10.05.2025

DOK.fest-Marathon

Dokfest München 2025

Der längere Atem: Schnelle Kurzkritiken zu den Filmen des 40. DOK.fest München (in alphabetischer Reihenfolge)

Von artechock-Redaktion

In Koope­ra­tion mit der LMU München.

ARCHEOLOGY OF LIGHT (Kanada 2024 · R: Sylvain L’Esperance · Stranger Than Fiction)

Archeolgoy of Light
(Foto: DOK.fest München | Sylvain L’Espérance)

Wasser, Erde, Wind — und alles verbunden durch das Licht. Diese fast schon meditativ anmutende Erfahrung spielt mit dem Schein und dem Sein der Dinge: extreme Nahauf­nahmen, Antäu­schungen, Abstrak­tion hin zu einneh­menden Farb­flächen und Mustern, die inein­ander fließen. Getragen von einem Klang­tep­pich aus Rauschen, Tier­geräu­schen und atmo­sphäri­scher, aber zurück­hal­tender Musik. Gebrochen nur von museal anmu­tender Präsen­ta­tion einzelner Objekte aus der Natur, losgelöst von jeder Bindung an Realität und Umgebung, die teilweise fast eine klinische Distanz entwi­ckelt. Hohe Kontraste in Farbe und Belich­tung erzeugen nahezu unwirk­liche Bilder einer fast fremd­artig wirkenden Welt, die dennoch eindeutig die unsere ist — und am Ende in Smok und grell blen­dendem Licht verschwindet. – Anna Schell­kopf

Drauf­sicht. An der menschen­leeren, schroffen Küste Québecs erkundet Sylvain L’Espérance die Ober­flächen der Natur. Licht streift in allen Spektren von grau und braun mal behutsam mal reflex­artig über Grashalme, Wasser und Felswände und macht deren Äußeres zum zentralen Gegen­stand der Bild­sprache, vari­an­ten­reich montiert auf die glatte Lein­wand­fläche. Die detail­ver­ses­senen Nahauf­nahmen könnten foto­gra­fisch wirken – Seiten eines Bild­bandes – doch in Bewegung, Dauer und Ton sticht das Filmische praktisch plastisch hervor. Zwischen Dröhnen und Flüstern von Wind­rau­schen und Wellen­schlägen wird das Publikum Teil der auralen Land­schaft im Kinosaal. Jedes Räuspern hallt doppelt in der Wahr­neh­mung, verschmilzt zum Gesamten. Akribisch legt Archeo­logy of Light Sinnes­wahr­neh­mungen und die Patina des Augen­blicks frei. – Lee Rede­pen­ning

È A QUESTO PUNTO CHE NASCE IL BISOGNO DI FARE STORIA (AT/PT 2024 · R: Constanze Ruhm · Empowered)

È A QUESTO PUNTO CHE NASCE IL BISOGNO DI FARE STORIA
(Foto: DOK.fest München | Constanze Ruhm)

Rekon­struk­tion der »Kostbaren«. Die Künst­lerin und Filme­ma­cherin Constanze Ruhm nähert sich in ihrem soghaften Essay den »Preziösen« an, einer Frau­en­be­we­gung der Pariser Salon­kultur. Abwehr­stra­te­gien ließen nicht auf sich warten: Molière gab die strei­tenden Intel­lek­tu­ellen in »Précieuses ridicules« der Lächer­lich­keit preis. Auf den Spuren der italie­ni­schen Femi­nistin Carla Lonzi insze­niert Ruhm Bilder und Schriften des 17. Jahr­hun­derts und erzählt von der langen Geschichte der Gewalt gegen Frauen. Nach­richten über Verge­wal­ti­gungen laufen über den fiktiven femi­nis­ti­schen Radio­sen­ders »Radio Dafne«, ein zersplit­terter Spiegel reflek­tiert leit­mo­ti­visch den Übergriff auf die Frauen. Ruhm arbeitet suggestiv und verfüh­re­risch, versagt sich Gewiss­heiten und Akti­vismus und kann doch mit den Mitteln der weib­li­chen Kunst wunderbar aufrüt­teln. – Dunja Bialas

FACING WAR (Norwegen 2025 · R: Tommy Gulliksen · Reframing History)

Der Krieg in geschlos­senen Räumen. Tommy Gulliksen begleitet Nato-Gene­ral­se­kretär Jens Stol­ten­berg in seinem letzten Amtsjahr. Zeitweise gelingt es dem Regisseur, ein intimes Porträt zu erschaffen, das auch das Bild des Poli­ti­kers dekon­stru­iert. Es ist ein Jahr, in dem der Ukraine-Krieg weiter geht, neue Nato-Mitglieder aufge­nommen werden sollen und der mediale Druck sowie ein Ende des homogenen Westens den Gene­ral­se­kretär konfron­tieren. Kleine Momente im Auto oder ein Hände­schüt­teln bewegen. Zwischen Polit­thriller und Porträt erschafft Gulliksen eine düstere Wech­sel­sei­tig­keit, die Stol­ten­berg zugleich mensch­li­cher und doch auch weniger greifbar macht. Momente mit zu vielen ästhe­ti­schen wirken ablenkend und lassen den Zuschauer abschweifen. Unterm Strich aber ist Facing War, wenn auch alles andere als ein Meis­ter­werk, ein wichtiger Beitrag im Diskurs zum aktuellen poli­ti­schen Geschehen und ein selten naher Blick auf einer der Haupt­ak­teure. – Christian Schmuck

(K)EINEN TON SAGEN (Italien 2024 · R: Georg Lembergh ·)

Wir können nicht mehr wegsehen! Der gelernte Fotograf Georg Lembergh lässt vier Frauen aus Süd- und Nordtirol ihre nieder­schmet­ternde Geschichte von sexuellen Miss­brauch erzählen. Die Frauen sitzen vor der Kamera und schildern die erlei­deten Über­griffe bis ins kleinste Detail, nur unter­bro­chen von atem­be­rau­benden Aufnahmen des wunder­schönen Tirols. Ohne unnötig aufge­la­dene Span­nungs­bögen oder andere Ablen­kungen setzt uns Lembergh diesen Geschichten aus und lässt die Frauen in eigenen Worten erzählen – es ist eine Konfron­ta­tion mit der Abscheu­lich­keit des Menschen, welcher man im Kinosaal nicht aus dem Weg gehen kann. Die Kontras­tie­rung von traum­haften Land­schafts­auf­nahmen und den zutiefst erschüt­ternden Schil­de­rungen erschafft ein Gefühl der traurigen Melan­cholie. Ein Beitrag zu einem sehr wichtigen Thema, der sich anfühlt wie ein Schlag ins Gesicht. – Christian Schmuck

LI CHAM (Mexiko 2024 · R: Ana Ts'uyeb · Empowered)

Von Eintö­nig­keiten und dem Patriachat. Ana Ts'uyeb zeigt einen sehr persön­li­chen Debütfilm. Es geht um den Kampf der Frauen des indigenen Tzozil-Stammes um Autonomie und Eige­ner­mäch­ti­gung. Im ersten Teil des Films sehen wir die Frauen die tägliche Arbeit erledigen, während sie von der Unter­drü­ckung der Männer und dem Fehlen der eigenen Rechte berichten. Die arbei­tenden Frauen zu sehen und gleich­zeitig zu hören, wie sie selbst ohne eigenen Besitz oder Rechte unter­drückt werden, hat eine starke Wirkung. Leider verlässt Ts'uyeb alsbald diese Form des Erzählens und verliert den Fokus auf ihren – sehr Ausdrucks­starken – Kern der Geschichte. So fällt der Film formal sowie narrativ langsam außein­ander, ohne am Ende die wahre Kraft hinter dieser eman­zi­pa­to­ri­schen Geschichte klar gemacht zu haben. – Christian Schmuck

SEEDS (USA 2024 · R: Brittany Shyne · This is America)

Seeds
(Foto: DOK.fest München | Brittany Shyne)

Old McDonald had a farm – and still no health­care plan. In eindring­li­chen Nahauf­nahmen zeigt Regis­seurin und Kame­ra­frau Britanny Shyne die Hände jener, die ernähren, aber selbst von der Hand in den Mund leben. Glaube, Feld und Familie – das ist alles, was den schwarzen Farmern von South Carolina bleibt. »I farm out of my social security check«, klagt der 89-jährige Farmer Williams. Während staat­liche Subven­tionen klage­freu­dige weiße Farmer erreichen, sorgen sich die Prot­ago­nisten um die Zukunft ihrer Kinder. Jede Einstel­lung ein Schnapp­schuss zwischen länd­li­cher Idylle und Verlas­sen­heit. Immer wieder durch­bricht anschwel­lender Lärm der Ernte­ma­schinen die langen Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Die leisesten Klänge erhalten Präsenz: Muhen, Rascheln und kargen Worte. Die Gemein­schaft hält zusammen. – Mona Mezhoud, LMU München

SOLDATEN DES LICHTS (Deutsch­land 2024 · R: Julian Vogel und Johannes Büttner · Nie wieder ist jetzt?)

Rohkost und Verblen­dung. Diesen verstrahlten Schwurb­lern, selbst­er­nannten Heilern und rechten Reichs­bür­gern 108 Minuten lang zuzuhören, verur­sacht Schmerzen, bringt einen aber auch zum Lachen. Soldaten des Lichts leuchtet eine verquere Paral­lel­welt aus, indem die Regis­seure einfach die Kamera drauf­halten und – mit nur einer Ausnahme – keine Fragen stellen. Chapeau für diese Leistung, nicht laut zu schreien, wenn das Gesagte uner­träg­lich wird. Im Mittel­punkt steht der Schwätzer David, der als Mr. Raw mit seinem Geschwurbel von Verschwörungs­theo­rien, Rohkost und Pülver­chen sein Geld verdient. Eigent­lich alles auch ziemlich lustig, wenn er tatsäch­lich andere über­zeugen möchte, die Erde sei eine Scheibe. Das Publikum lacht häufig und reibt sich oft verdutzt die Augen. Doch da gibt es einen jungen, sehr schmalen blonden Mann, der oft etwas abseits steht, verloren in diesem Kosmos, doch mit dem Wunsch, dazu­zu­gehören. David hat eigent­lich keine Ahnung, was Timo fehlt, möchte ihn aber mit Rohkost heilen, was bei Psychosen definitiv der falsche Thera­pie­an­satz ist. Es sind die traurigen Augen von Timo, die einen nicht mit mehr loslassen. – Ingrid Weidner

Toxische Kräuter. Eine Gruppe um den selbst­er­nannten König Peter herum, vor allem der Food-Influencer David aka Mr. Raw, hat es den Filme­ma­chern angetan. Er bekommt großen Raum, seine Orthor­exie-Ideologie zu verbreiten. Krebs und Psychosen »heilt« er mit Brenn­nessel-Smoothies und teuren Nahrungs­er­gän­zungs­mit­teln, das Geschäfts­mo­dell ist selbst­ent­lar­vend. Die Gruppe in Köln wird von Anti-Faschisten »ange­griffen«, die Fenster sind vernagelt, die Haus­fas­sade beschmiert. Die Gruppe muss umziehen. Wieder einmal deutlich wird, wie proble­ma­tisch das Portrait derer werden kann, die einem selbst, die Filme­ma­cher inklu­die­rend, zutiefst suspekt sind. Unge­fil­tert, unwi­der­spro­chen und unsank­tio­niert dürfen die Prot­ago­nisten den Holocaust in Anfüh­rungs­zei­chen setzen, und lange Diskus­sionen über die Erde als flache Scheibe passieren. Das wirkt nicht denun­zie­rend, was man den Film zugute halten muss, aber auch nicht erhellend, denn die veganen Influencer um die Quer­denker herum, deren Wirken bis in die rechts­extre­mis­ti­schen Reichs­bürger hinein­rei­chen, ist hinläng­lich bekannt. – Dunja Bialas

WE LIVE HERE (Kasach­stan 2024 · R: Zhanana Kurmas­heva · Macht euch die Erde untertan?)

»Nur der Teufel hat keine Hoffnung« – diese bittere Aussage gegen Ende des Films ist der einzige Beleg für Opti­mismus, in einem sonst nihi­lis­ti­schen Bericht über die Folgen von Nukle­ar­tests in Kasach­stan. Kurmas­hevas Debütfilm beleuchtet mehrere Schick­sale rundum das mit radio­ak­tiver Strahlung verseuchte Gebiet. Wir verfolgen Familien, die von Gene­ra­tion zu Gene­ra­tion gesund­heit­lich unter den Folgen der Tests leide. Wissen­schaftler und Ärzte, die sich mit dem Thema befassen, kommen zu Wort. Die Bilder des Test­ge­biets scho­ckieren, beklemmen und sind begleitet vom Kampf einer Bauern­fa­milie für Gerech­tig­keit und die Gesund­heit der jüngsten Töchter. Kurmas­heva zeigt und erzählt viel in 80 Minuten, das lädt den Film trotz seiner ruhigen Erzähl­weise sehr stark auf, bis zur Über­la­dung. Das wirkt auch, als würde die Filme­ma­cherin ihren Bildern miss­trauen, die mehr als genug erzählen, zusätz­lich begleitet von Off-Kommen­taren, weiteren Inter­views oder noch einer kleinen Neben­ge­schichte. Trotz dieser Konzen­tra­ti­ons­schwächen ist der Film ein Schlag in die Magen­grube, der noch lange nach dem Kino­be­such im Gedächtnis bleibt. – Christian Schmuck