07.03.2024
74. Berlinale 2024

Die Unvollendeten – oder: The Circle-Jerk of Life

L'Empire
Auch im Unvollendeten kann Perfektion liegen, und im Unperfekten Vollendung: Bruno Dumonts L’Empire
(Foto: Berlinale | L’Empire (Bruno Dumont))

Edelmann & Willmann verabschieden die 74. Berlinale

Von Anna Edelmann & Thomas Willmann

Ciao, Carlo & Mariette – wir haben Euch kaum gekannt.
Das war’s nun also mit der Ära Chatrian/Rissen­beek. Und es ist schade, dass ihr Abschied so über­la­gert wurde von heillos verfah­renen poli­ti­schen Kontro­versen, die über Tage hinweg weltweit die Bericht­erstat­tung domi­nierten. Wir haben schlicht nichts Neues, Erhel­lendes oder Ziel­füh­rendes zu diesem Thema beizu­tragen. Deswegen halten wir uns zurück und über­lassen die Debatte infor­mier­teren (oder hitzi­geren) Köpfen.

Offene Briefe von vorma­ligen Goldener-Bär-Preis­trä­gern in Soli­da­rität mit der geschassten Leitung hin oder her: Es fühlte sich nicht wie ein echter, emotio­naler Abschied an. Das mag daran liegen, dass die Doppel-Leitung nie wirklich ange­kommen ist, nie wirklich ankommen konnte.
Was sie eigent­lich zurück­lassen, ist das Gefühl von einer Vision des Festivals, die stets genau eine Ausgabe davor zu stehen schien, sich endlich einzu­grooven und durch­zu­setzen.

Es war dem Leitungs-Duo nie vergönnt, wirklich zu zeigen, wie eine Berlinale nach ihren Vorstel­lungen auf stabiler Basis ausge­sehen hätte.
Das Debut 2020 war noch ein Auspro­bieren, eine Ausein­an­der­set­zung mit Altlasten – nahtlos gefolgt von der Pandemie. (Es waren die letzten zwei Wochen, in denen man noch Witze gemacht hat über Hand­des­in­fek­ti­ons­mittel und Äpfel als Immun­booster im Pres­se­zen­trum – die Heimfahrt in den baldigen ersten Lockdown ging schon am geschlos­senen Messe­zen­trum vorbei, das eben die Tourismus-Börse abgesagt hatte...)

Para­do­xer­weise der eine Jahrgang, der filmisch wirklich in Erin­ne­rung bleiben wird, war das Pestjahr 2021 mit seiner reinen Online-Ausgabe. Wir sind große Verfechter des Gemein­schafts­er­leb­nisses »Kino«. Umso über­ra­schender, dass sich auch in heimi­scher Isolation und über große Entfer­nungen hinweg ein seltsames, unkon­ven­tio­nelles Gemein­schafts­ge­fühl einstellte. Man hatte 24 Stunden, das Tages­pro­gramm zu sichten und – lock­down­be­dingt – nur wenig andere Verpflich­tungen. Man tauschte in WhatsApp-Gruppen Geheim­tipps, plante seine privaten Mitter­nachts-Scree­nings und versank tagelang auf dem eigenen Sofa im Kino­rausch. Noch im naiven Glauben, das gebotene Programm sei jetzt dauerhaft reprä­sen­tativ für den neuen Quali­täts­stan­dard, und auch nach Rückkehr in die realen Kinosäle würden auf der Berlinale sich High­lights wie Petite Maman, Herr Bachmann und seine Klasse, Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen? & Co. die Klinke reichen.

Es folgten die Hoch­si­cher­heits-Film­spiele ohne Feste im darauf­fol­genden Jahr – für die Presse zwar ein Präsenz-Festival, über das man aber stets, das tages­fri­sche Test­er­gebnis in der Tasche, gehuscht ist voller Unsi­cher­heit, ob man wirklich da sein darf, und voller Sorge, sich in einer fremden Stadt mit Corona tagelang in Quaran­täne begeben zu müssen.

2023 dann ein zaghaft hoff­nungs­voller Neustart kurz vor dem noch nicht abzu­se­henden Ende, der noch die Seuchen-Nach­wir­kungen aufzu­ar­beiten hatte. Und dem man insofern bereit­willig(er) die kleinen Holp­rig­keiten und den eher mau bestückten Wett­be­werb nachsah.

Und nun stand die 74. Berlinale dieses Jahr bereits unter dem Zeichen des Abschieds, der Abwick­lung.
Cine­as­tisch wirklich prägend war auch der Jahrgang 2024 wieder nicht. Kaum etwas brach nach unten raus – aber es gab auch keine Herzens­filme, oder auch nur den einen Film, über den die Kritiker unter­ein­ander tagelang angeregt plauschten.
Es war alles: Solide. Gut, auch sehens­wert. Filme, die man beden­kenlos weiter­emp­fehlen kann. Aber keine markanten Werke. Nichts Fiebriges, Drin­gendes, Neues.

Vor allem der Wett­be­werb schien völlig disparat – eine Konkur­renz, in der alle nicht nur in unter­schied­li­chen Ligen spielen, sondern komplett andere Sport­arten betreiben. Idea­ler­weise bildet ein Festival-Wett­be­werb zwar die Band­breite des cine­as­tisch Möglichen ab, bringt aber die Filme unter­ein­ander in Kommu­ni­ka­tion; gibt das Gefühl, dass alle von unter­schied­li­chen Rich­tungen am selben, großen Klotz der Welt­erkenntnis meißeln. Hier aber redeten alle nur vor und für sich hin.
Und sollte man die Hoffnung gehegt haben, dass wenigs­tens die Preis­ver­gabe einen sinn­stif­tenden Blick auf den Gemischt­wa­ren­laden ermög­li­chen würde, dann: Sorry. Eher machten die Edel­me­tall­bären das Ganze noch belie­biger, zerfah­rener. Es lag eine Ahnung in der Berliner Luft, dass die Jury sich so ganz eins nicht werden wollte.

Was bleibt nun also von der Ära Chatrian/Rissen­beek, von der man sich in cine­as­ti­schen Kreisen so viel verspro­chen hatte?
Die eine wirklich neue Errun­gen­schaft, Chatrians »Encoun­ters«-Reihe, war ange­treten als eine Art Edel-Forum, um Werken, die für den Wett­be­werb zu avant­gar­dis­tisch schienen, die Haupt­bühne zu bieten. Aber nach neugierig machendem Beginn hat die Reihe nie so recht ihr Verspre­chen einlösen können, ihre Exis­tenz­be­rech­ti­gung behaupten.
Und dieses Jahr wurde sie quali­tativ bereits auffal­lend stief­müt­ter­lich bestückt – und ihre Pres­se­vor­füh­rungen fast mutwillig gegen die nun in den Abend verlegten Wett­be­werbs-Schienen program­miert. Ein Aufmerk­sam­keits-Freitod, der wirkte, als wolle man sicher­gehen, sich da keine haus­ei­gene Konkur­renz heran­zu­züchten, die dem Wett­be­werb noch etwas von seinem bisschen stumpfen Glanz abknapst. Über­le­bens­pro­gnose: Fraglich.

Ansonsten war die Leistung Chatrians & Rissen­beeks vor allem das Weglassen. Zuerst wurde das exzen­tri­sche kuli­na­ri­sche Kino auf Nulldiät gesetzt. Und dann verord­nete man auch den übrigen Reihen eine Entschla­ckung, setzte auf eine geringere Gesamt­zahl an Filmen – jedoch bei relativ gleich­blei­bendem cine­as­ti­schen Nährwert.

Und am Ende wurden Chatrian/Rissen­beek nun also eingeholt von jenem geerbten Selbst­ver­s­tändnis des Festivals: Der Schutz­be­haup­tung der Berlinale, unter den A-Festivals das »poli­ti­sche« zu sein.
Kein Hollywood-Schau­laufen wie in Cannes, kein cine­as­ti­sches Gipfel­treffen wie in Venedig: Auf der Berlinale sollen, wenn schon nicht die wichtigen Filme laufen, so doch die wichtigen Themen statt­finden.

Es stimmt schon, was ein Jury­mit­glied sagte: Auf der Berlinale bekommen jene Filme eine inter­na­tio­nale Plattform, die sonst nirgendwo eine solche enorme Chance haben, nicht nur wahr­ge­nommen zu werden – sondern viel­leicht sogar etwas zu bewegen.
Aber so eine Aufgabe braucht eben eine klarere Linie. Kein: Man will alles sagen, auf alles aufmerksam machen und allem Aufmerk­sam­keit schenken, wenn es nur Bedeut­sam­keit verspricht. Die Berlinale und ihre Leitung sind keine amts­be­ru­fenen Diplo­maten, denen man State­ments zu allen inter­na­tio­nalen Krisen abheimsen kann. Die Berlinale ist im besten Fall ein Mittler.
Was aber nicht heißen soll, dass es damit getan sein kann, die Themen abzuladen und dann die Diskus­sion sich selbst zu über­lassen. Da herrschte zuletzt ein Miss­ver­hältnis zwischen dem Heischen von Bedeutung, Wirkung – und dann dem Schweigen und den Floskeln, wenn es darum gegangen wäre, wirklich Stellung zu beziehen.

Das »Poli­ti­sche A-Festival« war freilich schon unter Kosslick eine zur Tugend umde­fi­nierte Not, als klar wurde, dass in Sachen cine­as­ti­scher Strahl­kraft und Glamour die Berlinale zusehends und dauerhaft abgehängt wird von Cannes und Venedig.
Es war immer mehr Marke denn wahre Haltung. War Perfor­mance mehr denn Konse­quenz.

Es wäre spannend gewesen mitzu­er­leben, wohin sich die Berlinale hätte entwi­ckeln können, wenn dem neuen Leitungs-Duo mal ein paar Jahre unter stabilen Rahmen­be­din­gungen vergönnt gewesen wären.

Es zeigte sich freilich: Viel an der grund­le­genden Struktur, den Rahmen ihrer Möglich­keiten bestimmt bei der Berlinale eben doch nicht die Leitung – die Berlinale ist und bleibt stark geprägt von äußeren Zwängen. Von den Ansprüchen von Kultur­po­litik, Sponsoren, Branche, und den plat­ten­tek­to­ni­schen Verän­de­rungen im Film­ge­schäft und der Kino­land­schaft.
Jede Berlinale-Leitung wird da wohl eher an Stell­schrauben drehen können, statt kühn und frei das Steuerrad auf völlig anderen Kurs zu wuchten.

Auf dem Papier sah letztlich vieles doch nicht so unähnlich aus wie unter Kosslick.
Aber was Chatrian als künst­le­ri­schem Leiter gelang: Immerhin ging’s wieder mehr um die Filme, als den Schnick­schnack drumrum. Und es wurde zwar die nominell ähnliche Art und Preis­klasse an Filmen gezeigt – jedoch in der wirklich ansehn­li­chen Variante. Das Gesamt­ni­veau der Filme war besser. Viel­leicht mit weniger wirk­li­chen Spitzen – aber nur noch sehr selten in jenen abge­schmackten Gewässern fischend, die unter Kosslick gang und gäbe waren.

Und viel­leicht passend, dass eines der allge­gen­wär­tigsten Themen im dies­jäh­rigen Programm der Kreislauf des Lebens war. Etliche Filme folgten einem Jahres­zy­klus Frühling, Sommer, Herbst, Winter, Frühling (u.a. Gokogu no neko, Sasquatch Sunset, Der unsicht­bare Zoo), etliche mehr handelten generell von Vergehen und Wieder­ge­burt (L’Empire, Sterben, Cuckoo, All Shall Be Well, Spaceman et al.).
Nun also wieder alles – oder zumindest manches – auf Anfang. Viel­leicht ist es ja für die nach­fol­gende Leitung ein Vorteil, dass sie das Erbe aus nicht ganz so prägenden Händen übernimmt. Dass sie mehr eigene Saat ausbringen kann, statt stör­ri­sche Wurzeln ausgraben zu müssen.
It’s the Circle of Life, and it moves us all, through despair and hope, through faith and love – und hoffent­lich auch durch den nächsten Berliner Februar…