten muss, aber auch nicht erhellend, denn die veganen Influencer um die Querdenker herum, deren Wirken bis in die rechtsextremistischen Reichsbürger hineinreicht, ist hinlänglich bekannt. – Dunja Bialas
»In der Endzeit ist alles möglich«, sagt ein selbsternannter Geistheiler. Dieser Film akzeptiert erstmal, dass Menschen das glauben – und schaut, was es mit ihnen macht. Ruhig, alltäglich, ohne Zwang zum Rechthaben guckt er sich um im Territorium zwischen »Reichsbürgern«, Esoterik, Heilnahrungs-Geschäft. Da thront sogar noch der jüngst verhaftete »Peter I.« vom »Königreich Deutschland«. Im Fokus aber steht der umtriebige Eso-Influencer »Mister Raw«. Dem man beim Abdriften von Spiritualität über »Flache Erde«-Schwurbel zum Kryptowährungs-Bro zusehen kann. Schillernd zwischen Trickbetrüger und selbst Opfer seiner abstrusen Gedankenwelt als Reaktion auf die Welt-Zumutungen. Bei ihm auf Heilung hofft der schizophrene Timo: Eine menschliche Tragödie mit Magenschwinger-Ende. – Thomas Willmann
Tata (R: Lina Vdovii, Radu Ciorniciuc, 2024)
Was machst du, wenn die Gewalt von einst plötzlich hilflos vor dir sitzt? In Tata wird aus einem Täter ein hilfloses Opfer – und die Tochter zur Beobachterin einer unerwarteten Umkehr. Der Film begleitet die Journalistin, die sich ihrem gewalttätigen Vater nach Jahren der Distanz erneut nähert, als dieser selbst misshandelt wird. Dabei stellt Tata eindrücklich die Frage: Was muss ein Mensch erleben, um sich zu verändern? Verzeihen erscheint hier nicht als Schwäche, sondern als aktiver, schmerzhafter Prozess. Die offene Kommunikation und die direkte Kameraarbeit schaffen eine schonungslose Nähe, die berührt – und fordert. – Lisa Islinger, LMU München
Der Zug als Sinnbild der Zeit. Das 20. Jahrhundert: Zwei Weltkriege, Industrialisierung, Trümmer, Wiederaufbau...über all das und mehr erzählt Maciej Drygas anhand von restauriertem Found-Footage-Material. Steter Protagonist ist die Eisenbahn, welches mal als technische Innovation fungiert, mal als Transportmittel in den Untergang. Dabei lässt er stets die Bilder für sich sprechen. Keine Off-Stimme oder textliche Begleitung stört die Aufnahmen, die mehr zu erzählen haben, als es ein Erzähler je abdecken könnte. Intensives Sounddesign gepaart mit einer – mit den Geräuschen von Lokomotiven verwobenen – Filmmusik, die durch Mark und Bein geht, rahmt das Geschehen ein. Ein faszinierendes Projekt, das von Leid und Freude, Aufstieg und Untergang, von Fort- und Rückschritt erzählt. – Christian Schmuck
Oh Captain! My Captain! Carlo Kohal begleitet den 16-jährigen Rudner über vier Jahre an Bord der Panerai, einem Containerschiff, das zur neuen Heimat wird. In dieser menschenunfreundlichen Umgebung aus Stahl und Regen träumt der Jugendliche davon, Kapitän zu werden. Es entstehen Freundschaften – flüchtig, aber prägend. Die Musik der zweifach ausgezeichneten Mirjam Skal füllt den Raum, den die zurückhaltenden Protagonisten ihr überlassen – unaufdringlich, aber eindringlich. Die Welt an Bord wirkt wie ein fremder Planet: Tag und Nacht verschwimmen, ebenso wie die Grenzen zwischen den Häfen. Kohal fängt diese Transformation in scharfen, satt kolorierten Bildern ein. Ein Film, der tiefe Einsamkeit spürbar macht. – Mona Mezhoud, LMU München
»Nur der Teufel hat keine Hoffnung« – diese bittere Aussage gegen Ende des Films ist der einzige Beleg für Optimismus, in einem sonst nihilistischen Bericht über die Folgen von Nukleartests in Kasachstan. Kurmashevas Debütfilm beleuchtet mehrere Schicksale rund um das mit radioaktiver Strahlung verseuchte Gebiet. Wir verfolgen Familien, die von Generation zu Generation gesundheitlich unter den Folgen der Tests leiden. Wissenschaftler und Ärzte, die sich mit dem Thema befassen, kommen zu Wort. Die Bilder des Testgebiets schockieren, beklemmen und sind begleitet vom Kampf einer Bauernfamilie für Gerechtigkeit und die Gesundheit der jüngsten Töchter. Kurmasheva zeigt und erzählt viel in 80 Minuten, das lädt den Film trotz seiner ruhigen Erzählweise sehr stark auf, bis zur Überladung. Das wirkt auch, als würde die Filmemacherin ihren Bildern misstrauen, die mehr als genug erzählen, zusätzlich begleitet von Off-Kommentaren, weiteren Interviews oder noch einer kleinen Nebengeschichte. Trotz dieser Konzentrationsschwächen ist der Film ein Schlag in die Magengrube, der noch lange nach dem Kinobesuch im Gedächtnis bleibt. – Christian Schmuck
Wie wenig sich verändert und wie wütend das macht... Ausschließlich mit Archivmaterial und gut platzierten Needledrops zeichnet der Film ein klares Bild der Präsidentschaft von George Bush und seiner ökologischen Politik. Sehr prägnant werden Anfang und Ende seiner Präsidentschaft kontrastiert und der Einfluss großer Ölkonzerne gezeigt, nicht nur auf seine Amtszeit und Wahlversprechen, sondern auch auf die Jahrzehnte danach. Oft bleibt ein Lachen im Hals stecken, wenn Parallelen zur heutigen Zeit auffallen. Dafür ist eine direkte Gegenüberstellung mit aktuellen Bildern nicht nötig. Dass nur Archivmaterial gezeigt wird, ist keineswegs ein Nachteil und wird dank des hohen Tempos auch nie langweilig. Vielmehr kann der Zuschauer selbst Parallelen ziehen, ihm wird ein deutlich schärferes Bild dieser Zeit vermittelt. – Nicolai Meußling, LMU München
Hausgemachter Weltuntergang. Abgaswolken, die die ganze Welt bedecken, unkontrollierbare Brände, die Wälder fressen, und Gletscher, die ins Nichts der Zeit schmelzen. Kontextualisiert durch Aussagen von Wissenschaftlern und Politikern um George Bush, die Lobby ist nur durch interne Dokumente präsent. Immer wiederkehrende Begleitung: ein weißer Zeitstrahl von nur etwa 50 Jahren und eine rote Emissions-Kurve, die in kürzester Zeit jede Skala sprengt. Kaum deutlicher kann gemacht werden, welches Zerstörungspotential einige wenige Männer hatten, als es dieser Film tut, ausschließlich montiert aus Found Footage. Ein, sich gerade wiederholender, Konflikt von Wissenschaft und Kapitalismus, einer neoliberalen Ideologie des Wachstums und den anfangs energischen, später entmutigten, erschöpften, ignorierten Appellen der Wissenschaft. – Anna Schellkopf, LMU München
»Gaza is my home.« Sie ist real, diese Sehnsucht, nach Heimat, Familie und Gaza. Generationsübergreifend verbinden sich die Erinnerungen Zuaiters mit denen des heranwachsenden Protagonisten Ahmed. Seine amateurhaften Handyaufnahmen zeigen sowohl dem Publikum als auch der Regisseurin, ein Leben und eine Welt voller Glück und Lebensfreude. Als »Gaza Parkour« verbringen Ahmed und seine Freunde ihre Stunden in und um Gaza. Mit Mut, Leichtigkeit und unerschöpflicher Energie überwinden die Jugendlichen Sand, Ruinen und zerbombte Flughäfen. Liebevoll bettet Zuaiter die kraftvollen und unverfälscht direkten Dokumentationen des Hauptdarstellers in ihre eigenen professionellen, ruhigen, fast schon zurückhaltenden Filmaufnahmen ein und schafft somit Raum für Zukunft und Vergangenheit. – Sinem Arslan, LMU München
Der Spielplatz in Trümmern – die Trümmer als Spielplatz. Friedhöfe, zerbombte Flughäfen und Ruinen: über alles springen Ahmed Matar und die Parkourgruppe PK Gaza. Virtuell zeigt er Areeb Zuaiter – die nicht nach Gaza kann – seine Parkour-Videos. Dort kommt es zwar zu Verletzungen, doch anders als Zivilisten im Krieg, kennen sie die Gefahr. Der Film zeigt so nicht nur Widerstandsfähigkeit im Kriegsgebiet – das wäre zu einfach. Denn Parkour ist für die Jugendlichen sowohl Eskapismus als auch Fluchtmöglichkeit. Sind sie gut genug, können sie an internationalen Wettbewerben teilnehmen und aus Gaza entkommen. Das setzt ihre Risiken in einen neuen Kontext, bei dem die Gänsehaut bleibt und einem fast durchgehend ein bisschen übel ist, während gleichzeitig das Video als Medium untersucht und eine fast 10 Jahre lange Geschichte von Erinnerungen erzählt wird. – Nicolai Meußling, LMU München