10.05.2025

DOK.fest-Marathon

Dokfest München 2025

Der längere Atem: Schnelle Kurzkritiken zu den Filmen des 40. DOK.fest München (in alphabetischer Reihenfolge)

Von artechock-Redaktion

In Koope­ra­tion mit der LMU München.

ARCHEOLOGY OF LIGHT (Kanada 2024 · R: Sylvain L’Esperance · Stranger Than Fiction)

Archeolgoy of Light
(Foto: DOK.fest München | Sylvain L’Espérance)

Wasser, Erde, Wind — und alles verbunden durch das Licht. Diese fast schon meditativ anmutende Erfahrung spielt mit dem Schein und dem Sein der Dinge: extreme Nahauf­nahmen, Antäu­schungen, Abstrak­tion hin zu einneh­menden Farb­flächen und Mustern, die inein­ander fließen. Getragen von einem Klang­tep­pich aus Rauschen, Tier­geräu­schen und atmo­sphäri­scher, aber zurück­hal­tender Musik. Gebrochen nur von museal anmu­tender Präsen­ta­tion einzelner Objekte aus der Natur, losgelöst von jeder Bindung an Realität und Umgebung, die teilweise fast eine klinische Distanz entwi­ckelt. Hohe Kontraste in Farbe und Belich­tung erzeugen nahezu unwirk­liche Bilder einer fast fremd­artig wirkenden Welt, die dennoch eindeutig die unsere ist — und am Ende in Smok und grell blen­dendem Licht verschwindet. – Anna Schell­kopf, LMU München

Drauf­sicht. An der menschen­leeren, schroffen Küste Québecs erkundet Sylvain L’Espérance die Ober­flächen der Natur. Licht streift in allen Spektren von grau und braun mal behutsam mal reflex­artig über Grashalme, Wasser und Felswände und macht deren Äußeres zum zentralen Gegen­stand der Bild­sprache, vari­an­ten­reich montiert auf die glatte Lein­wand­fläche. Die detail­ver­ses­senen Nahauf­nahmen könnten foto­gra­fisch wirken – Seiten eines Bild­bandes – doch in Bewegung, Dauer und Ton sticht das Filmische praktisch plastisch hervor. Zwischen Dröhnen und Flüstern von Wind­rau­schen und Wellen­schlägen wird das Publikum Teil der auralen Land­schaft im Kinosaal. Jedes Räuspern hallt doppelt in der Wahr­neh­mung, verschmilzt zum Gesamten. Akribisch legt Archeo­logy of Light Sinnes­wahr­neh­mungen und die Patina des Augen­blicks frei. – Lee Rede­pen­ning, LMU München

Strahl­kraft des Kinos. In kontem­pla­tiven Bildern fertigt Sylvain L’Espérance eine Phäno­me­no­logie des Lichts an, beob­achtet, wie es sich in Refle­xionen auf dem Wasser, in Konkur­renz mit den Wolken, im Spiel mit Blumen und Ästen verhält. Ohne Voice-Over nehmen wir dieses Natur­schau­spiel wahr, bleiben an grünen Polar­lich­tern hängen, sehen uns mit einem psyche­de­li­schen Tanz konfron­tiert, dann, wenn sich die Strahlen nicht mehr kontrol­lieren lassen, in zittrige, fahrige Licht­punkte zerfallen. Das wirkt bedroh­lich, später beru­hi­gend; bleibt immer faszi­nie­rend und schön.
L’Espérance montiert nicht nach Kontra­punkten, ist Beob­achter, verwei­gert sich, die Kontrolle über das Licht zu erlangen. Wie auch, besitzt es doch selbst keine Autonomie, geht von der Sonne aus, diesem hellsten aller Punkte, der schließ­lich auch die Kamera besiegt: Was ist Licht ohne Bezugs­punkt, was sehen wir, wenn wir in die Sonne starren? – Benedikt Gunten­taler

THE BAD GUY (Belgien, USA 2024 · R: Louise van Assche · This is America)

Was können wir tun, um unsere Kinder zu schützen? Kaum ein Thema beschäf­tigt die US-ameri­ka­ni­sche Gesell­schaft so sehr, wie die immer häufiger passie­renden Amokläufe an Schulen. Louise van Assche stellt Nach­for­schungen an, wie sich diese auf Notfälle vorbe­reiten. Sie selbst sieht mit Sorge der Schulzeit ihrer Tochter entgegen. Dabei gelingt es ihr jedoch leider nicht, dieses große Thema in ein neues Licht zu rücken. Endlose Inter­views und deplat­zierte Thril­ler­mo­mente können zu keiner Sekunde etwas zum Diskurs beitragen. Schließ­lich bricht der Film ein Stück weit unter der Last seines schweren Themas ein. Am Ende bleibt nur das hängen, was man ohnehin schon vorher wusste: Amokläufe sind eine Tragödie, die auch mit der Bewaff­nung von Lehrern nicht zwangs­läufig entschärft werden können. Irri­tie­rend ist, dass sich die Doku kaum damit befasst, ob das Waffen­ge­setz in Texas ein Faktor für jene tragi­schen Vorfälle sein könnte. – Christian Schmuck

Ungläubig starrt die US-Teen­agerin – ihre Augen groß, als würden sie halb in die Vision schauen einer Welt, wo sowas denkbar ist. »That’s crazy!«, sagt sie. Was sie so erstaunt? Dass in anderen Ländern in der Schule nicht regel­mäßig verpflich­tende Drills zum Verhalten bei Amokläufen statt­finden. Weil Amokläufe keine Alltags-Norma­lität sind. Der Film beginnt etwas ungelenk: Merklich zur Infor­ma­ti­ons­mit­tei­lung insze­nierte Szenen, zuviel Musik. Doch dass die (Co-)Regis­seurin eine aus Belgien nach Texas gezogene junge Mutter ist, macht bald einen unüb­li­cheren, wenig an Thesen inter­es­sierten Zugang zum Thema auf. Und man staunt mit ihr frustiert darüber, wie die USA sich in eine selbst­ver­s­tär­kende Spirale manö­vriert hat der Norma­li­sie­rung des Ausnah­me­zu­stands. – Thomas Willmann

BLAME (Schweiz 2025 · R: Christian Frei · Macht euch die Erde untertan?)

Wer ist schuld? Ein beliebtes Spiel. Doch was passiert, wenn Forschende am digitalen Pranger vorver­ur­teilt werden, wenn in offi­zi­ellen Anhörungen die Ankläger gleich die Antworten geben und die Ange­klagten nicht mehr zu Wort kommen lassen? In Blame zeigt Regisseur Christian Frei in einer Mischung aus Thriller und Lang­zeit­be­ob­ach­tung, wie die Grund­lagen eines demo­kra­ti­schen und wissen­schafts­ba­sierten Diskurses verschwinden und Verschwörungs­theo­rien wissen­schaft­liche Ergeb­nisse sabo­tieren. Erzählt wird die Geschichte von zwei Wissen­schaft­lern und einer Wissen­schaft­lerin aus den USA, Singapur und China, die schon lange zu Sars-Viren forschen. Die drei geraten in einen Strudel von Desin­for­ma­tion und Diffa­mie­rung. Dumm nur, dass solche Mach­spiele Viren nicht inter­es­sieren und die nächste Pandemie nur einige Muta­tionen entfernt lauert. – Ingrid Weidner

BOALÂNDIA (Brasilien, Deutsch­land 2024 · R: Patrik Thomas, Mathias Reitz Zausinger · Stranger Than Fiction)

Wider­s­tän­diges Filmen. Über 3 Jahre hinweg verfolgt Boalândia verschie­dene Kunst­formen in den Städten und Provinzen Brasi­liens. Im Amazonas doku­men­tieren indigene Völker ihre Lebens­weise, um ihre eigene Existenz zu sichern: »By us, for us«, heißt es. In den Städten hingegen leisten Film­kol­lek­tive poli­ti­schen Wider­stand. Beiden Räumen wird in Boalândia inter­na­tio­nale Sicht­bar­keit verliehen. Was den Film zudem begleitet, ist die unmit­tel­bare Ausein­an­der­set­zung mit dem eigenen Medium: Die Regis­seure Patrik Thomas und Mathias Reitz Zausinger beob­achten das Filmen anderer. Die Kraft des Filme­ma­chens wird in dieser Bezie­hungs­ar­beit hervor­ge­hoben, indem die Aufnahmen der Akteure zeitweise auch zu denen werden, die wir sehen. So erscheint jede doku­men­tierte Wirk­lich­keit als relevant. – Amelie Hoch­häusler, LMU München

CLEANING & CLEANSING (Öster­reich 2024 · R: Thomas Fürhapter · Brave New Work?)

Mit der konzen­trierten Kraft reiner Beob­ach­tung widmet sich der Öster­rei­cher Thomas Fürhapter dem Putzen und der Säuberung. Es geht ihm nicht um neuro­ti­sche Verhal­tens­weisen wie Wasch­zwang, auch nicht um tech­ni­sche Details von Laugen und Gerät­schaften, sondern um das Sauber­ma­chen im öffent­li­chen Raum, ob das nun Kran­ken­häuser, Schulen, Groß­wä­sche­reien, Museen oder U-Bahnhöfe sind. Er inter­es­siert sich für die pure Phäno­me­no­logie des Putzens. Sein Blick ist wohltuend klar, manchmal auch schmerz­haft genau: krude Fleisch­reste im Schlachthof, Blut­fle­cken im Kreißsaal, die Tötungs­stätten des KZ Maut­hausen. Die durch die Montage ungerührt heraus­ge­stellte Ähnlich­keit der verschie­denen Säube­rungs­akte ist bei aller Gelas­sen­heit der Kamera das Aufre­gende an diesem Film. Fürhapter fügt Szenen ritueller Waschungen im reli­giösen Kontext oder auch die christ­liche Taufe ein. So werden die Grenzen zwischen Profa­nie­rung und Sakra­li­sie­rung der Reinigung listig aufge­hoben. – Wolfgang Lasinger

Sauber machen: Wischen, Fegen, Saugen, Kratzen in Schulen, Kran­ken­häu­sern, Museen, KZ-Gedenks­tätten und Moscheen. Cleaning & Cleansing zeigt Menschen bei der Arbeit. Unab­ding­bare, gesell­schaft­lich unter­be­wer­tete Arbeit. Der Film leistet mit unauf­ge­regten, klaren Totalen, die Platz für die Personen und nicht nur die Tätigkeit lassen, einen Beitrag zur über­fäl­ligen Wert­schät­zung. Weniger clean wird es mit dem Exkurs in die spiri­tu­elle Säuberung – die titel­ge­benden Begriffe können ja mehr meinen, als das reine Reinigen. Andere, weitaus proble­ma­ti­schere Konno­ta­tionen von »Reinheit« bleiben mit der begriff­li­chen Öffnung impli­ziert aber nicht thema­ti­siert und die deutliche quali­ta­tive und quan­ti­ta­tive Bevor­zu­gung christ­li­cher Rituale trübt den Fokus schließ­lich eher, als klare Sicht zu schaffen. – Lee Rede­pen­ning, LMU München

È A QUESTO PUNTO CHE NASCE IL BISOGNO DI FARE STORIA (AT/PT 2024 · R: Constanze Ruhm · Empowered)

È A QUESTO PUNTO CHE NASCE IL BISOGNO DI FARE STORIA
(Foto: DOK.fest München | Constanze Ruhm)

Rekon­struk­tion der »Kostbaren«. Die Künst­lerin und Filme­ma­cherin Constanze Ruhm nähert sich in ihrem soghaften Essay den »Preziösen« an, einer Frau­en­be­we­gung der Pariser Salon­kultur. Abwehr­stra­te­gien ließen nicht auf sich warten: Molière gab die strei­tenden Intel­lek­tu­ellen in »Précieuses ridicules« der Lächer­lich­keit preis. Auf den Spuren der italie­ni­schen Femi­nistin Carla Lonzi insze­niert Ruhm Bilder und Schriften des 17. Jahr­hun­derts und erzählt von der langen Geschichte der Gewalt gegen Frauen. Nach­richten über Verge­wal­ti­gungen laufen über den fiktiven femi­nis­ti­schen Radio­sen­ders »Radio Dafne«, ein zersplit­terter Spiegel reflek­tiert leit­mo­ti­visch den Übergriff auf die Frauen. Ruhm arbeitet suggestiv und verfüh­re­risch, versagt sich Gewiss­heiten und Akti­vismus und kann doch mit den Mitteln der weib­li­chen Kunst wunderbar aufrüt­teln. – Dunja Bialas

»Erin­ne­rung beginnt in einer imagi­nierten Welt.« Constanze Ruhm setzt in ihrem Essayfilm die femi­nis­ti­schen Ausein­an­der­set­zungen der italie­ni­schen Kunst­kri­ti­kerin Carla Lonzi fort – und begibt sich damit thema­tisch auf die Spuren der Frau in der Geschichts­schrei­bung. Ruhm lässt die Vergan­gen­heit über echohafte Bilder und Gesänge aufleben. Die Treffen der proto­fe­mi­nis­ti­schen Gruppe »Die Preziösen« sowie Zusam­men­künfte aus Lonzis Zeit werden rekon­stru­iert und damit unmit­telbar in die Gegenwart gerufen, wodurch das Gefühl einer geteilten Erfah­rungs­welt entsteht. Der Wechsel zwischen Schwarz­weiß und inten­siver Farb­ge­bung der Bilder kreiert eine zeitü­ber­grei­fende Ordnung, in der sich Konti­nui­täten mitteilen. Der Film gestaltet eine kollek­tive Kunstform des Erinnerns, in die auch die Zuschauer:innen über die in die Kamera gehalten Spiegel einfügt werden. – Amelie Hoch­häusler, LMU München

THE END OF THE INTERNET (Deutsch­land, Kanada, Spanien 2025 · R: Dylan Reibling · Reframing History)

Clouds and Monopoly. Was wäre, wenn jeder einen eigenen Server hätte und sich vom großen, welt­weiten Netzwerk abkoppeln könnte? Genau solche Projekte in Spanien, Berlin und den USA stellt der Doku­men­tar­film vor und erklärt auch, weshalb das dringend notwendig sein könnte, um der Macht der großen Tech-Giganten zu entkommen. Ein histo­ri­scher Abriss zeigt die Geschichte des Internets auf. Ange­fangen mit dem Infor­ma­tiker Paul Baran, der in den 1950er Jahren in den USA den theo­re­ti­schen Grund­stein des Internets legte und später vor seinen Forschungen warnte. Natürlich darf Tim Burners-Lee nicht fehlen, der die Program­mier­sprache Hypertext Markup Language (HTML) entwi­ckelte und als Begründer des World Wide Web gilt. Auch seine Euphorie ist verflogen. Wäre es also eine Option, das Internet, so wie wir es kennen, einfach abzu­schalten? – Ingrid Weidner

FACING WAR (Norwegen 2025 · R: Tommy Gulliksen · Reframing History)

Der Krieg in geschlos­senen Räumen. Tommy Gulliksen begleitet Nato-Gene­ral­se­kretär Jens Stol­ten­berg in seinem letzten Amtsjahr. Zeitweise gelingt es dem Regisseur, ein intimes Porträt zu erschaffen, das auch das Bild des Poli­ti­kers dekon­stru­iert. Es ist ein Jahr, in dem der Ukraine-Krieg weiter geht, neue Nato-Mitglieder aufge­nommen werden sollen und der mediale Druck sowie ein Ende des homogenen Westens den Gene­ral­se­kretär konfron­tieren. Kleine Momente im Auto oder ein Hände­schüt­teln bewegen. Zwischen Polit­thriller und Porträt erschafft Gulliksen eine düstere Wech­sel­sei­tig­keit, die Stol­ten­berg zugleich mensch­li­cher und doch auch weniger greifbar macht. Momente mit zu vielen ästhe­ti­schen wirken ablenkend und lassen den Zuschauer abschweifen. Unterm Strich aber ist Facing War, wenn auch alles andere als ein Meis­ter­werk, ein wichtiger Beitrag im Diskurs zum aktuellen poli­ti­schen Geschehen und ein selten naher Blick auf einer der Haupt­ak­teure. – Christian Schmuck

Girls and Gods (Öster­reich, Schweiz 2025 · R: Arash T. Riahi, Verena Soltiz · empowered)

»If God is male, then male is god.« Sind mono­the­is­ti­sche Reli­gionen mit Femi­nismus vereinbar? Diese Frage stellt sich die ukrai­ni­sche Akti­vistin Inna Shev­chenko – und der Film eröffnet eine viel­stim­mige Debatte: Ein trans­gender Rabbi, weibliche katho­li­sche Pries­te­rinnen, eine musli­mi­sche Pride-Moschee, iranische Exilan­tinnen, Pro-Life-Demons­tranten, Debat­tierer, eine Kari­ka­tu­ristin von Charlie Hebdo und viele mehr kommen zu Wort. Wann spricht der Glaube, wann nur das Patri­ar­chat? Ist das Kopftuch Symbol der Selbst­er­mäch­ti­gung oder der Unter­drü­ckung? Girls and Gods stellt keine einfachen Antworten bereit – aber die richtigen Fragen. – Mona Mezhoud, LMU München

Les glaneurs et la glaneuse (Frank­reich 2000 · R: Agnès Varda · Retro­spek­tive)

»A clock without hands – that’s my thing.« Fund­s­tücke – von der Norm verstoßen. Wirken die zügigen Bild­wechsel, die Dynamik ihrer Hand­ka­mera, die Stimmen der Prot­ago­nist*innen zunächst will­kür­lich arran­giert, offenbart die Filme­ma­cherin in der Verwen­dung dieser Technik ihr außer­ge­wöhn­li­ches Talent. Regis­seurin und Zuschauer*innen scheinen zeit­gleich Leben zu entdecken und zu erleben. Spontan, unver­stellt, gleich­zeitig wohl kompo­niert, erntet dieses Werk Geschichten über das Sammeln, Suchen und Finden. Kein erhobener Zeige­finger, ganz im Gegenteil, mit viel Humor, kind­li­cher Neugierde und Finger­spit­zen­ge­fühl schafft Varda es sich selbst und das Publikum zu Sammler*innen werden zu lassen. – Sinem Arslan, LMU München

Vielfalt des Sammelns. Eine herz­för­mige Kartoffel nach der Ernte, ausran­gierte Haus­halts­geräte, das Musée d’Orsay, ein Lastwagen, abge­lau­fene Lebens­mittel, kosten­loser Sprach­un­ter­richt oder Mitbringsel aus Japan – was all diese scheinbar will­kür­li­chen Dinge verbindet, ist der neugie­rige, soli­da­ri­sche Blick der Regis­seurin Agnès Varda auf ihre Mitmen­schen. Manche sammeln, um zu überleben, andere aus Über­zeu­gung. Vardas Les glaneurs et la glaneuse zeigt Menschen, die dem Über­se­henen und Wegge­wor­fenen Wert geben. Allen gemeinsam ist das Gefühl gesell­schaft­li­cher Ungleich­heit und der Wunsch, Dinge zu verändern. Varda entwirft nicht nur ein liebe­volles Porträt von Sammler:innen aller Art, sondern legt zugleich Miss­stände im sozialen Gefüge Frank­reichs offen. – Alevtina Kler, LMU München

THE HELSINKI EFFECT (2025 · R: Arthur Franck · Reframing History)

Der Helsinki Effekt
(Foto: DOK.fest München | Arthur Franck)

Histo­ri­scher Exkurs meets Detek­tiv­ge­schichte. Das Jahr ist 1973. Zum ersten Mal seit langer Zeit treffen West- und Ostblock in einem gemein­samen Verhand­lungs­forum aufein­ander. 2025 führt die Stimme des Regis­seurs Arthur Franck in The Helsinki Effect durch die verwor­rene Diplo­matie der KSZE-Konferenz. Dabei verwan­deln puzzle­artig montierte Archiv­auf­nahmen und alberne Witze trockene Diskus­si­ons­runden in anschau­liche Geschichts­lek­tionen. Dem essay­is­ti­schen Doku­men­ta­ti­ons­film gelingt so eine delikate Balance zwischen kreativen Expe­ri­menten und emotio­naler Ernst­haf­tig­keit: Die Unter­zeich­nung der Helsinki-Schluss­akte bringt zahl­reiche Menschen­rechts­be­gehren ins Rollen, die das Ende der Sowjet­union einläuten. Ein Schmet­ter­lings­ef­fekt, den Franck erfri­schend hoff­nungs­voll festhält. – Jaël Gallert, LMU München

HOW TO BUILD A LIBRARY (Kenia, USA 2025 · R: Maia Lekow · Reframing History)

Wie funk­tio­niert Deko­lo­nia­li­sie­rung? Diese Frage steht im Zentrum für Shiro und Angela, die eine britische Biblio­thek in Nairobi reno­vieren wollen. Sie hinter­fragen die Bücher­aus­wahl, Gebäu­de­namen und Sortier­sys­teme, während sie immer wieder mit lokal­po­li­ti­schen, finan­zi­ellen und persön­li­chen Rück­schlägen kämpfen müssen. Der sich fort­set­zende Einfluss der ehema­ligen Kolo­ni­al­macht erschwert die Situation nur weiter.
Immer wieder wird in der Biblio­thek gefun­denes Archiv­ma­te­rial im Zwischen­schnitt mit der Restau­rie­rung gezeigt. So sehen wir zugleich Konstruk­tion und Rekon­struk­tion, Kolo­nia­li­sie­rung und Deko­lo­nia­li­sie­rung. Nur die anfangs langen Aufnahmen der leeren, chao­ti­schen Biblio­thek erhalten am Ende jedoch kein symme­tri­sches Bild: der Film bietet weder einfache Antworten, noch ein einfaches Ende. – Nicolai Meußling, LMU München

ICE GRAVE (F/SWE/FIN 2025 · R: Robin Hunzinger · Stranger Than Fiction)

Der letzte von ihnen – umgeben von eisiger Leere, zwei Leichen neben sich – muss vier licht­losen Monaten entgegen gestarrt haben. Und nahm, ob mit Absicht oder nicht, vor Einbruch der Polar­nacht den Ausweg ins endgül­tige Nichts. Zuvor waren sie drei proppere Herren mit gesteiften Krägen und vikto­ria­ni­schen Bärten, die 1896 voll Entde­cke­reifer glaubten, mit einem Wasser­stoff­ballon den Nordpol bezwingen zu können – und verschollen. Erst 1930 wurden ihre Überreste, Aufzeich­nungen, Fotos gefunden. Auf deren Basis montiert Hunzinger eine Historie der Expe­di­tion, eine Skizze der Männer – und der Menschen, die heute ihr Schicksal erfor­schen. Was nebenher eine tragische Liebes­ge­schichte mit melo­dra­ma­ti­scher Pointe wird. Und eine erstaun­lich berüh­renden Reflexion über die zusehends zerschleißenden Fragmente, die von einem Menschen­leben bleiben. – Thomas Willmann

THE INVISIBLE CONTRACT (2024 · R: Luciana Kaplan · Brave New Work?)

Besen, bücken, bleichen – drei Worte, die für Rosalba, Gregoria, und Claudia einen erbar­mungs­losen Berufs­alltag bedeuten. Denn Dienst­ver­träge im mexi­ka­ni­schen Reini­gungs­sektor sind nicht nur unsichtbar: In den meisten Fällen exis­tieren sie nicht. Damit öffnet der Jobmarkt ausbeu­te­ri­schen Arbeits­be­din­gungen Tür und Tor. Verschleiert werden die Lebens­rea­li­täten unzäh­liger Putz­kräfte. Lebens­rea­li­täten, die Luciana Kaplan zwischen scho­ckie­renden Erleb­nis­be­richten und herz­er­wär­menden Close-Ups in den Vorder­grund rückt. The Invisible Contract ist eine einfühl­same Doku­men­ta­tion in schwarz-weiß, die sprachlos, ratlos und nicht selten fassungslos macht. Weil sie unbeug­same Frauen zeigt, die ihre Mensch­lich­keit immer wieder dort unter Beweis stellen müssen, wo andere nur Müll vermuten. – Jaël Gallert, LMU München

(K)EINEN TON SAGEN (Italien 2024 · R: Georg Lembergh ·)

Wir können nicht mehr wegsehen! Der gelernte Fotograf Georg Lembergh lässt vier Frauen aus Süd- und Nordtirol ihre nieder­schmet­ternde Geschichte von sexuellem Miss­brauch erzählen. Die Frauen sitzen vor der Kamera und schildern die erlit­tenen Über­griffe bis ins kleinste Detail, nur unter­bro­chen von atem­be­rau­benden Aufnahmen des wunder­schönen Tirols. Ohne unnötig aufge­la­dene Span­nungs­bögen oder andere Ablen­kungen setzt uns Lembergh diesen Geschichten aus und lässt die Frauen in eigenen Worten erzählen – es ist eine Konfron­ta­tion mit der Abscheu­lich­keit des Menschen, welcher man im Kinosaal nicht aus dem Weg gehen kann. Die Kontras­tie­rung von traum­haften Land­schafts­auf­nahmen und den zutiefst erschüt­ternden Schil­de­rungen erschafft ein Gefühl der traurigen Melan­cholie. Ein Beitrag zu einem sehr wichtigen Thema, der sich anfühlt wie ein Schlag ins Gesicht. – Christian Schmuck

LI CHAM (Mexiko 2024 · R: Ana Ts'uyeb · Empowered)

Von Eintö­nig­keiten und dem Patriachat. Ana Ts'uyeb zeigt einen sehr persön­li­chen Debütfilm. Es geht um den Kampf der Frauen des indigenen Tzozil-Stammes um Autonomie und Eige­ner­mäch­ti­gung. Im ersten Teil des Films sehen wir die Frauen die tägliche Arbeit erledigen, während sie von der Unter­drü­ckung der Männer und dem Fehlen der eigenen Rechte berichten. Die arbei­tenden Frauen zu sehen und gleich­zeitig zu hören, wie sie selbst ohne eigenen Besitz oder Rechte unter­drückt werden, hat eine starke Wirkung. Leider verlässt Ts'uyeb alsbald diese Form des Erzählens und verliert den Fokus auf ihren – sehr ausdrucks­starken – Kern der Geschichte. So fällt der Film formal sowie narrativ langsam ausein­ander, ohne am Ende die wahre Kraft hinter dieser eman­zi­pa­to­ri­schen Geschichte klar gemacht zu haben. – Christian Schmuck

Väter brauchen Söhne. Eine urpa­tri­ar­chale Über­zeu­gung, die Juana, Margarita und Faustina früh an ihrem eigenen Leib zu spüren bekommen. Als Töchter werden sie syste­ma­tisch über­gangen – und bahnen sich in Li Cham deshalb ihren eigenen Weg. Mit ihrem ersten Langfilm fängt Ana Ts‘uyeb in nur 74 Minuten drei außer­or­dent­liche Eman­zi­pa­ti­ons­ge­schichten ein. Lange Kame­ra­ein­stel­lungen und immersive Ambient-Sounds bilden das Vokabular einer Bild­sprache, die die drei Tzotzil-Frauen berührend frei über ihre Schick­sale sprechen lässt: von verwehrten Schul­ab­schüssen bis zu trau­ma­ti­schen Kind­heits­er­in­ne­rungen. Trotzdem bleibt nach dem Film­erlebnis kein bedau­erndes Mitleid. Sondern ein Credo, das kommende Gene­ra­tionen in eine gerech­tere Zukunft führen soll: »Men are not superior. They are the same as women.« – Jaël Gallert, LMU München

MARRIAGE COPS (USA, Indien, Taiwan 2025 · R: Shashwati Talukdar · Brave New Work?)

An insti­tu­tion entering your bedroom. Für viele indische Frauen ist die von Frauen betrie­bene Dehradun Women’s Helpline oft die einzige Möglich­keit, ihre Ehe zu retten. In wert­freier Atmo­sphäre beraten Poli­zis­tinnen Frauen in Bezie­hungs­krisen unab­hängig von Status, Bildung oder Eheform. Doch die Bezie­hungs­pro­bleme ähneln sich: Miss­trauen, familiäre Einmi­schung, häusliche Gewalt u.s.w. Die »Marriage Cops« versuchen, diese Fälle (ordent­lich hand­schrift­lich doku­men­tiert und in Papier­akten abgelegt) mit prak­ti­scher Lebens­er­fah­rung zu lösen. Mit Humor zeigt Regis­seurin Talukdar nicht nur den Alltag der Hotline, sondern auch die büro­kra­ti­sche Realität einer post­ko­lo­nialen indischen Gesell­schaft. Ein berüh­render Film, der den Wunsch weckt, das Schicksal dieser Frauen weiter­zu­ver­folgen – in ihrem Kampf für ihre Familien. – Alevtina Kler, LMU München

Respectfully, I can’t live with her anymore! Anwälte, Psycho­logen und die frei­wil­ligen Marriage Cops machen sich die Rettung der Insti­tu­tion Ehe zur Aufgabe. Ohne einen Hauch von Privat­sphäre sind in Nord­in­dien Ehepro­bleme eine Ange­le­gen­heit für das ganze Dorf. Seit 2004 bear­beitet diese Bera­tungs­stelle für Frauen rund 1000 Fälle pro Jahr. Drei Paare werden über ein Jahr hinweg bei den verhörähn­li­chen Terminen und in Einzel­in­ter­views begleitet. Die Situa­tionen werden nicht drama­ti­siert, sondern in ihrer Alltäg­lich­keit gezeigt; zwischen den Zeilen treten das post­ko­lo­niale Erbe in Form decken­hoher Akten­stapel und die Abgründe geschlecht­li­cher Ungleich­heit deutlich hervor. – Mona Mezhoud, LMU München

The Mountain Won’t Move (Slowenien, Nord­ma­ze­do­nien, Frank­reich 2024 · R: Petra Seliskar · Coming-of-Age)

»Nowhere to go from here.« Wenn im Abspann die Namen der Kühe aufge­führt werden, weiß man, wie abgelegen die Brüder Zekir, Zarif und Zani leben. Seliskar bietet uns durch verschwom­mene Gräser hindurch scharfe Aufnahmen aus den nord­ma­ze­do­ni­schen Bergen, wo die drei Jugend­li­chen ihre 500 Schafe hüten. Fernab von gutem Handy­emp­fang und geteerten Straßen ist die Arbeit hart und der Umgangston noch härter. Die treuesten Freunde sind die Geschwister und die Hunde. In einem Spiel aus Licht und Dunkel­heit, das an Cara­vaggio erinnert, liegt auch die Frage einge­schrieben, wohin man gehen soll, wenn es von hier aus keinen Weg gibt. – Mona Mezhoud, LMU München

MY SWEET LAND (Frank­reich, Irland, Jordanien, USA 2024 · R: Sareen Haira­be­dian · Coming-of-Age)

Aufwachsen im Krieg ist auch abseits der in der Bericht­erstat­tung präsenten Kriegs­ge­biete bittere Realität. My Sweet Land stellt die seit Jahr­zehnten zwischen Armenien und Aser­bai­dschan umkämpfte Region Berg­ka­ra­bach ins Zentrum und erzählt über zwei Jahre hinweg das Aufwachsen des anfangs elfjäh­rigen Vrej. Seine Kindheit ist von Spielen und Spaß ebenso geprägt wie von Bomben, Vertrei­bung, Flucht, aber auch unsi­cherer Rückkehr; in der Schule wird Vertei­di­gung geübt, es gibt Camp-Urlaub im Militär-Stil inklusive Waffen­trainig. Der Film ist von dem Paradoxon vom Wunsch nach Frieden und gleich­zei­tiger scheinbar selbst­ver­s­tänd­li­cher Bereit­schaft zu Vertei­di­gung mit Waffen geprägt. Als Zuschauerin bleibt man etwas ratlos zurück: Wie soll der Kreis der gegen­sei­tigen Gewalt je gebrochen werden? Und vor allem: Hätte der Film mehr einordnen sollen oder regt gerade diese einsei­tige Darstel­lung zum Nach­denken, Reflek­tieren und Recher­chieren an? – Paula Ruppert

ONLY ON EARTH (Dänemark, Spanien 2024 · R: Robin Petré · Macht Euch die Erde untertan?)

Wunder­schön, aber galop­piert viel auf der Stelle. Gezeigt werden beein­dru­ckende Aufnahmen von Wild­pferden in der Natur – Bilder, perfekt für das Kino, nur erzählt wird sehr wenig. Wir sehen das fragile Ökosystem in Galicien im Norden Spaniens, das immer mehr vom Klima­wandel ange­griffen und von unbe­zähm­baren Wald­bränden heim­ge­sucht wird: ein Alltag und eine Welt, wie sie es bald so nicht mehr geben wird. Aber ohne Erzähl­strang oder Erzähl­in­stanz und mit vielen Prot­ago­nisten, die nur wenige Minuten auftau­chen, fällt es schwer, eine emotio­nale Verbin­dung aufzu­bauen. Das mag zwar gewollt sein, kann aber nach der ersten halben Stunde auch leicht lang­weilig wirken, da immer nur ohne Kontex­tua­li­sie­rung gezeigt wird, was passiert. Bis zum Ende ist das Audio­vi­su­elle den Kino­be­such wert, aber viel hängen bleibt von der filmi­schen Dia-Show leider nicht. – Nicolai Meußling, LMU München

PING PONG PARADISE (DE 2025 · R: Jonas Egert · Brave New Work?)

Fast, Cheap & Out of Control: So hieß einmal ein maßgeb­li­cher Essayfilm von Errol Morris, in dem er den Ping Pong als Metapher nahm, um zu gedank­li­chen Höhen­flügen anzu­setzen. Jonas Egert hat in seinem Tisch­ten­nis­film anderes vor. Ihm hat es der TTC Neu-Ulm angetan, der als Neugrün­dung mittels Wild Card in die Bundes­liga kam wie die Jungfrau zum Kind. Erfolgs­re­zept des russi­schen Trainers war ein inter­na­tio­nales Team, darunter drei Russen, die wegen des Angriffs­krieges jedoch gesperrt wurden. Ersatz kam aus Japan und Schweden, sport­liche Rekorde in Champions League und Pokalen folgten. Großartig gefilmt ist aus nächster Nähe zu erleben, wie die flinken Prot­ago­nisten den Ball ins Visier nehmen wie ein Matador den Stier. Am Ende aber ist und bleibt dies ein Film über einen Tisch­tennis-Verein mit thema­ti­scher Boden­haf­tung, selbst die poli­ti­sche Dimension, die als Steil­vor­lage zurück­ge­schmet­tert werden könnte, wird als flach gehal­tener Ball zurück­ge­spielt. Für einen Abschluss­film an der HFF dennoch ein stil­si­cherer, konzen­trierter Start. – Dunja Bialas

RETURN (Deutsch­land, Israel 2025 · R: Bar Mayer · Family Affairs)

»Als würde ich ein Paral­lel­uni­versum beob­achten.« Mit schnellen, intimen und sehr offen­ba­renden Bildern nimmt uns Mayer mit auf eine Entde­ckungs­reise ihrer ganz persön­li­chen Fami­li­en­ge­schichte. Fast schon brutal stößt die Regis­seurin auf die Kindheit ihrer Mutter, ehrlich und wahr­haftig einge­fangen und fest­ge­halten durch die Super-8-Kamera des jüdischen Groß­va­ters. Mit einem Mate­ri­almix aus Selbst­por­traits, Film­auf­nahmen, Musik, alten Film­rollen und der eigenen Stimme als Voice Over erzählt die Filme­ma­cherin unver­blümt und direkt von der Entde­ckung einer surrealen Paral­le­lität zwischen dem Leben von Mutter und Tochter. Was verbirgt sich hinter dieser sowohl tech­ni­schen als auch meta­pho­ri­schen Collage? – Sinem Arslan, LMU München

Spuren der Verbin­dung. In ihrem Doku­men­tar­film­debüt Return durch­läuft Künst­lerin Bar Mayer ihre Erin­ne­rungen an die Eman­zi­pa­tion von ihrer ultra­or­tho­doxen jüdischen Familie. Mit siebzehn Jahren begann sie ein neues Leben, fernab von ihrer Herkunft. Über alte Photo­gra­phien und nach­ge­stellte Szenen verfolgen wir mit Mayers Stimme aus dem Off ihre Selbst­fin­dung. Das Medium der Photo­gra­phie bringt sie schließ­lich wieder zurück zu ihrer Fami­li­en­ge­schichte, genauer gesagt zu ihrer Mutter. Der Film vollzieht eine bewegende Wende, als privates Film- und Photo­ma­te­rial aus der Kindheit der Mutter gezeigt wird. Bar Mayer verfolgt auf ergrei­fende Weise die rätsel­haften Spuren ihrer Mutter und kann ihre eigenen Sehn­süchte darin wieder­finden. Wie Tochter und Mutter für einen Moment – ein Bild – wieder zuein­an­der­finden, ist besonders berührend. – Amelie Hoch­häusler, LMU München

SEEDS (USA 2024 · R: Brittany Shyne · This is America)

Seeds
(Foto: DOK.fest München | Brittany Shyne)

Old McDonald had a farm – and still no health­care plan. In eindring­li­chen Nahauf­nahmen zeigt Regis­seurin und Kame­ra­frau Britanny Shyne die Hände jener, die ernähren, aber selbst von der Hand in den Mund leben. Glaube, Feld und Familie – das ist alles, was den schwarzen Farmern von South Carolina bleibt. »I farm out of my social security check«, klagt der 89-jährige Farmer Williams. Während staat­liche Subven­tionen klage­freu­dige weiße Farmer erreichen, sorgen sich die Prot­ago­nisten um die Zukunft ihrer Kinder. Jede Einstel­lung ein Schnapp­schuss zwischen länd­li­cher Idylle und Verlas­sen­heit. Immer wieder durch­bricht anschwel­lender Lärm der Ernte­ma­schinen die langen Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Die leisesten Klänge erhalten Präsenz: Muhen, Rascheln und karge Worte. Die Gemein­schaft hält zusammen. – Mona Mezhoud, LMU München

A SUDDEN GLIMPSE TO DEEPER THINGS (Groß­bri­tan­nien 2024, R: Mark Cousins, About Art)

Gletscher und Geometrie. Rote Quadrate, die zu tanzen beginnen, Eis und Gletscher in verschie­denen Formen und Farben. Erzählt wird die Geschichte der briti­schen Künst­lerin Wilhel­mina Barns-Graham, genannt Willie, anhand ihrer Werke, Notiz­bücher und Fotos. Regisseur Mark Cousins reist zu wichtigen Stationen ihres Lebens, etwa St. Ives in Cornwall, Schott­land und in die Schweiz zu den Resten des Grin­del­wald­glet­schers, den Willie 1949 erklomm und der ihre Kunst verän­derte und prägte. Wie verwan­deln sich Orte in Kunst? Trotz ihres langen und produk­tiven Künst­le­rin­nen­le­bens (1912-2004) fehlt Willie die Aufmerk­sam­keit, die ihrem Œuvre gebührt. 1912 als ältestes Kind einer nicht besonders reichen, schot­ti­schen Familie geboren, wollte ihr der Vater den Besuch der Kunst­hoch­schule in Edinburgh verbieten, doch zum Glück inter­ve­nierte eine Tante. Mit Mathe­matik, Geometrie und Farbe gelingt es Wilhel­mina Barns-Graham, neue Welten auf Leinwände zu bannen. – Ingrid Weidner

The Artist’s Brain. Wie ein Muse­ums­be­such – nur ohne das lästige Museum zwischen uns und der Kunst. Der Gewinner des DOK.fest Edit Awards, Timo Langer, schafft es, uns unmit­telbar in die Gemälde der Künst­lerin Wilhel­mina Barns-Graham zu ziehen. Durch einen humor­vollen Erzähler erhalten wir einen immersiven Zugang zur Kunst, der ganz ohne komplexe Sprache auskommt. In ihrem Notizbuch entstehen Gebete aus Farben. Wir entwi­ckeln eine Faszi­na­tion für Zahlen, Farben, Formen, Gletscher und das Meer von St. Ives. Ein Film, der für die Kino­lein­wand und Dolby Surround gemacht ist. – Mona Mezhoud, LMU München

SOLDATEN DES LICHTS (Deutsch­land 2024 · R: Julian Vogel und Johannes Büttner · Nie wieder ist jetzt?)

Rohkost und Verblen­dung. Diesen verstrahlten Schwurb­lern, selbst­er­nannten Heilern und rechten Reichs­bür­gern 108 Minuten lang zuzuhören, verur­sacht Schmerzen, bringt einen aber auch zum Lachen. Soldaten des Lichts leuchtet eine verquere Paral­lel­welt aus, indem die Regis­seure einfach die Kamera drauf­halten und – mit nur einer Ausnahme – keine Fragen stellen. Chapeau für diese Leistung, nicht laut zu schreien, wenn das Gesagte uner­träg­lich wird. Im Mittel­punkt steht der Schwätzer David, der als Mr. Raw mit seinem Geschwurbel von Verschwörungs­theo­rien, Rohkost und Pülver­chen sein Geld verdient. Eigent­lich alles auch ziemlich lustig, wenn er tatsäch­lich andere über­zeugen möchte, die Erde sei eine Scheibe. Das Publikum lacht häufig und reibt sich oft verdutzt die Augen. Doch da gibt es einen jungen, sehr schmalen blonden Mann, der oft etwas abseits steht, verloren in diesem Kosmos, doch mit dem Wunsch, dazu­zu­gehören. David hat eigent­lich keine Ahnung, was Timo fehlt, möchte ihn aber mit Rohkost heilen, was bei Psychosen definitiv der falsche Thera­pie­an­satz ist. Es sind die traurigen Augen von Timo, die einen nicht mehr loslassen. – Ingrid Weidner

Toxische Kräuter. Eine Gruppe um den selbst­er­nannten König Peter herum, vor allem der Food-Influencer David aka Mr. Raw, hat es den Filme­ma­chern angetan. Er bekommt großen Raum, seine Orthor­exie-Ideologie zu verbreiten. Krebs und Psychosen »heilt« er mit Brenn­nessel-Smoothies und teuren Nahrungs­er­gän­zungs­mit­teln, das Geschäfts­mo­dell ist selbst­ent­lar­vend. Die Gruppe in Köln wird von Anti-Faschisten ange­griffen, die Fenster sind vernagelt, die Haus­fas­sade beschmiert. Die Gruppe muss umziehen. Wieder einmal wird deutlich, wie proble­ma­tisch das Portrait derer werden kann, die einem selbst, die Filme­ma­cher inklu­die­rend, zutiefst suspekt sind. Unge­fil­tert, unwi­der­spro­chen und unsank­tio­niert dürfen die Prot­ago­nisten den Holocaust in Anfüh­rungs­zei­chen setzen, und lange Diskus­sionen über die Erde als flache Scheibe abge­halten werden. Das wirkt nicht denun­zie­rend, was man dem Film zugute halten muss, aber auch nicht erhellend, denn die veganen Influencer um die Quer­denker herum, deren Wirken bis in die rechts­extre­mis­ti­schen Reichs­bürger hinein­reicht, ist hinläng­lich bekannt. – Dunja Bialas

»In der Endzeit ist alles möglich«, sagt ein selbst­er­nannter Geist­heiler. Dieser Film akzep­tiert erstmal, dass Menschen das glauben – und schaut, was es mit ihnen macht. Ruhig, alltäg­lich, ohne Zwang zum Recht­haben guckt er sich um im Terri­to­rium zwischen »Reichs­bür­gern«, Esoterik, Heil­nah­rungs-Geschäft. Da thront sogar noch der jüngst verhaf­tete »Peter I.« vom »König­reich Deutsch­land«. Im Fokus aber steht der umtrie­bige Eso-Influencer »Mister Raw«. Dem man beim Abdriften von Spiri­tua­lität über »Flache Erde«-Schwurbel zum Kryp­towäh­rungs-Bro zusehen kann. Schil­lernd zwischen Trick­be­trüger und selbst Opfer seiner abstrusen Gedan­ken­welt als Reaktion auf die Welt-Zumu­tungen. Bei ihm auf Heilung hofft der schi­zo­phrene Timo: Eine mensch­liche Tragödie mit Magen­schwinger-Ende. – Thomas Willmann

Tata (R: Lina Vdovii, Radu Cior­ni­ciuc, 2024)

Was machst du, wenn die Gewalt von einst plötzlich hilflos vor dir sitzt? In Tata wird aus einem Täter ein hilfloses Opfer – und die Tochter zur Beob­ach­terin einer uner­war­teten Umkehr. Der Film begleitet die Jour­na­listin, die sich ihrem gewalt­tä­tigen Vater nach Jahren der Distanz erneut nähert, als dieser selbst miss­han­delt wird. Dabei stellt Tata eindrück­lich die Frage: Was muss ein Mensch erleben, um sich zu verändern? Verzeihen erscheint hier nicht als Schwäche, sondern als aktiver, schmerz­hafter Prozess. Die offene Kommu­ni­ka­tion und die direkte Kame­ra­ar­beit schaffen eine scho­nungs­lose Nähe, die berührt – und fordert. – Lisa Islinger, LMU München

TRAINS (Litauen, Polen 2024 · R: Maciej Drygas · Stranger Than Fiction)

Der Zug als Sinnbild der Zeit. Das 20. Jahr­hun­dert: Zwei Welt­kriege, Indus­tria­li­sie­rung, Trümmer, Wieder­aufbau...über all das und mehr erzählt Maciej Drygas anhand von restau­riertem Found-Footage-Material. Steter Prot­ago­nist ist die Eisenbahn, welches mal als tech­ni­sche Inno­va­tion fungiert, mal als Trans­port­mittel in den Untergang. Dabei lässt er stets die Bilder für sich sprechen. Keine Off-Stimme oder textliche Beglei­tung stört die Aufnahmen, die mehr zu erzählen haben, als es ein Erzähler je abdecken könnte. Inten­sives Sound­de­sign gepaart mit einer – mit den Geräu­schen von Loko­mo­tiven verwo­benen – Filmmusik, die durch Mark und Bein geht, rahmt das Geschehen ein. Ein faszi­nie­rendes Projekt, das von Leid und Freude, Aufstieg und Untergang, von Fort- und Rück­schritt erzählt. – Christian Schmuck

Vracht (Schweiz 2024 · R: Carlo Kohal · Coming-of-Age)

Oh Captain! My Captain! Carlo Kohal begleitet den 16-jährigen Rudner über vier Jahre an Bord der Panerai, einem Contai­ner­schiff, das zur neuen Heimat wird. In dieser menschen­un­freund­li­chen Umgebung aus Stahl und Regen träumt der Jugend­liche davon, Kapitän zu werden. Es entstehen Freund­schaften – flüchtig, aber prägend. Die Musik der zweifach ausge­zeich­neten Mirjam Skal füllt den Raum, den die zurück­hal­tenden Prot­ago­nisten ihr über­lassen – unauf­dring­lich, aber eindring­lich. Die Welt an Bord wirkt wie ein fremder Planet: Tag und Nacht verschwimmen, ebenso wie die Grenzen zwischen den Häfen. Kohal fängt diese Trans­for­ma­tion in scharfen, satt kolo­rierten Bildern ein. Ein Film, der tiefe Einsam­keit spürbar macht. – Mona Mezhoud, LMU München

WE LIVE HERE (Kasach­stan 2024 · R: Zhanana Kurmas­heva · Macht euch die Erde untertan?)

»Nur der Teufel hat keine Hoffnung« – diese bittere Aussage gegen Ende des Films ist der einzige Beleg für Opti­mismus, in einem sonst nihi­lis­ti­schen Bericht über die Folgen von Nukle­ar­tests in Kasach­stan. Kurmas­hevas Debütfilm beleuchtet mehrere Schick­sale rund um das mit radio­ak­tiver Strahlung verseuchte Gebiet. Wir verfolgen Familien, die von Gene­ra­tion zu Gene­ra­tion gesund­heit­lich unter den Folgen der Tests leiden. Wissen­schaftler und Ärzte, die sich mit dem Thema befassen, kommen zu Wort. Die Bilder des Test­ge­biets scho­ckieren, beklemmen und sind begleitet vom Kampf einer Bauern­fa­milie für Gerech­tig­keit und die Gesund­heit der jüngsten Töchter. Kurmas­heva zeigt und erzählt viel in 80 Minuten, das lädt den Film trotz seiner ruhigen Erzähl­weise sehr stark auf, bis zur Über­la­dung. Das wirkt auch, als würde die Filme­ma­cherin ihren Bildern miss­trauen, die mehr als genug erzählen, zusätz­lich begleitet von Off-Kommen­taren, weiteren Inter­views oder noch einer kleinen Neben­ge­schichte. Trotz dieser Konzen­tra­ti­ons­schwächen ist der Film ein Schlag in die Magen­grube, der noch lange nach dem Kino­be­such im Gedächtnis bleibt. – Christian Schmuck

THE WHITE HOUSE EFFECT (USA 2024 · R: Bonni Cohen, Pedro Kos, Jon Shenk · This is America)

Wie wenig sich verändert und wie wütend das macht... Ausschließ­lich mit Archiv­ma­te­rial und gut plat­zierten Need­ledrops zeichnet der Film ein klares Bild der Präsi­dent­schaft von George Bush und seiner ökolo­gi­schen Politik. Sehr prägnant werden Anfang und Ende seiner Präsi­dent­schaft kontras­tiert und der Einfluss großer Ölkon­zerne gezeigt, nicht nur auf seine Amtszeit und Wahl­ver­spre­chen, sondern auch auf die Jahr­zehnte danach. Oft bleibt ein Lachen im Hals stecken, wenn Paral­lelen zur heutigen Zeit auffallen. Dafür ist eine direkte Gegenü­ber­stel­lung mit aktuellen Bildern nicht nötig. Dass nur Archiv­ma­te­rial gezeigt wird, ist keines­wegs ein Nachteil und wird dank des hohen Tempos auch nie lang­weilig. Vielmehr kann der Zuschauer selbst Paral­lelen ziehen, ihm wird ein deutlich schär­feres Bild dieser Zeit vermit­telt. – Nicolai Meußling, LMU München

Haus­ge­machter Welt­un­ter­gang. Abgas­wolken, die die ganze Welt bedecken, unkon­trol­lier­bare Brände, die Wälder fressen, und Gletscher, die ins Nichts der Zeit schmelzen. Kontex­tua­li­siert durch Aussagen von Wissen­schaft­lern und Poli­ti­kern um George Bush, die Lobby ist nur durch interne Dokumente präsent. Immer wieder­keh­rende Beglei­tung: ein weißer Zeit­strahl von nur etwa 50 Jahren und eine rote Emissions-Kurve, die in kürzester Zeit jede Skala sprengt. Kaum deut­li­cher kann gemacht werden, welches Zers­törungs­po­ten­tial einige wenige Männer hatten, als es dieser Film tut, ausschließ­lich montiert aus Found Footage. Ein, sich gerade wieder­ho­lender, Konflikt von Wissen­schaft und Kapi­ta­lismus, einer neoli­be­ralen Ideologie des Wachstums und den anfangs ener­gi­schen, später entmu­tigten, erschöpften, igno­rierten Appellen der Wissen­schaft. – Anna Schell­kopf, LMU München

YALLA PARKOUR (Palästina, Qatar, Saudi Arabia, Schweden 2024 · R: Areeb Zuaiter · Film­ma­king in Exile)

»Gaza is my home.« Sie ist real, diese Sehnsucht, nach Heimat, Familie und Gaza. Gene­ra­ti­ons­ü­ber­grei­fend verbinden sich die Erin­ne­rungen Zuaiters mit denen des heran­wach­senden Prot­ago­nisten Ahmed. Seine amateur­haften Handy­auf­nahmen zeigen sowohl dem Publikum als auch der Regis­seurin, ein Leben und eine Welt voller Glück und Lebens­freude. Als »Gaza Parkour« verbringen Ahmed und seine Freunde ihre Stunden in und um Gaza. Mit Mut, Leich­tig­keit und uner­schöpf­li­cher Energie über­winden die Jugend­li­chen Sand, Ruinen und zerbombte Flughäfen. Liebevoll bettet Zuaiter die kraft­vollen und unver­fälscht direkten Doku­men­ta­tionen des Haupt­dar­stel­lers in ihre eigenen profes­sio­nellen, ruhigen, fast schon zurück­hal­tenden Film­auf­nahmen ein und schafft somit Raum für Zukunft und Vergan­gen­heit. – Sinem Arslan, LMU München

Der Spiel­platz in Trümmern – die Trümmer als Spiel­platz. Friedhöfe, zerbombte Flughäfen und Ruinen: über alles springen Ahmed Matar und die Parkourgruppe PK Gaza. Virtuell zeigt er Areeb Zuaiter – die nicht nach Gaza kann – seine Parkour-Videos. Dort kommt es zwar zu Verletzungen, doch anders als Zivilisten im Krieg, kennen sie die Gefahr. Der Film zeigt so nicht nur Widerstandsfähigkeit im Kriegsgebiet – das wäre zu einfach. Denn Parkour ist für die Jugendlichen sowohl Eskapismus als auch Fluchtmöglichkeit. Sind sie gut genug, können sie an internationalen Wettbewerben teilnehmen und aus Gaza entkommen. Das setzt ihre Risiken in einen neuen Kontext, bei dem die Gänsehaut bleibt und einem fast durchgehend ein bisschen übel ist, während gleichzeitig das Video als Medium untersucht und eine fast 10 Jahre lange Geschichte von Erinnerungen erzählt wird. – Nicolai Meußling, LMU München